Work-Life-Balance statt dickem Scheck: Zuckerbrot ohne Peitsche

© Markus Zahradnik
Unternehmen machen ungewohnte Erfahrungen: Die Work-Life-Balance wird zunehmend wichtiger als eine hohe Bezahlung. Ein Paradigmenwechsel? Jein, denn noch sieht die Realität für viele Arbeitnehmer:innen ganz anders aus.
Im Jahr 2021 arbeiteten noch mehr als 600.000 Beschäftigte länger als 40 Stunden in der Woche, ein Teil von ihnen sogar mehr als 60 Stunden. Das waren 15,7 Prozent der Arbeitnehmer:innen, wie aus dem eben veröffentlichten Wohlstandsbericht der Arbeiterkammer hervorgeht. Das ist zwar eine Verbesserung gegenüber 2011, als der Anteil der Vielarbeiter:innen noch 20,8 Prozent betrug. Doch vom Ziel eines Anteils an Beschäftigten mit Wochenarbeitszeiten jenseits der 40 Wochenstunden von fünf Prozent ist man damit immer noch weit entfernt.

Vom Ende der Work-Life-Balance unter ÖVP-FPÖ

Dass so viele Menschen immer noch so viele Stunden arbeiten, dazu hat die frühere ÖVP-FPÖ-Regierung unter dem damaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz substanziell beigetragen. Obwohl Arbeiterkammer, Gewerkschaften und Gesundheitsexpert:innen im Begutachtungsverfahren für eine neue Arbeitszeitregelung darauf hinwiesen, wie gesundheitsschädlich zu lange Arbeitszeiten seien, entsprachen Volkspartei und Freiheitliche den Wünschen von Wirtschaft und Industrie. Die Arbeitszeitgesetz-Novelle von 2018 ermöglichte den 12-Stunden-Tag und die 60-Stunden-Woche.

Eine Frau arbeitet auf einer Luftmatratze an ihrem Laptop. Symbolbild für die work-Life-Balance.
Viele Arbeitnehmer:innen legen auf eine gute Work-Life-Balance mehr Wert als auf überdurchscnitliche Bezahlung. | © Adobe Stock/mihakonceptcorn

Anfragen dazu werden nach wie vor in den Beratungen gestellt, erzählt Gerhard Bremm, Leiter des Kompetenzzentrums Betriebliche Interessenvertretung in der AK Oberösterreich. Meist geht es dann um nicht geleistete Überstundenentlohnungen. Gesellschaftspolitisch sei diese unter dem Schlagwort „Arbeitszeitflexibilisierung“ durchgepeitschte Novelle „äußerst problematisch“, so Bremm. Warum? „Der Arbeitgeber besitzt seither die Möglichkeit, Überstunden anzuordnen, wann immer er oder sie will. Die Aussage, dass Überstunden nur auf freiwilliger Basis absolviert werden müssen, ist unter Berücksichtigung der tagtäglichen Praxis leider ein schwaches Scheinargument.“
Begünstigt wird dieses Einfordern von Arbeitgeberseite durch die angespannte Personalsituation. Stichwort: Arbeitskräftemangel.

Überstunden statt neuer Kolleg:innen

Viele Betriebe sind auf der Suche nach Mitarbeiter:innen. Bis diese gefunden sind, muss die bestehende Belegschaft einspringen. Aus den Arbeitsklimaerhebungen wisse man, dass Arbeitnehmer:innen in der ersten Phase auch versuchen, die zusätzlichen Anforderungen zu erfüllen, sagt Rudolf Moser aus dem Team Sozialpolitik der AK Oberösterreich. Das funktioniere aber nur kurzfristig. „Manche Beschäftigten reagieren dann, wenn die gesundheitlichen Belastungen sich in Erkrankungen manifestieren. Andere erkennen früher, dass sie gravierende Veränderungen im Beruf brauchen, wenn sie nicht krank werden wollen. Die Folge davon ist, dass vermehrt Beschäftigte zumindest den Betrieb, viele aber gleich den Beruf und die Branche wechseln.“

Das beobachtet auch die Expertin für New Work, Lena Marie Glaser, die eben das Buch „Arbeit auf Augenhöhe“ veröffentlicht hat. „Es gibt vor allem bei der jüngeren Generation, bei Menschen in ihren Zwanzigern und Dreißigern, eine Verschiebung der Werte. Sie fordern von ihren Arbeitgebern schon im Bewerbungsgespräch selbstbewusst ein, dass diese ihnen entgegenkommen. Fühlen sie sich nicht wertgeschätzt und gehört, sind sie nach kurzer Zeit wieder weg.“

Priorität habe für diese Generation mehr Lebensqualität und die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Freizeit, Familie und Freund:innen. Die Gründe dafür seien komplex, so Glaser. „Einerseits sieht man, dass man sich selbst mit hohen Arbeitszeiten das Eigenheim nicht mehr kaufen kann. Diese Generation hat aber auch erlebt, dass ihre Eltern kaum Zeit hatten für die Familie. Das wollen sie für sich selbst nicht. Und dann gibt es immer mehr Menschen, die schon mit Anfang 30 im oder fast im Burnout sind. Und sie fragen sich: Wie soll sich das ausgehen, wenn ich noch 30 Jahre genauso arbeiten soll?“

Ausgebrannt wegen fehlender Work-Life-Balance

Das Ausgebranntsein wiederum lasse sich auf verschiedene Faktoren zurückführen. Einer davon sei die ständige Beschleunigung, auch durch digitale Technologien. Ein anderer die ständige Erreichbarkeit, die von vielen Unternehmen eingefordert werde. „Und viele Menschen fühlen sich nicht gesehen; es wird über sie, aber nicht mit ihnen entschieden“, erzählt Glaser, die sowohl Arbeitnehmer:innen als auch Unternehmen berät und auch zum Thema Arbeitsbedingungen forscht. Sie beobachtet auch, dass die Flexibilisierung von Arbeitszeit zwar einerseits von vielen gewünscht werde, andererseits dann aber meist dazu führe, dass noch mehr gearbeitet wird. Sie plädiert dafür, Jobs so zu gestalten, „dass sie nicht die ganze Lebensenergie und Kraft nehmen, dass man in Einklang mit den eigenen Bedürfnissen leben kann“.

Das ist das Beste, was mir passieren konnte.
Ich habe an Lebenszeit gewonnen und in Wahrheit finanziell nichts verloren 

Manfred Hippold, Vorsitzender Arbeiter:innenbetriebsrat
voestalpine Linz zitiert einen Mitarbeiter zum neuen Schichtmodel

Den Ruf nach kürzeren Arbeitszeiten, nach einer besseren Work-Life-Balance, nach neuen Formen, Arbeit zu gestalten – New Work eben –, gibt es schon seit vielen Jahren. David Mum, Mitglied der Bundesgeschäftsführung der Gewerkschaft der Privatangestellten, weist hier auf ein Paradoxon hin. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit wäre es wichtig, die bestehende Arbeit auf möglichst viele Menschen aufzuteilen – dass der Einzelne also weniger arbeite. Doch damit dringe man als Arbeitnehmer:innenvertretung dann schlecht durch. Doch jetzt, in einer Zeit, da Firmen dringend nach Mitarbeiter:innen suchen, sehe man, dass man den Bewerber:innen entgegenkommen müsse.

Portrait von David Mum, der im Interview über Arbeitsbedingungen und Work-Life-Balance spricht.
Der Arbeitskräftemangel bedingt, dass Unternehmen attraktiver werden müssen, so David Mum. | © Markus Zahradnik

Wie Arbeitgeber:innen attraktiver werden können

Mit dem „90 für 80“-Modell wollte die GPA vor zwei Jahren der Arbeitslosigkeit etwas entgegensetzen. „90 für 80“ bedeutet: Wenn vier Arbeitnehmer:innen ihre Arbeitszeit freiwillig auf 80 Prozent reduzieren und dafür eine fünfte Person aufgenommen wird, wird das Gehalt auf nur 90 Prozent reduziert. Die Differenz trägt dann zwei Jahre lang das Arbeitsmarktservice. Dieses Konzept erweiterte das bereits zuvor bestehende Solidaritätsprämienmodell. „Mittlerweile müssen aber Unternehmen attraktiver werden und bieten von sich aus zum Beispiel die Vier-Tage-Woche an, um sich als attraktive Arbeitgeber zu präsentieren – ganz ohne AMS-Förderung“, konstatiert Mum. Und ergänzt: „Idealerweise wird dabei nicht dieselbe Arbeit statt an fünf an vier Tagen erledigt, sondern die wöchentliche Arbeitszeit entsprechend gekürzt.“

Die Vier-Tage-Woche passt für einige, aber nicht für alle. Es gehe insgesamt darum, die Bedürfnisse von Mitarbeiter:innen und Unternehmen unter einen Hut zu bringen, betonen Mum und Glaser. Die Voestalpine zeigt an ihrem Standort Linz schon seit vielen Jahren, wie das sogar im Schichtbetrieb gut gelingen kann.

Das heiße Eisen Work-Life-Balance

Manfred Hippold ist Vorsitzender des Arbeiter:innenbetriebsrats der Voestalpine Linz sowie stellvertretender Vorsitzender des Zentralbetriebsrats des Unternehmens. Er berichtet, dass man 1995 begonnen habe, die Schichtmodelle zu ändern – seit 2005 gebe es hier flächendeckend eine neue Arbeitsorganisation. Mit der Neuorganisation des Schichtbetriebs ging auch eine Arbeitszeitverkürzung einher. Die nunmehrige Wochenarbeitszeit unterscheidet sich aber je nach Schichtmodell, das in jedem Produktionsbereich ein bisschen anders ausfällt. Wie dieses genau ausgestaltet wurde, darüber haben vor der Einführung jeweils die Arbeiter:innen des jeweiligen Unternehmensbereichs abgestimmt.

Die Frühschicht beginnt nun um sechs Uhr und endet um 14 Uhr. Die Mittagsschicht dauert von 14 bis 22 Uhr, die Nachtschicht von 22 bis sechs Uhr. Es gibt nun Produktionsbereiche, in denen die Arbeiter:innen zwei Tage in der Früh-, zwei Tage in der Mittags- und zwei Tage in der Nachtschicht arbeiten. Danach haben sie vier Tage frei. Andere wiederum arbeiten je drei Tage in jeder Schicht, haben danach drei Tage frei sowie weitere 40 freie Tage über das Jahr verteilt. Die Wochenarbeitszeit bewege sich je nach Modell um die 35 Wochenstunden. „Es gibt jedenfalls keinen Schichtarbeiter mehr bei uns, der 38,5 Stunden arbeitet“, betont Hippold.

Anfangs habe es Bedenken wegen Reallohnverlusten aufgrund der verringerten Arbeitszeit gegeben. Doch diese hätten sich nicht bewahrheitet. Zunächst habe das Solidaritätsprämienmodell des AMS gegriffen, danach bereits die jährlichen Erhöhungen im Rahmen der Kollektivvertragsverhandlungen. Ein Mitarbeiter, der sich zunächst kritisch geäußert hatte, sei nach einem Jahr im neuen Schichtmodell zum Betriebsrat gekommen und hat gesagt: „Das ist das Beste, was mir passieren konnte. Ich habe an Lebenszeit gewonnen und in Wahrheit finanziell nichts verloren.“

Gewinner auf allen Seiten

Gewonnen hätten aber nicht nur die Mitarbeiter:innen, die nun zum Beispiel weniger Nachtschichten absolvieren müssten, gewonnen habe auch das Unternehmen. „Die Mitarbeiter:innen sind nun gesünder. Weil teils Nachtarbeit und vor allem Überstunden wegfallen, sind die Krankenstände zurückgegangen“, betont der Betriebsrat.

Genau darauf zielt auch eine gute Work-Life-Balance ab, macht Eva Mandl, die in der AK Oberösterreich für den Bereich Arbeitsbedingungen zuständig ist, klar: „Arbeitszeit ist viel mehr als nur die Dauer, es geht auch um die Frage der Lage (Schichtarbeit, Nachtarbeit), die Verteilung (Ruhezeiten, Erreichbarkeit, Wochenendarbeit), die Planbarkeit (Dienstpläne, Einspringen) und den Dispositionsspielraum.“ Letzteres ist die Möglichkeit von Mitarbeiter:innen, selbst zu entscheiden, welche für sie die beste Lösung ist. Für die einen sei die Vier-Tage-Woche ideal, andere wiederum kommen mit fünf kürzeren Arbeitstagen besser zurecht.

Doch wie kommen wir da nun gesamtgesellschaftlich hin? Christian Dunst, Arbeitszeitrechtsexperte in der AK Wien, fordert hier zunächst die Rücknahme der 12- und 60-Stunden-Regelung, denn es gebe Branchen, wo die Ausschöpfung dieser Möglichkeit heute sogar nicht die Ausnahme, sondern die Regel sei. Als Beispiel nennt er den Tourismus. Die tägliche Arbeitszeit sollte wieder – wie bis 2018 – zehn Stunden, die Wochenarbeitszeit 50 Stunden nicht überschreiten.

Weniger arbeiten: „Gesunde Vollzeit“

Darüber hinaus gebe es von Arbeitnehmer:innenseite den Wunsch nach Arbeitszeitverkürzung. Dunst spricht hier von einer „gesunden Vollzeit“. Es gehe so in Richtung einer 35-Stunden-Woche, wenngleich sich die AK hier noch nicht auf eine bestimmte Stundenanzahl festlegen will. Klar sei aber: So begrüßenswert die Vier-Tage-Woche sei – wenn der einzelne Tag dann zehn Arbeitsstunden habe, sei dies unglaublich belastend. Ohne nachhaltige Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohn- und Personalausgleich gehe das nicht.

Zeitwohlstand bedeute aber auch, Urlaub nehmen zu können. Hier wünscht sich die AK das leichtere Erreichen der sechsten Urlaubswoche. Diese gibt es derzeit erst nach 25 Jahren in einem Betrieb, an Vordienstzeiten können bis zu fünf Jahre angerechnet werden. Da der Arbeitsmarkt aber heute von hoher Fluktuation geprägt sei, brauche es hier neue Regelungen. Anknüpfen könnte man hier zum Beispiel bei den Anrechnungsbestimmungen, „indem alle Vordienstzeiten angerechnet werden“.

Die Arbeitsbedingungen sind auch extrem von den Branchen abhängig. Im Zuge der Debatte rund um die Klimakatastrophe gab es beispielsweise Diskussionen um die Arbeitsbedingungen in der Flugbranche. Gleichzeitig hat die Coronakrise schonungslos aufgedeckt, unter welchen Umständen im Tourismus gearbeitet wird. Ein Vorbild könnte Island sein. Die Arbeitsbedingungen dort orientieren sich sehr viel mehr an den Arbeitnehmer:innen, wie unsere Reportage zeigt.

Über den/die Autor:in

Alexia Weiss

Alexia Weiss, geboren 1971 in Wien, Journalistin und Autorin. Germanistikstudium und Journalismusausbildung an der Universität Wien. Seit 1993 journalistisch tätig, u.a. als Redakteurin der Austria Presse Agentur. Ab 2007 freie Journalistin. Aktuell schreibt sie für das jüdische Magazin WINA sowie für gewerkschaftliche Medien wie die KOMPETENZ der GPA-djp oder die Gesunde Arbeit. 2022 erschien ihr bisher letztes Buch "Zerschlagt das Schulsystem ... und baut es neu!" (Verlag Kremayr & Scheriau).

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