V[/mks_dropcap]onseiten der Regierung wird neuerlich verkündet, eine gesetzliche Interessenvertretung für ArbeitnehmerInnen wäre in Zeiten des neoliberalen Siegeszugs überlebt, ihre politische Mitgestaltung müsse daher massiv eingeschränkt werden. Dies wirft folgende Fragen auf: Ist eine gesetzliche ArbeitnehmerInnenvertretung wirklich überholt? Haben sich ArbeitnehmerInnen des 21. Jahrhunderts so weit aus Machtverhältnissen emanzipiert, dass sie auf eine kollektive, gesetzliche Interessenvertretung verzichten können?
Ist eine gesetzliche ArbeitnehmerInnenvertretung wirklich überholt? Haben sich ArbeitnehmerInnen des 21. Jahrhunderts so weit aus Machtverhältnissen emanzipiert, dass sie auf eine kollektive, gesetzliche Interessenvertretung verzichten können?
Notwendigkeit sogar gestiegen
Mit der Gründung der Arbeiterkammern vor knapp 100 Jahren wurde den gesetzlichen Handelskammern als Vertretung der Betriebe ein Gegengewicht aufseiten der ArbeitnehmerInnen geboten. „Die Notwendigkeit von Arbeiterkammern ist heute sogar gestiegen, weil wir in einer Zeit leben, in der es immer schwieriger ist, ein Gegengewicht zum neoliberalen Einheitsdenken zu bilden“, meint Jörg Flecker, Professor am Institut für Soziologie der Universität Wien. Denn auf Wirtschaftsseite gibt es einen enormen Apparat aus Thinktanks, der sich in alle Lebensbereiche drängt und die politische Landschaft Österreichs beeinflusst..
„Die Arbeiterkammer ist eine Einrichtung, die sich neben der Beratung ihrer Mitglieder sehr stark in der öffentlichen Diskussion einbringt, zum Beispiel durch Begutachtung von Gesetzen. Damit ist sie eine Stimme für die rund 3,7 Millionen unselbstständig Erwerbstätigen und ein wichtiger Ausgleich zu den gekauften Stimmen der Industrie“, betont Flecker. Denn auch was die finanziellen Ressourcen betrifft, hat die Kapitalseite einen klaren Vorsprung: Die jährlichen Einnahmen der Arbeiterkammern betragen 433 Millionen Euro, jene der Wirtschaftskammer 680 Millionen Euro. Auf Wirtschaftsseite kommen beträchtliche Mittel aus einer Vielzahl finanzstarker Wirtschaftsverbände hinzu.
Thinktank für ArbeitnehmerInnen
Eine gesetzliche Interessenvertretung wie die Arbeiterkammer gewährleistet der ArbeitnehmerInnenbewegung große Stabilität. Die AK ist traditionell ein Thinktank der Arbeiterschaft. Mit ihren Expertisen und Beratungen liefert sie die Grundlage für die kämpferische Arbeit von Gewerkschaften und BetriebsrätInnen. „Das ist genau das, was eine Arbeitnehmerbewegung braucht: Expertise und Beratung“, meint der Politologe Emmerich Tálos. Die gesetzlichen Mitgliedsbeiträge schaffen erst den finanziellen Spielraum, der notwendig ist, um als Wissensorganisation für die ArbeitnehmerInnen handeln zu können.
Das ist genau das, was eine Arbeitnehmerbewegung braucht: Expertise und Beratung
Emmerich Tálos über die AK
Ziel neoliberaler Kräfte, wie sie auch in der momentanen Regierung vorherrschen, ist die Einschränkung dieses Handlungsspielraums der Arbeiterkammer und ihrer Funktion als Thinktank der Gewerkschaftsbewegung. „Bei der Regierung sieht man jetzt die Bemühungen der Industrievertreter“, hält Flecker fest. „Sie gehen einen deutlichen Weg, und zwar, den Schutz der ArbeitnehmerInnen abzubauen. Was gerade passiert, ist eine Umverteilung zugunsten der Reichen.“
Politische Mitsprache
Die Arbeiterkammer aber hat den Auftrag, für die Mehrheit der Bevölkerung zu handeln – oder zugespitzt formuliert: für die 99 Prozent der Nicht-Reichen. Paradoxerweise hat ihr der frühere FPÖ-Chef Jörg Haider mit seinen Angriffen auf die Arbeiterkammer unter Schwarz-Blau I zugleich gute Dienste erwiesen.
Die Forderung nach mehr Beratung und weniger politischer Mitsprache hat die Kammern weiter gestärkt. Kaum eine Institution in Österreich hat heute einen so starken Rückhalt wie die AK. „Damit hat sie auch eine starke Grundlage, sich politisch einzumischen“, so Flecker. Und zwar nicht nur in Fragen des Arbeits- und Sozialrechts, sondern in allen Belangen, die für die Verbesserung der Lebensbedingungen von ArbeitnehmerInnen relevant sind – von Bildungsfragen über Konsumentenschutz bis zu Umweltbelangen und Wettbewerbspolitik. Denn die grundsätzliche Frage lautet: Welche Interessen haben die ArbeitnehmerInnen insgesamt?
Für ArbeiterInnen ist es zum Beispiel eine zentrale Frage, welche Bildung ihre Kinder bekommen. „Eine Arbeiterin schuftet sich auch heute noch ungesund, um ihrem Kind eine gute Ausbildung zu finanzieren. Nach wie vor sieben Schulen sehr genau aus, um keine Arbeiterkinder im Gymnasium zu haben. Klar ist es der Arbeiterin ein Bedürfnis, dass die Arbeiterkammer in bildungspolitischen Fragen mitredet“, so Flecker.
Selbstbestimmte ArbeitnehmerInnen?
Sind ArbeitnehmerInnen heute selbstbestimmt genug, um ihre Interessen am besten selbst zu vertreten, wie GewerkschaftskritikerInnen sagen? Gerade in einer Zeit, in der Bindungsloyalitäten abnehmen und das Zwanglose, Ungebundene als Emanzipation zelebriert wird? Gibt es den „schützenswerten Arbeitnehmer“ überhaupt noch?
Zum Glück sind ArbeitnehmerInnen heute viel mündiger als noch vor 100 Jahren. Das Bildungsniveau ist generell gestiegen und manche können es sich in der Arbeitswelt ganz gut richten. Das heißt aber nicht, dass sie deswegen keine Interessenvertretung brauchen.
Zum Glück sind ArbeitnehmerInnen heute viel mündiger als noch vor 100 Jahren. Das Bildungsniveau ist generell gestiegen und manche können es sich in der Arbeitswelt ganz gut richten. Das heißt aber nicht, dass sie deswegen keine Interessenvertretung brauchen. Laut Flecker ist Interessenvertretung ja keine Bevormundung, wie es Neoliberale gerne darstellen, sondern bedeutet vielmehr, Spielregeln zu definieren. Einzelne sind gegenüber dem Arbeitgeber in einer schwächeren Position und verfügen nicht über ausreichende Ressourcen, um ihre Interessen individuell durchzusetzen.
Hinzu kommt laut Flecker, dass ArbeitnehmerInnen miteinander konkurrieren, sofern sie nicht außergewöhnliche, aber gefragte Ausbildungen haben. Die Gefahr dabei ist, sich in Löhnen zu unterbieten und in der Arbeitszeit zu überbieten. Es brauche daher Regeln, die alle am Arbeitsmarkt davor schützen. „Man könnte also auch sagen: Die Arbeiterkammer stellt Forderungen für solche Regeln auf, klärt ArbeitnehmerInnen darüber auf, überwacht ihre Einhaltung und setzt diese durch im Falle von Verletzungen.“
Alte Fragen im neuen Gewand
Kinderarmut, überlange Arbeitszeiten, ein Familienmodell, das nur den Reichen nutzt: Warum ist das heute eigentlich immer noch so? Die Antwort darauf ist mehr als frustrierend, denn es sind Verteilungsfragen aus dem 19. Jahrhundert, die heute wieder drängende Aktualität haben. In den letzten Jahren sind die Reallöhne der männlichen Arbeiter massiv gesunken, die Wohnkosten stark gestiegen.
Hinzu kommt laut Emmerich Tálos, dass Konflikte in den Betrieben zunehmen, zumal immer mehr Betriebe keinen Betriebsrat haben. „Die Arbeiterkammer leistet gerade da enorm viel für ihre Mitglieder, weil sie Vertretung in sozial- und arbeitsrechtlichen Fragen bietet“, so Tálos.
Auch die Flexibilisierung der Beschäftigungsformen bringe mehr Konflikte mit sich. Arbeitsformen haben sich substanziell verändert und weichen heute weitgehend vom Normalarbeitsverhältnis ab.
Teilzeit, geringfügige Beschäftigung, neue Selbstständigkeit und Leiharbeit sind verbreitet. Während für Dienstverträge eine hohe Kollektivvertragsdichte erreicht wurde, sind viele der neuen Beschäftigungsformen unzureichend abgesichert. Heute gilt es wieder, Verarmung trotz Arbeit zu verhindern.
Die Arbeiterkammer der Zukunft
Die Arbeiterkammer kommt nicht darum herum, zukünftig noch kämpferischer zu werden.
Jörg Flecker
„Die Arbeiterkammer kommt nicht darum herum, zukünftig noch kämpferischer zu werden. Eine Arbeiterkammer der Zukunft muss den Sprung aus der Defensive einer gesetzlichen Institution in die Offensive einer kämpferischen Interessenvertretung schaffen“, meint Soziologe Flecker. Und das zu einer Zeit der wohl massivsten Angriffe auf die Gewerkschaftsbewegung in der Zweiten Republik.
Eine Schwächung der Arbeiterkammer und somit der gesamten Gewerkschaftsbewegung, wie sie derzeit im Gange ist, hat fatale Folgen. Oskar Negt hat das bereits vor 14 Jahren mit aller Deutlichkeit gesagt: „Gewerkschaftliche Organisationsformen in der gegenwärtigen Situation des Kapitalismus einfach zu verabschieden, weil viele zurzeit nicht recht wissen, welche Politik zukunftsträchtig ist, wäre keine Kleinigkeit, sondern ein zentraler Bruch im Demokratieverständnis der westlichen Welt.“
Irene Steindl
Freie JournalistInnen
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 7/18.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin
steindlirene@gmail.com
oder die Redaktion
aw@oegb.at