24-Stunden-Betreuung: Zwei Länder, ein Leben

(C) Miriam Mone
Hier arbeiten, dort leben – wie soll das gehen? Das zweigeteilte Dasein von 24-Stunden-Betreuer*innen erfordert viel Kraft. Ein österreichisch-slowakisches gewerkschaftliches Pilotprojekt könnte den Arbeitsalltag erleichtern. Doch ohne gegenseitige Hilfe der Betreuer*innen geht gar nichts.
Bis vor wenigen Wochen hat das Arrangement gepasst: Ramona*, 52 Jahre und seit über 20 Jahren hauptberuflich Betreuerin für hilfsbedürftige Personen, hatte mitten in Wien für eine alte Dame gesorgt. Jeweils zwei Wochen lang war ihr Turnus, in der Turnuspause daheim in Rumänien versuchte sie, an ihr altes Leben anzuknüpfen, die Freundinnen wiederzutreffen, das Zu-Hause-Gefühl zu pflegen. Immerhin, Ramona verstand sich gut mit der alten Dame und deren Familie und kannte die Eigenheiten und besonderen Ansprüche ihrer Klientin. Auch wenn es wenig Freizeit gab, in der etwa ein Arztbesuch oder ein Behördengang in Wien möglich gewesen wäre. Selbst die mühevolle Zeit der Corona-Lockdowns hatte Ramona gut überstanden. Auch wenn die Turnuszeiten länger, die Ein- und Ausreisebeschränkungen mühsam wurden.

Im Mai, zwei Tage nach Beginn ihres neuen Turnus, starb Ramonas Schwiegervater überraschend, sie musste wieder nach Hause. Zum Glück war ihre Ablöse noch in Wien und konnte rasch einspringen. Während Ramona daheim mit ihrem Mann die Trauerformalitäten erledigte, ihre Verwandtschaft tröstete und selbst den Schock zu bewältigen versuchte, kam die Nachricht aus Wien: „Wir brauchen Sie nicht mehr.“ Die Familie der Klientin hatte kurzfristig beschlossen, die zu betreuende Dame in einem Heim unterzubringen.

„Man muss sich bewusst sein, dass die 24-Stunden-Betreuung eine besondere Form des Prekariats ist“, sagt Emil Grula, jahrelang beim ÖGB beschäftigt als Rechtsberater unter anderem für 24-Stunden-Betreuer*innen. „Da gibt es kein soziales Netz, keine Arbeitslosenversicherung, und wenn jemand die Stelle verliert, weil etwa die Klientin verstorben ist, fehlt auch das Einkommen.“ Arbeitslosengeld gibt es keines, übrig bleibt dann nur die Notstandshilfe in den Herkunftsländern, und, so Grula, „die ist nicht einmal ein Witz“.

Agenturen-Geflecht

Manche der Frauen, die diesen Beruf ausüben, sind zwar sehr gut vernetzt. Aber in den allermeisten Fällen sind sie auf eine Agentur angewiesen, die zwischen Betreuer*innen und Familien vermittelt. Diese Agenturen handeln nicht unbedingt im Interesse der Betreuer*innen: Sie verlangen von beiden Seiten Provision, viele übernehmen außerdem eine Vollmacht für die Betreuer*innen und verpflichten sich damit, etwa die Sozialversicherungsabgaben in deren Namen abzuführen. Dafür müssten sie auch kontrollieren, ob die vertraglich vereinbarten Arbeitsbedingungen stimmen, etwa Unterbringung, Freizeitregelungen, Essen, Internet und der genaue Betreuungsbedarf der Klientin oder des Klienten.

Es hilft bei der Jobsuche,
wenn wir nicht gut Deutsch können.

Ioana*, Altenpflegerin

Doch nur selten sind die Verträge auch in der Muttersprache der Betreuer*innen verfügbar, oft kommt es zu Verständnisschwierigkeiten. Verlass ist dann eher auf Kolleg*innen, die sich via Facebook-Gruppen vernetzt haben und einander mit Rat und oft auch konkreten Hilfestellungen beistehen. Eine dieser Gruppen ist die Organisation DREPT, in der sich rumänische Betreuer*innen organisieren. Ramona ist hier fest eingebunden.

Auch ihre Kollegin Ioana* ist bei DREPT, sie betreut in Graz eine alte Dame mit Demenz. Dass sie daheim in Rumänien längst gegen COVID-19 geimpft wurde, wagt sie der Familie ihrer Klientin nicht zu erzählen. Der Sohn ist Impfgegner. Ioana hat für die Gesamtsituation vor allem Galgenhumor übrig: „Es hilft bei der Jobsuche, wenn wir nicht gut Deutsch können.“ Wer über gute Sprachkenntnisse verfüge, so Ioana, werde von Agenturen ungern vermittelt – weil Betreuer*innen dann womöglich die Verträge lesen können und wissen, was eigentlich ihre Rechte sind.

Ausbeutung

Natürlich ist Ioanas Aussage eine polemische Zuspitzung, doch leider ist sie nicht unbegründet. Immer wieder gibt es Fälle, in denen sich Agenturen mies gegenüber den Betreuer*innen verhalten. Sei es, dass im Konfliktfall niemand bei der Agentur erreichbar ist oder der Betreuerin nicht geglaubt wird, etwa wenn sie kein Essen im Haushalt der Klientin bekommt und mangels Freizeit keine Gelegenheit hat, selbst Nahrungsmittel einzukaufen. Gelegentlich wird auch publik, dass private Agenturbetreiber für die Wirtschaftskammerwahl Stimmen von beschäftigten Betreuer*innen erschleichen.

Hinter solchen Betrugsfällen steht das übergeordnete Problem: Selbstständige Personenbetreuer*innen mit Gewerbeschein haben in Österreich keine ordentliche Interessenvertretung, die sich um ihre Anliegen kümmert. Lediglich in Oberösterreich existiert eine muttersprachliche Beratungsstelle. Als offiziell Selbstständige sind die Betreuer*innen zwar in der Wirtschaftskammer Pflichtmitglieder, eine ordentliche Vertretung gibt es aber nicht. In der Fachgruppe „Personenberatung und Personenbetreuung“ sind die Agenturen ebenso wie die Betreuer*innen vertreten – de facto haben die Betreuer*innen dort allerdings niemanden, der sich um ihre Bedürfnisse kümmert.

Die beste Agentur ist keine Agentur. 

Emil Grula, Rechtsberater ÖGB

Wie absurd diese Situation in der Praxis ist, berichtet Ramona: „Immer wenn wir bei der WKO anrufen und sagen, dass es einen Konflikt gibt zwischen uns und den Agenturen, ist die Antwort, dass ein Interessenkonflikt für die WKO vorliege, weil sie sowohl die Agenturen als auch uns vertreten. Und genau deswegen passiert nichts.“ Nicht einmal bei eigentlich einfach lösbaren Hürden gebe es ein Entgegenkommen. Schon für Menschen mit deutscher Muttersprache sind die Formulare schwer zu bewältigen, in den Muttersprachen der Betreuer*innen sind sie gar nicht erst verfügbar.

Unterstützung von anderer Seite scheint daher essenziell. Eine Alternative ist die vidaflex, die als Initiative der Gewerkschaft vida EPUs und Kleinunternehmer*innen anspricht – und zwar mit Steuer- und Rechtsberatungsangeboten. Eine echte Gewerkschaft ist sie nicht, sondern ein Verein. Die slowakischen, die rumänischen und neuerdings auch bulgarischen Betreuer*innen tauschen sich aus, was rechtliche Bestimmungen und Hilfestellungen betrifft. Nach außen tritt man mit gemeinsamen Forderungen auf, etwa nach einheitlichen Freizeitregelungen – langfristig mit der Hoffnung, die momentane Scheinselbstständigkeit der Betreuer*innen in Anstellungsverhältnisse umwandeln zu können.

Emil Grula, ÖGB-Rechtsberater für 24-Stunden- Betreuer*innen kennt die Probleme nur zu gut: „Das ist eine besondere Form des Prekariats.“ © Markus Zahradnik

Sprachangebote

Innerhalb der jeweiligen Communitys wird auch in den Herkunftsländern Lobbyarbeit betrieben, sagt Flavia Matei, Aktivistin und eine der Initiatorinnen der IG-24. Seit Jahreswechsel besteht eine neue Website, auf der wichtiges Informationsmaterial gesammelt ist. Der nächste Schritt sei die Bereitstellung von sprachlichen und beruflichen Fortbildungsangeboten. Außerdem soll die Website in möglichst vielen Sprachen verfügbar sein. Die Sprachbarriere sei ein großes Problem, das im Arbeitsalltag der Frauen oft nicht bewältigbar ist. Wer etwa eine demente Person betreut, hat keine Chance, nebenbei seine Deutschkenntnisse zu verbessern. „Es gibt keine aktiven Integrationsangebote für diese Zielgruppe, die an die Realität dieses Berufs angepasst sind“, so Matei. „Wenn sie in Österreich sind, arbeiten sie 24 Stunden am Tag bei ihren Klient*innen, und wenn sie nicht in Österreich sind, sind sie zu Hause in der Turnuspause mit ihren Familien, wo sie sich regenerieren sollten.“

Niedrigere Honorare bedeuteten
für die Frauen auch niedrigere Pensionen – und damit die Gefahr von Altersarmut.

Von all diesen Problemen weiß auch Emil Grula. Durch seine Rechtsberatertätigkeit kennt er auch die rechtlichen Probleme und die haarsträubende Unausgegorenheit der geltenden Rechtslage genau – und viele der Gemeinheiten der schwarzen Schafe unter den Agenturen, etwa „wenn eine Agentur die Gewerbeberechtigung der Betreuerin eigenmächtig löscht, wenn der Werkvertrag beendet wird, weil sie die Vollmacht dazu hat“. Wenn so eine Agentur vom Markt verschwindet, sei das auch zum Vorteil für jene Agenturen, die ordentlich arbeiten, doch „die beste Agentur ist keine Agentur. Viele erfahrene Betreuerinnen versuchen sich gegenseitig Tipps zu geben, wie man von den Agenturen loskommt“, berichtet er aus seiner Beraterpraxis.

Derzeit wirkt Grula an einem Pilotprojekt für eine gewerkschaftliche Vertretung von Personenbetreuer*innen mit, das beispielhaft auch für andere Länder sein könnte: Seit einigen Jahren baut er bei der Gewerkschaft für Privatangestellte (GPA) in der Abteilung für internationale Beziehungen eine Kooperation zwischen Österreich und der Slowakei auf, die auf den sich wandelnden Arbeitsmarkt eingehen soll.

Viele Firmen arbeiten international, die Gewerkschaften jedoch nicht. Wenn aber ein österreichisches Unternehmen seine slowakischen Mitarbeiter*innen nach slowakischem Recht bei der österreichischen Mutter anstellt, ist das Lohndumping. Eine Gewerkschaft, die sich um solche Fälle sorgt, gab es zunächst nicht – doch nun kümmert sich die neugegründete Betriebsgewerkschaft UNIJA um derartige Beschäftigungsverhältnisse.

„Es gibt keine aktiven Integrationsangebote, die an die Realität dieses Berufs angepasst sind“, kritisiert Aktivistin Flavia Matei. Das will sie ändern. © Markus Zahradnik

Hilfe zur Selbsthilfe

Die UNIJA hat inzwischen auch die Aufmerksamkeit von 24-Stunden-Betreuer*innen auf sich gezogen. Zwar ist die Branche eine andere, die Probleme sind aber immer wieder dieselben: Scheinselbstständigkeit ist besonders in der Slowakei ein enormes Thema, und die Probleme der Grenzgänger*innen gleichen sich, egal ob das Leute im Baugewerbe, Techniker*innen oder eben 24-Stunden-Betreuer*innen sind. Eine Gruppe von Betreuer*innen sei von sich aus auf die UNIJA zugegangen, so Grula: „Es handelt sich um eine reine Grassroots-Bewegung von Aktivist*innen, die bereits in diversen Facebook-Gruppen aktiv waren und jetzt das Bedürfnis haben, sich auch formal, also unter einem Rechtssubjekt, zu organisieren. Dazu haben wir ihnen die Nutzung unserer Infrastruktur angeboten.“ Im Idealfall sei diese Kooperation Hilfe zur Selbsthilfe.

Etwa 600 Frauen seien bereits Mitglieder der UNIJA-Gruppe, weitere 300 seien bereits in der Warteschleife. Konkrete Petitionen seien bereits geplant. Dazu gehören beispielsweise die Anhebung des Zuschusses zur 24-Stunden-Betreuung unter der Einführung spezieller Kriterien wie Mindestsätze bei den Tageshonoraren, ein Mindestausmaß an Freizeit und eine finanzielle Berücksichtigung von Feiertagen. „Es kann ja nicht sein, dass wir nach inzwischen 13 Jahren, die es die 24-Stunden-Betreuung legal in Österreich gibt, immer noch darüber streiten, dass Frauen Tagesfreizeit haben müssen.“ Außerdem sei das Ziel, einer weiteren Senkung der Honorare entgegenzuwirken. Derzeit findet unter den Agenturen ein Wettbewerb nach unten statt, so Grula. Niedrigere Honorare bedeuteten für die Frauen auch niedrigere Pensionen – und damit die Gefahr von Altersarmut.

Ob das Projekt der UNIJA womöglich zu einem europäischen Vorbild werden kann und inwieweit die gewerkschaftliche Organisation scheinselbstständiger Personenbetreuer*innen über internationale Grenzen hinweg funktionieren kann, wird sich zeigen. Die gegenseitige Hilfe auf Augenhöhe sei in jedem Fall auch zwischenmenschlich unentbehrlich, so Ramona.

Sie hat inzwischen eine neue Stelle in Vorarlberg gefunden, wo sie einen alten, gebrechlichen Herrn und seine Partnerin umsorgen wird. Die Anreise dorthin sei wesentlich beschwerlicher. Immerhin habe sich die Caritas als Vermittlerin als fair erwiesen, habe Ramona sogar nach ihren Honorarvorstellungen gefragt. Die Vorstellung, in Vorarlberg fernab aller Bekannten zu arbeiten, sei für sie dennoch hart.

„Wir führen ein Leben zwischen zwei Ländern und finden nicht wirklich unseren Platz. Ich bin nicht mehr in Rumänien, weil ich dort so wenig Zeit habe, und in Österreich bin ich nicht ganz akzeptiert. Mir fehlt das soziale Leben sehr.“ Verständnis und Unterstützung findet sie in ihren Facebook-Gruppen – bei den Kolleg*innen, die in derselben Situation stecken.
* Namen geändert

Über den/die Autor:in

Magdalena Miedl

Magdalena Miedl ist hauptberuflich geschichtensüchtig: Sie schreibt seit zwanzig Jahren über Film und andere Lebensmittel, als Kritikerin, Journalistin, freie Autorin und als Host ihres eigenen Podcasts.

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