Wir müssen nur wollen

(C) Markus Zahradnik / Michael Mazohl
Noch nie haben wir so intensiv über Ungleichheit diskutiert. Denn die Corona-Krise führt uns direkt an eine Weggabelung. Wie soll es jetzt weitergehen? Was können wir aus den letzten Monaten mitnehmen und in welche Richtung sollen wir gehen? Eine Reportage über drei Frauen, die auf diese Fragen eine Antwort haben.
Geplant war es nicht. So ist das Leben. Oder wie John Lennon, renommierter Beatles-Philosoph, einmal meinte: Leben ist das, was passiert, wenn du dabei bist, ­andere Pläne zu machen. „Im akademischen Bereich passt das aber nicht rein“, sagt Barbara Stefan, „dieser dicke Bauch, da bist du raus.“ Die Politikwissenschafterin steckt mitten in ihrer Doktorarbeit an der Universität Wien, als da plötzlich zwei Striche am Schwangerschaftstest erscheinen, aus denen ein paar Monate später dieses kleine Mädchen wird, das hier im Wohnpark ­Alterlaa, Block B, Ostseite – dieser Wiener Satellitenstadt, in den 1970ern als modernste Wohnanlage Österreichs erbaut –, gerade quiekend die rote Plastikrutsche runterrutscht. Endlich, sie darf wieder, denn während des Lockdowns war der Spielplatz abgesperrt. Und nicht nur das, auch der Kindergarten war zu. Elternschaft ist nicht systemrelevant.

Es gibt knapp 170.000 Alleinerziehende in Österreich, eine davon ist Barbara Stefan. In der Corona-Zeit sind sie ans Limit geraten. Sie sind Alleinkämpfer*innen, sie schultern alle Belastungen gleichzeitig, knapp die Hälfte gilt als armutsgefährdet. „Alles, was mit Erziehung zu tun hat, wird nicht als Arbeit gesehen und wird auch nicht bezahlt“, sagt Barbara Stefan. „Und in Wahrheit“, fügt sie hinzu, „sind de facto noch viel mehr Frauen alleinerziehend oder müssen alles allein schuften, auch in Paarbeziehungen.“ Die moralische Verantwortung ist weiblich, und sie zwingt die Betroffenen in die soziale Isolation.

Alles, was mit Erziehung zu tun hat, wird nicht als Arbeit gesehen und wird auch nicht bezahlt. Und in Wahrheit sind de facto noch viel mehr Frauen alleinerziehend oder müssen alles allein schuften, auch in Paarbeziehungen. 

Barbara Stefan, Aktivistin

Statistisch, das zeigen die Zahlen, ist die Vollzeiterwerbsquote bei Alleinerzieherinnen viel höher als bei Müttern in Paarbeziehungen, schuld ist der ökonomische Druck. Jede vierte Frau in der Pension ist armutsgefährdet, lebt also unter dem Existenzminimum. Der Grund: Kinderbetreuungszeiten werden nicht voll auf die Pensionsversicherung angerechnet.

Barbara Stefan ist Politikwissenschafterin und alleinerziehend. Gerade in Corona-Zeiten muss man sich organisieren, sagt sie.

Stille unbezahlte Kämpferinnen

Corona habe die Reproduktionsarbeit sichtbar gemacht, und wie schlecht diese in der Gesellschaft gelöst ist, sagt Barbara Stefan. „Mir haben Frauen erzählt: Ich breche zusammen, ich hab keine freie Sekunde mehr für mich.“ Was sie haben: ein schlechtes Gewissen, stille Leistung und völlige Überlastung. Oder, wie man es auch nennt: unbezahlte Arbeit.

Barbara Stefan lebt von etwa 1.000 Euro im Monat, Notstandshilfe plus Familienbeihilfe, denn das Arbeitslosengeld ist ausgeschöpft. Und wegen Corona sind auch noch die Unterhaltszahlungen des Kindsvaters weggebrochen, er hat keine Einkünfte mehr, manchmal gibt er zehn Euro, manchmal ­zwanzig. „Aber es geht ja nicht nur ums Wohnen und Essen“, sagt sie, „es ist ja auch immer etwas ­kaputt, jetzt gerade zum Beispiel der Geschirrspüler, ich brauche eine Zahnbehandlung, und der Kindergarten verlangt eine Special-Regenhose.“ Was noch dazukommt: Ohne bestehendes Arbeitsverhältnis entfällt der Anspruch auf einen öffentlichen Kindergartenplatz.

„Ich bin überzeugt, dass das veränderbar ist, es muss nicht so sein. Man kann das nicht allein schaffen, aber man kann sich organisieren“, sagt Barbara Stefan. „Es ist doch völlige Illusion, dass eine Person allein ein Kind großziehen kann.“ Was es braucht: ein Unterstützungsnetzwerk aus solidarischen Personen. Deshalb hat sie die Initiative „Aufstand der Alleinerziehenden“ mitbegründet, knapp dreißig Frauen sind dabei. Nie war sie so hilfreich wie jetzt. In Kooperation mit Aktivist*innen anderer Gruppen hat man sich gegenseitig während des Lockdowns die Kinder abgenommen – und sich organisiert. Sie hat außerdem eine Mitbewohnerin, die sich ebenfalls kümmert. „Dank ihr kann ich am Morgen auch manchmal länger als bis sechs Uhr schlafen.“

Die Wienerin braucht diese freien Zeitfenster noch aus einem anderen Grund: Sie engagiert sich bei LINKS, einem neuen Wahlbündnis, das zur Wien-Wahl im Herbst antritt. Sie ist Spitzenkandidatin für den Bezirksrat und am achten Platz für den Gemeinderat. „Ich habe eine Stimme und ein Anliegen“, sagt sie. Nämlich: Reproduktionsarbeit als solche sichtbar zu machen. Und ihr einen Wert zu geben. Denn es gibt dafür keine gerechten Arbeitsbedingungen: kein Recht auf Urlaub, kein Recht auf Erholung, keinen Mindestlohn, keine Versicherung. Reproduktionsarbeit hat keine Gewerkschaft.

Für die eigenen Positionen muss man aufstehen, findet die Gewerkschafterin Karin Stanger.

Weiterkämpfen ist alles

Stichwort Gewerkschaft. Ortswechsel nach Donaustadt, ans andere Ende Wiens. Zwischen hohen und glasumhüllten Gebäuden treffen wir Karin Stanger. Die Gewerkschafterin ist erst 34, eine zarte, feingliedrige Frau. Aber sie hat eine feste Stimme. Und sie schaut dir immer in die Augen. Sobald sie die ersten Sätze spricht, ist klar: Sie hat eine Meinung. „Linie“, würde die Mühlviertlerin schlicht sagen, die heute als politische Referentin bei der AUGE/UG, den Alternativen, Grünen und Unabhängigen Gewerkschafter*innen arbeitet. „Was anderes als eine eigene Position gibt’s ja eh nicht, dafür lohnt es sich, aufzustehen.“ Ungerechtigkeit und Ungleichheit treiben sie an. „Denn es heißt einfach: weiterkämpfen.“

Diese Frau weiß, was Kampf heißt. Sie war ÖH-Vorsitzende der Uni Wien, der größten Universität im deutschsprachigen Raum. Als erste in ihrer Familie hat sie einen akademischen Titel erworben, mit dem Studium der Internationalen Entwicklung und Zeitgeschichte. Was viele nicht wissen: Karin Stanger hat auch eine abgeschlossene Lehre in der Gastronomie. Sie weiß, was schlechte Arbeitsbedingungen sind. Nach der Lehre hat sie ihre Matura nachgeholt. Frisch in Wien angekommen, erste Woche, erstes Semester, war das Audimax besetzt. „Die Uni-brennt-Bewegung war ein Schlüsselmoment für mich“, erzählt sie. „Ich stand da und dachte mir: Okay, wow, es gibt Menschen, die sind wie ich.“ Sechs Jahre später war sie im Team des ÖH-Vorsitzes.

Auf die Sozialpartnerschaft darf man sich nicht verlassen, das ist keine fertig gekochte Mahlzeit.

Karin Stanger, Gewerkschafterin

„Wir sind jetzt an einer Kreuzung“, sagt sie. „Wegen Corona hat es plötzlich einiges durchgeschüttelt. Und jetzt sehen wir: Es geht eh auch anders. Da ändert sich was.“ Als Absolventin der Sozialakademie der Arbeiterkammer Wien hat sie gelernt, wie professionelle Betriebsratsarbeit funktioniert. Man müsse die Menschen politisieren, meint sie. „Auf die Sozialpartnerschaft darf man sich nicht verlassen, das ist keine fertig gekochte Mahlzeit.“ Aber wie? Sie holt tief Luft. „Von Anfang an reinholen, alles offen diskutieren, weg von den stillen Kammerln. Es braucht eine Streitkultur. Und das muss man dann in eine gemeinsame Forderung kriegen und dann in eine Kampagne gießen.“ Für die Betriebsrät*innen bedeutet das – klar – viel Arbeit. Und viel Kraft. „Ich glaube aber, man muss es trotzdem durchziehen“, schiebt sie nach. „Man darf sich da nicht abhalten lassen.“ Und das müsse man auch in den Betrieben spüren.

Franziska Disslbacher erforscht, wie das Rezept gegen Ungleichheit aussieht.

Nach vorne

Was Corona nämlich auch wieder hervorgeholt hat: Solidarität. Die Arbeitslosigkeitszahlen haben sich zwar – Stand Juli – verbessert, aber es sind noch immer über 400.000 Menschen ohne Arbeit. „Die Konservativen haben stets verbreitet: Wenn jemand arbeitslos ist, ist das die Schuld des Individuums“, sagt sie. „Aber“ – und während sie den Satz beginnt, lehnt sie sich nach vorne, „aber genau das geht sich jetzt nicht mehr aus. Und genau deshalb gehen jetzt plötzlich Dinge weiter.“ Es könnte dir auch passieren. Du könntest der Nächste sein. Wir sitzen alle im selben Boot. Wir müssen es gemeinsam schaffen. „Und das ist das gesellschaftliche Gefühl gerade, wir müssen schauen, dass wir den Karren in die richtige Richtung ziehen.“ Raus aus dem tiefen Tal der Ungleichheit.

Eine, die sich seit Jahren wissenschaftlich damit beschäftigt, was Ungleichheit eigentlich ist und wie man sie verringert, ist Franziska Disslbacher, Referentin für Verteilungsfragen in der Arbeiterkammer Wien und Lektorin an der Wirtschaftsuniversität. „Es geht einerseits um die Ungleichheit bei der Vermögensverteilung, andererseits um die Ungleichheit zwischen Frauen und Männern, in der Betroffenheit von Arbeitslosigkeit.“ Das sei alles miteinander verschränkt.

Womit wir bei der Frage wären, wer diese Krise eigentlich am Ende bezahlen soll. Und wer es bezahlen kann. Vermögen, das ist ein Alarmwort in Österreich. Ein Thema, das man – vor allem bei der ÖVP – nur mit Samthandschuhen anfasst. Dabei ist die Vermögensverteilung hierzulande besonders extrem. Vermögen in Österreich wird größtenteils vererbt. Das heißt: Reichtum ist keine eigene Leistung. Das Bild vom Milliardär, der es ganz allein geschafft hat, reich zu werden, ist ein Mythos. Das reichste Prozent in Österreich besitzt über 40 Prozent des Vermögens im Land. Die untere Hälfte besitzt etwa zwei Prozent des Gesamtvermögens. Österreich gilt damit als eines der ungleichsten Länder in der Eurozone. Es gibt keine Vermögenssteuer und keine Erbschaftssteuer. Der Staat finanziert sich zu 80 Prozent aus Steuern auf Arbeitseinkommen und Konsum.

Wir haben noch nie so offen über Ungleichheiten gesprochen wie jetzt. Ungleichheiten, die vorher schon bestanden haben, sind in der Corona-Krise viel eklatanter geworden.

Franziska Disslbacher, Verteilungsexpertin

Die Forschung zeigt: Menschen sind sehr schlecht darin, ihre eigene Position in der Vermögensverteilung richtig einzuschätzen. Alle – sowohl die ganz oben als auch die ganz unten – sehen sich in der Mitte. „Das hat zur Folge, dass sehr viele Menschen denken, sie wären betroffen von Vermögenssteuern, obwohl sie es gar nicht sind“, erklärt Disslbacher.

Von den 113.000 Millionär*innen, die es in Österreich gibt, hat keiner jenen offenen Brief unterzeichnet, den 83 Superreiche aus sieben Ländern vor Kurzem in die Welt gesandt haben. „Besteuert uns“, schreiben sie, „sofort, deutlich, dauerhaft.“ Nur das sei der richtige Weg. Und: „Wir müssen unsere Welt neu ausbalancieren, bevor es zu spät ist.“ Ja, auch das hat Corona hervorgebracht. „Wir haben noch nie so offen über Ungleichheiten gesprochen wie jetzt“, findet auch Franziska Disslbacher. „Ungleichheiten, die vorher schon bestanden haben, sind in der Corona-Krise viel eklatanter geworden.“

Das gilt auch für einen anderen Garanten gegen Ungleichheit: die Arbeitszeitverkürzung. Sie schafft Jobs, sie macht alle gesünder, und sie bringt für diejenigen in 20-Stunden-Anstellungen einen höheren Lohn – profitieren würden also vor allem die Frauen. 35 Stunden als die neue Vollzeit.

Die Corona-Krise ist eine Chance, etwas nachhaltig zu bewirken. Weiterkämpfen, würde die Gewerkschafterin Karin Stanger sagen. Mitsprache einfordern, würde die Alleinerziehende Barbara Stefan hinzufügen. Und die Expertin Franziska Disslbacher würde abschließen: Wir haben die Konzepte und Modelle zur faireren Verteilung ja längst auf dem Tisch liegen.

Wir müssen nur wollen.

Über den/die Autor:in

Anja Melzer

Anja Melzer hat Kunstgeschichte, Publizistik und Kriminologie in Wien und Regensburg studiert. Seit 2014 arbeitet sie als Journalistin und Reporterin für österreichische und internationale Zeitungen und Magazine. Von 2020 bis 2022 war sie Chefin vom Dienst der Arbeit&Wirtschaft.

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