Später berichtete ein Augenzeuge: „Überhaupt konnte ich bemerken, dass jeder von den Mobilen etwas Rotes zu tragen bereit war; der eine Feder, der andere eine Blume, der dritte ein Band.“ Rot war das politische Symbol der Oktoberkämpfer, und von ihnen übernahmen es zwanzig Jahre später die junge sozialdemokratische ArbeiterInnenbewegung und die ersten gewerkschaftlichen Fachvereine.
ArbeiterInnen ausgeblendet
Ein Aufstand des Bürgertums und besonders der Studenten gegen die Kaiserdiktatur – so lautet das gängige Bild von der Revolution des Jahres 1848. Die Rolle der ArbeiterInnen (ja, viele Frauen beteiligten sich aktiv) wird ausgeblendet. Höchstens als primitive „MaschinenstürmerInnen“ und mörderischer Pöbel, vielleicht noch als Hilfskräfte beim Barrikadenbau finden sie Erwähnung.
Besonders die Burschenschaften pflegen bis in das 21. Jahrhundert die Legende, die Studentenverbindungen von 1848 seien ihre direkten Vorläufer und hätten praktisch allein für das Recht auf Meinungsfreiheit, Demokratie und Deutschtum gekämpft. Das reicht bis zur Namensgebung „Aula“ für eine vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes als rechtsextrem eingestufte und inzwischen eingestellte Zeitschrift aus ihrem Umfeld. Es handelt sich um eine Anspielung auf die Aula, also die Eingangshalle der alten Universität, 1848 Organisationszentrum der „Akademischen Legion“.
Mehr Dichtung als Wahrheit
Diese Legende besteht mehr aus Dichtung denn aus Wahrheit. Es stimmt, Burschenschaften zählten mit der Forderung nach einer demokratischen Verfassung, sozialen Verbesserungen und der Einigung Deutschlands zu den fortschrittlichen Kräften in den diktatorischen Monarchien auf dem Gebiet des früheren römisch-deutschen Kaiserreichs.
An dessen Stelle hatte sich ab 1815 ein lockerer Staatenzusammenschluss gebildet: der „Deutsche Bund“, in dem das „Kaisertum Österreich“ den Vorsitz führte. Im „Deutschen Bund“ waren die Burschenschaften viele Jahre verboten. Erst die Revolution von 1848 brachte ihnen die Chance, ihre Ideen offen zu verfolgen. Aber damit endet auch schon die Wahrheit und die Dichtung beginnt.
Die meisten Burschenschafter in der „Akademischen Legion“ verstanden „deutsch“ nicht rassistisch. Dr. Anton Füster, der Kaplan der Legion, fasste ihre Grundhaltung mit den Worten zusammen: „Zuerst Freiheit, dann Nationalität.“ Viele Verbindungen hatten auch jüdische Mitglieder, erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mutierten sie zu deutschnationalen, antisemitischen und elitären Organisationen. Die Burschenschaften von 1848 waren dagegen alles andere als elitär: Über ein Drittel der Studenten kam aus armen Familien, ihre Väter waren Handwerker und Gesellen, kleine Beamte, Bauern, Taglöhner und Arbeiter. Die „radikalen“ Demokraten unter ihnen, vor allem Mediziner und Techniker, suchten von Anfang an den Kontakt zu den ArbeiterInnen, wohl weil ihnen bewusst war, dass sie sich auf das besitzende Bürgertum nicht verlassen konnten. Dieses wollte so rasch wie möglich wieder „Ruhe und Ordnung“, setzte seine Nationalgarde gegen streikende ArbeiterInnen ein und erkaufte sich dann mit dem Verzicht auf Demokratie von der kaiserlichen Regierung wirtschaftliche Handlungsfreiheit.
Dreifache Rettung
Die ArbeiterInnen dagegen retteten dreimal die Revolution. Zum ersten Mal im März, wenn auch nur indirekt: Der Feuerkranz um Wien, den sie mit herausgerissenen Gaskandelabern legten, beschleunigte die Entscheidung des kaiserlichen Hofs, die von BürgerInnen und Studenten geforderte Pressefreiheit zu gewähren und eine Verfassung zuzusagen. Im Mai griffen die ArbeiterInnen zweimal direkt ein: Sie verhinderten damit erstens die von der Regierung geplante Auflösung der „Akademischen Legion“, zweitens einen Rückzieher bei der Zusage demokratischer Wahlen in die verfassunggebende Versammlung. Sie und nicht die Studenten bauten die Barrikaden, die dem alten Regime Widerstandsbereitschaft signalisierten. Aber sie wurden betrogen. Die Arbeiter (von Frauenwahlrecht war noch lange keine Rede) erhielten zwar das Recht, ihre Stimme abzugeben. Aber sie durften keine eigenen Kandidaten nominieren. Zudem wurde die Wahl so organisiert, dass sie praktisch keine Chance hatten, ihre Stimme abzugeben.
Die ArbeiterInnen des Revolutionsjahres werden oft als wilder Haufen dargestellt, noch unfähig, sich zu organisieren. Das Urteil von Karl Marx nach seinem Wienbesuch im August und September 1848, das Proletariat sei hier noch nicht reif für die Revolution, trug sicher zu diesem Image bei. Es stimmt, dass die Mitglieder des revolutionären „Ersten allgemeinen Arbeitervereins“ mit dem Vortrag von Marx über „Lohnarbeit und Kapital“ wenig anfangen konnten. Aber sie konnten sich sehr wohl organisieren. Selbst die „MaschinenstürmerInnen“ der ersten Revolutionsphase wählten Sprecher, die sie gegenüber Fabrikherren und Bürgermeistern vertraten, und viele Berufsgruppen schlossen sich zusammen, um ihre soziale Lage zu verbessern.
10-Stunden-Tag
Die tausend Maschinenarbeiter der Wien-Gloggnitz-Eisenbahngesellschaft, die „Kerntruppe der Demokratie“ in den Mai- und Oktoberkämpfen, erreichten vor den ArbeiterInnen vieler anderer Branchen den Zehnstundentag.
Die Maurer setzten neben einer Lohnerhöhung auch die Verwaltung ihrer Bruderlade ohne Einmischung der Unternehmer durch. Die Buchdrucker erreichten schon einen Kollektivvertrag für das ganze Kaiserreich und die Lehrlinge das Erlassen der Schulgebühren. Das sind nur wenige Beispiele von vielen Erfolgen durch solidarischen Zusammenschluss. Im Jahr 1848 beginnt die Geschichte der modernen österreichischen Gewerkschaftsbewegung.
Als immer mehr BürgerInnen der Revolution den Rücken kehrten, das kaiserliche Regime beschloss, das demokratische Experiment mit Gewalt zu beenden und der Wiener Gemeinderat die VerteidigerInnen im Stich ließ, war das Ende abzusehen. Die Reihen der VerteidigerInnen hatten sich außerdem stark gelichtet: In der Nationalgarde waren nur mehr die ärmeren Bürger verblieben, die „Akademische Legion“, die im Frühjahr noch 6.000 Mann zählte, war auf 900 Mann geschrumpft.
Die Hauptlast des blutigen Abwehrkampfs lag auf den ArbeiterInnen, die auch durch übergelaufene kaiserliche Soldaten unterstützt wurden. Ein Augenzeuge erinnerte sich an einen Arbeiter, der nach der Niederlage „blass und verwundet die Alserstraße herabkam“ und murmelte: „Es ist alles umsonst, wir sind wieder verraten und verkauft.“
Einschüchterungsterror
Die Rache der Sieger war grausam, doch der Einschüchterungsterror funktionierte nicht vollständig. Während der folgenden Jahre kam es immer wieder zu – wieder verbotenen – Streiks für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen. Das ebenfalls verbotene Gedenken an die Opfer der Revolution lebte trotz Strafdrohung im Untergrund weiter. Es wurde später nur mehr von der jungen ArbeiterInnenbewegung hochgehalten, sie machte die Märzfeiern zu ihrem größten Feiertag. Adelheid Popp, die Pionierin der politischen und gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiterinnen, beschrieb, wie viele Gefühle und Hoffnungen bei diesen Feiern mitschwangen: „Auch wenn es vorkam, wie beispielweise 1893, dass man auf dem weiten Weg über die Simmeringer Hauptstraße Schneemassen und Eisschollen zu überwinden hatte und wenn der Wind eisig tobte, man ließ sich nicht zurückhalten, bei dem Märzgefallenen-Obelisk zu erscheinen und mit zu geloben, die Ideale, für welche die unter dem Obelisk Begrabenen ihr Leben gelassen, weiter zu pflegen und in Ehren zu halten.“
Nicht umsonst berief sich die provisorische Nationalversammlung 1918 auf diese Ideale: politische und soziale Gleichberechtigung aller BürgerInnen.
Literaturtipp:
Wolfgang Häusler, Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. Demokratie und soziale Frage in der Wiener Revolution von 1848.
Brigitte Pellar
Historikerin
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 9/18.
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