Arbeit&Wirtschaft: Sie fordern, dass Arbeit fair sein muss. Warum?
Wolfgang Katzian: Arbeit ist ein wichtiger Teil des Lebens. Wir sind aber nicht ausschließlich auf der Welt, um zu arbeiten, wir wollen ein gutes Leben führen. Arbeit ist wichtig für die persönliche Identität, die meisten Menschen definieren sich aber schon lange nicht mehr alleine über ihre Erwerbstätigkeit. Arbeit soll uns befähigen, unser Leben wirtschaftlich abgesichert zu führen. Deswegen wollen die Gewerkschaften Arbeitsprozesse mitgestalten, die soziale Sicherheit verbessern und auf neue Herausforderungen wie Klimawandel, Digitalisierung und künstliche Intelligenz eine zeitgemäße Antwort finden.
Waren die Probleme vorhersehbar?
Mit dem Ukraine-Krieg, der Pandemiebewältigung und zeitweise zweistelligen Inflationsraten haben wir aktuell Probleme auf dem Tisch, die nicht vorhersehbar waren. Wir sehen eine Versorgungskrise bei Strom und Gas. Viele Menschen kämpfen mit Unsicherheiten und müssen sich Gedanken machen, ob sie ihre Wohnung heizen können und wie sie die steigenden Kosten für Mieten und Lebensmittel bewältigen sollen.
Was belastet die Arbeitnehmer:innen derzeit am stärksten?
Die Teuerung ist im Moment unser wunder Punkt. Explodierende Preissteigerungen betreffen längst nicht nur Menschen mit wenig Einkommen, das Problem ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die Gewerkschaften sehen hier großen Handlungsbedarf und haben schon länger praktikable Lösungen erarbeitet, wie man gegensteuern kann.
Wie sehen diese Lösungen aus?
Dort, wo der Markt versagt, braucht es staatliche Interventionen: Energie, Lebensmittel und Mieten müssen rasch günstiger werden, dann würde auch die Inflation eingebremst.
Da derzeit große Gruppen der Gesellschaft unter steigenden Energiekosten leiden, braucht es Eingriffe in den Markt, wie etwa einen Preisdeckel für Energie. Günstige Preise werden von den Energieunternehmen zu wenig weitergegeben – sie machen teils unverschämte Gewinne, während Strom und Warmwasser für viele Leute unleistbar geworden sind.
Die Übergewinnsteuer für Energiekonzerne, wie sie die Regierung beschlossen hat, ist unzureichend. Es ist nur ein geringes steuerliches Aufkommen zu erwarten. Einige Unternehmen machen weiterhin enorme Profite, obwohl die Großhandelspreise seit vergangenem Sommer sinken. Ich will, dass die Menschen von der vorteilhaften Preisentwicklung rasch und umfassend profitieren. Daher brauchen wir eine Antiteuerungskommission, die die Energiekonzerne an die Kandare nimmt.
Die Regierung hat Einmalzahlungen ausgeschüttet, um die hohen Lebenshaltungskosten abzufedern.
Einmalzahlungen haben einen krassen Nachteil: Sie sind einmalig. Die Preise bleiben aber hoch, die Gewerkschaften wollen daher die Ursachen bekämpfen. Das Aussetzen der Mehrwertsteuer bei Grundnahrungsmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs wäre Teil eines sinnvollen und rasch umsetzbaren Entlastungspakets.
Um ungerechtfertigte Preissteigerungen zu unterbinden, fordern die Gewerkschaften eine Antiteuerungskommission als Kontrollinstanz. Die von der Regierung vorgeschlagene Transparenzdatenbank für Lebensmittelpreise ist ein Schmäh. Transparenz bei einigen wenigen Endkundenpreisen kann die Inflation nicht dämpfen, sie verlagert den Druck, das günstigste Angebot zu finden, auf die Menschen selbst. Diese sollen nun ernsthaft neben ihren vielfältigen alltäglichen Herausforderungen auch noch den besten Schnäppchen nachjagen?
Die jüngsten Unterstützungszahlungen können nicht das Ende der Fahnenstange sein. Es braucht immer wieder maßgeschneiderte Maßnahmen für betroffene Gruppen.
Wie funktioniert die Antiteuerungskommission?
Die Kommission soll kontrollieren, ob sinkende Kosten in Form niedrigerer Preise an die Endverbraucher:innen weitergegeben werden. Unternehmen sollen sich kein Körberlgeld auf Kosten der Konsument:innen verdienen können. Die Kommission muss sozialpartnerschaftlich besetzt sein und kann so ähnlich funktionieren wie in der Zeit der Umstellung vom Schilling auf den Euro, als die Preise öffentlich kritisch überwacht wurden.
Wie senkt man die Energiekosten am nachhaltigsten?
Die Politik müsste handeln: Manche Stromanbieter produzieren erneuerbare Energie mit niedrigen Kosten und verlangen von den Menschen Strompreise, die sich an der teuersten Produktionsart orientieren – beispielsweise am Gaspreis, der durch den russischen Angriffskrieg entsprechend angestiegen ist. Das europäische Strommarktdesign muss umfassend reformiert werden, die Energiepreise für Haushalte sind zu reglementieren. Diese Regierung macht sich einen Namen als Gralshüter des Marktes – das verschafft den Energieunternehmen enorme Gewinne auf Kosten der Haushalte. Diese unanständigen Übergewinne müssen schleunigst effektiv abgeschöpft werden.
Die Lohnabschlüsse gleichen jene
Teuerungen aus, die in den letzten zwölf
Monaten bereits stattgefunden haben.
Wolfgang Katzian, ÖGB-Präsident
Wie konnte es so weit kommen?
Teilweise gab es in der Pandemie überschießende Förderungen für Firmen. Das hat dazu geführt, dass Unternehmen, die gar keine Staatshilfe gebraucht hätten, hohe Gewinne eingefahren haben. Die Bankeinlagen der Firmen sind insgesamt um 62 Prozent gestiegen, das Eigenkapital im Durchschnitt um 18 Prozent. Jetzt ist es Zeit, die Arbeitnehmer:innen zu entlasten.
Wie wollen Sie die hohe Inflation in den Griff bekommen?
Die bisherigen Maßnahmen der Regierung haben rein gar nichts gebracht. Sinkende Inflationsraten sind trügerisch: Wenn die Teuerung von aktuell 9,7 auf 7,5 Prozent zurückgehen sollte, verlangsamen sich zwar die Preissteigerungen, die Güter des täglichen Bedarfs werden aber nicht billiger, sondern verteuern sich eben nur weniger rasant. Daher fordern wir strukturelle Maßnahmen in den Bereichen Lebensmittel, Energie und Mieten sowie Lohnabschlüsse über der aktuellen Inflationsrate.
Heizen hohe Lohnabschlüsse nicht die Inflation weiter an?
Nein! Die Löhne folgen immer den Preisen. Die Lohnabschlüsse ziehen der Inflationsentwicklung hinterher und nicht umgekehrt. Bei allen Kollektivvertragsverhandlungen wird die durchschnittliche Inflationsrate der vergangenen zwölf Monate, die sogenannte rollierende Inflation, als Basis für die von den Gewerkschaften geforderten Lohnerhöhungen herangezogen.
Wir starten im Herbst mit der Metaller-Lohnrunde. Vermutlich wird die rollierende Inflation heuer höher sein als die aktuelle Rate. Es kann daher sein, dass unsere Forderungen über der Monatsinflation liegen – wir wollen die Teuerungen des abgelaufenen Jahres ausgleichen.
Haben die Lohnabschlüsse im Herbst heuer eine besondere Symbolwirkung?
Der Abschluss der Metaller ist traditionell wegweisend für andere Branchen – die Gewerkschaften schließen jährlich 460 Kollektivverträge ab. Wir bereiten uns wie jedes Jahr intensiv auf alle Gehaltsverhandlungen vor und wollen einen guten Abschluss für die Arbeitnehmer:innen erreichen. In Österreich leben 1,5 Millionen Menschen unter der Armutsschwelle von 1.392 Euro pro Monat. Der Mindestlohn muss auf 2.000 Euro monatlich steigen.
Das wird in einigen Branchen bereits jetzt überschritten.
Ja, aber wir haben viele Gruppen, die noch deutlich unter den 2.000 Euro liegen. Dies betrifft vor allem Branchen, die gewerkschaftlich nicht so stark organisiert sind. Aus dieser Ecke hören wir auch jeden Tag, dass verzweifelt Arbeitskräfte gesucht werden. Teilweise liegt das auch daran, dass die Arbeitsbedingungen nicht gut sind.
Welche strukturellen Maßnahmen fordern die Gewerkschaften?
Bereits im März 2022 haben Gewerkschaften, Arbeiterkammer und Wirtschaftskammer sozialpartnerschaftlich auch mit der Industriellenvereinigung nachhaltige Maßnahmen zur Dämpfung der Inflation vorgeschlagen: einen Mietpreis-Stopp, die Senkung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel und eine Antiteuerungskommission, welche die Preise der Konzerne kontrolliert. Die Regierung hat auf Einmalzahlungen gesetzt. Passiert ist nichts, die Inflation steigt weiter, die Energieunternehmen streifen weiterhin unverschämte Übergewinne ein.
Wie kann ein Mietpreis-Stopp funktionieren?
Die Wohnkosten müssen eingebremst werden, die Miete stellt für viele Menschen mittlerweile eine schwere finanzielle Belastung dar. Die Richtwerte wurden heuer um 8,6 Prozent angehoben, im Juli droht die vierte Erhöhung bei den Kategoriemieten, das ist ein Plus von insgesamt fast 25 Prozent seit April 2021. Das heizt die Teuerung weiter an. Die Regierung schützt die Vermieter:innen, die saftige Gewinne einstreifen.
Die Gewerkschaften wollen eine Mietpreisbremse. Das kann man auch rückwirkend machen. Als Akutmaßnahme fordern wir, Mietanpassungen in Phasen hoher Inflation auszusetzen und Befristungen von Mietverträgen abzuschaffen. Außerdem braucht es mehr leistbare Gemeinde- und Genossenschaftswohnungen.
Viele Menschen finden Markteingriffe nicht mehr zeitgemäß.
Markteingriffe sind notwendig, wenn Systeme aus dem Ruder laufen. 2008/2009 hat es massive Stützungen für große Banken gegeben. Wo war der Markt in der Coronakrise, als Finanzhilfen für Betriebe im großen Stil ausgeschüttet wurden?
80 Prozent aller Steuermittel kommen aus der Lohn-, Einkommen- und Mehrwertsteuer. Wir müssen daher in jene Bereiche investieren, die den Menschen, die dieses System finanzieren, zugutekommen: in die Pflege der älter werdenden Generation, in unser Gesundheits- und Sozialsystem. Jene, die große Vermögen halten, brauchen nicht glauben, dass die Arbeitnehmer:innen für alles „brennen“ werden, während sie weiter die Hand aufhalten. Unser Sozialstaat hat uns gut durch die jüngsten Krisen geführt, wir müssen ihn aber weiter ausbauen und armutsfest machen.
Auch für die ökologische Transformation werden wir Geld brauchen. Die Arbeitswelt muss umweltfreundlicher werden, die Finanzierung notwendiger Veränderungsprozesse darf nicht zur Gänze auf die arbeitenden Menschen abgeladen werden.
Wie gehen Sie mit künstlicher Intelligenz um? Fluch oder Segen?
Ich sehe das nicht als Bedrohung, sondern in erster Linie als Bereicherung. Digitalisierung und KI bieten viel positives Potenzial. Wir müssen aber aufpassen, dass kein Überwachungsstaat entsteht, wenn in einem Jahrzehnt etwa viele Arbeitsplätze durch KI gesteuert werden. Hier braucht es ein gutes und fundiertes Regelwerk, das juristische und praktische Grenzen setzt und anwendbar ist. Innovationen müssen immer in unser Rechtssystem eingeordnet werden, die KI darf uns nicht anfällig für Fake News machen.
.@katzianw wurde mit 90,37 % als ÖGB-Präsident wiedergewählt.
„Ich bin ein bisschen sprachlos und überwältigt. Ich empfinde es noch immer als etwas Besonderes, als Präsident dieser Gewerkschaftsorganisation gewählt zu werden.“#ÖGBKongress #DafürÖGB pic.twitter.com/wz51c02cQf
— ÖGB (@oegb_at) June 22, 2023
Wie sollen Menschen die Teuerungen bewältigen?
Die Lohnabschlüsse müssen kräftig ausfallen, um das Leben wieder leistbar zu machen. Das Kilometergeld muss schleunigst auf 60 Cent erhöht werden. Die steigenden Benzinpreise bedeuten für Dienstnehmer:innen, die – etwa in der mobilen Pflege – auf ihr Auto angewiesen sind, reale und spürbare Einkommensverluste. Das Arbeitslosengeld muss auf eine 70-prozentige Ersatzrate erhöht werden.
Wer soll das finanzieren?
Ich erwarte mir in den kommenden Jahren ordentliche Auseinandersetzungen und Verteilungskämpfe im Land. Die Anforderungen an die öffentlichen Dienste und die Infrastruktur sowie die Aufgaben im Bildungswesen werden steigen. Wir werden alternative Finanzierungsquellen brauchen. Ohne die Besteuerung von großen Vermögen und Erbschaften wird es nicht funktionieren.
Lässt die Regierung die Gewerkschaften hier mitreden?
Während der Pandemie, als es galt, ordnungspolitische Maßnahmen durchzusetzen, waren die Sozialpartner gefragte Ratgeber. Nach der Pandemie ist der Kontakt zur Regierungsspitze abgeflaut. Dabei wäre diese gut beraten, unsere Expertise zu aktuellen Themen zu nutzen. Derzeit werden die Sozialpartner häufig knapp vor Inkrafttreten einer Regelung vorinformiert. Diese Rollenzuweisung könnte sich die Regierung schenken. Wir wollen stärker in konkrete Aushandlungsprozesse kommen, wir sind ja kein Escort-Service.