Martin Orner hat es nicht weit von seinem neuen Büro am eben eröffneten Volkshilfe-Standort Sonnwendviertel zur „Mann“-Konditorei im Helmut-Zilk-Park in Wien-Favoriten. Bei der Volkshilfe ist Orner heute für alle Immobilienfragen zuständig, von den eigenen Standorten bis zur Beschaffung von Notquartieren für Bedürftige. Früher war er einer der Geschäftsführer der EBG-Wohnbaugenossenschaft. Im Zilk-Park sprießen wilde Blumen, ein paar Schritte weiter jäten, gießen und pflanzen Anrainer:innen im Urban-Gardening-Feld, Kids legen auf dem Motorik-Spielplatz atemberaubende Balanceakte hin. Ein ganzes neues Stadtviertel ist auf den ehemaligen ÖBB-Gründen entstanden.
Das „Sonnwendviertel Ost“ – es reicht bis hinüber Richtung Arsenal – ist in den letzten Monaten endgültig fertig geworden. Hier stehen „Quartiershäuser“ mit variantenreichen Stilsprachen. Im etwas älteren „Sonnwendviertel West“ auf der anderen Seite des Parks befinden sich vor allem größere Wohnblöcke mit begrünten Innenhöfen, angelehnt an den architektonischen Spirit des Gemeindebaus des Roten Wien. Ein Großteil davon sind gemeinnützige Genossenschaftsbauten, davon einige preisgekrönt und Magnet für Architekt:innen-Reisegruppen aus aller Welt – etwa das von der EBG miterrichtete „Wohnzimmer Wien“ mit seinen spektakulären Übergängen zwischen den einzelnen Wohnquadern.
„Natürlich ist das österreichische System, und besonders in Wien, immer noch ein Paradies im internationalen Vergleich“, sagt Orner. „Das System des kommunalen und gemeinnützigen Wohnbaus und der Wohnbauförderung ist gut, weil es lange ungestört gewachsen ist.“
Stillstand im gemeinnützigen Wohnbau
Aber dieses System ist durchlöchert worden. Es litt zudem an der Goldgräbermentalität der vergangenen zehn Jahre, die Investor:innen in „Betongold“ lockte und damit Bodenpreise, aber auch Baukosten explodieren ließ. Neoliberale Reformen im Mietrecht haben die Mieten im Altbau, noch mehr aber im frei finanzierten Neubau nach oben getrieben. Der Wildwuchs der befristeten Mietverträge machte junge Familien zu Spielbällen der Märkte. Und jetzt, mit Inflation, Baukostenexplosion und Zinsanstiegen für die Finanzierung haben auch die Gemeinnützigen ein Problem, kostendeckend zu bauen. „Es steht still. Kaum jemand kann im Augenblick neue Projekte stemmen“, sagt Orner.
Linke sehen die Sache ja grundsätzlich meist so: Wohnen ist ein Menschenrecht. Quartiere sollen keine Beute für Investor:innen sein. Es gilt, den Wohnungsmarkt möglichst vor dem Irrwitz des Booms und der Spekulation zu schützen. Deswegen ist man leidenschaftlich für den sozialen Wohnbau – und beispielsweise stolz auf die Errungenschaften des Wiener Gemeindebaus, der vor hundert Jahren Denkmäler der Baukultur schuf, die bis heute bewundert werden. Über diese grundsätzliche Haltung hinaus beschäftigen sich die allermeisten mit dem Thema nicht so genau. Aber bei den „Gefühlsreflexen“, wie das der linke Philosoph und Sozialwissenschaftler Karl Czasny nennt, dürfe es nicht bleiben. Denn der Teufel liegt im Detail, oder besser: Ob etwas gut oder schlecht funktioniert, hängt vom Zusammenspiel vieler sehr konkreter Regeln ab.
Begeisterte Titelseiten für den gemeinnützigen Wohnbau
Wien etwa hat 220.000 Gemeindewohnungen. Rund noch einmal so viele kommen im gemeinnützigen Wohnbau dazu. Beinahe 80 Prozent der Stadtbewohner:innen leben zur Miete, entweder in Gemeindebauten, im geförderten oder gemeinnützigen Wohnbau oder in privaten, gewerblichen Mietwohnungen. In ganz Österreich verwaltet der gemeinnützige Sektor (vor allem Genossenschaften) 970.000 Wohnungen, davon sind 640.000 eigene Mietwohnungen.
Das an sich gute System, das sich regelmäßig auf begeisterten Titelseiten in der Weltpresse wiederfindet, beruht im Wesentlichen auf zwei Standbeinen: dem System der öffentlichen „Wohnbauförderung“ und dem „Gemeinnützigkeitsgesetz“. Dabei ist das System der österreichischen Wohnbauförderung der Schlüssel zum Erfolg. Es ist komplex, teilweise durchlöchert, heute weitgehend auch in der Regie der Bundesländer mit sehr unterschiedlichen Regularien. 0,5 Prozent der Lohnsumme zahlen Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen als Lohnnebenkosten ein. Dieser Betrag – plus Rückflüsse früherer Darlehen – finanziert den geförderten Wohnbau.
Wohnbauförderung führt zu Bodenversiegelung
Aber: Systemische Änderungen haben dazu geführt, dass heute viel weniger Mittel zur Verfügung stehen als noch in den 1990er-Jahren. Damals wurden 3,2 Milliarden Euro an Wohnbauförderung ausgegeben, das waren 1,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Heute sind es nur mehr 1,9 Milliarden, was nur mehr 0,4 Prozent des deutlich gewachsenen BIP entspricht. Hauptgrund: Die Rückflüsse der Darlehen benützen die Länder für andere Dinge, und die Wohnbaumittel selbst sind nicht einmal zweckgebunden.
Das beeinträchtigt laut Wohnbauexperte Wolfgang Amann „die finanzielle Basis und Zukunftstauglichkeit der Wohnbauförderung erheblich“. Aus diesen Mitteln kann sich im Grunde jeder bedienen, auch der gewerbliche Wohnbau – dann bleiben die Mieten nur für einen bestimmten Zeitraum begrenzt – oder auch Familien, die sich ein Eigenheim errichten. Alleine das ist fragwürdig und heikel. In einer „Häuselbauer“-Kultur wagt das ja kaum jemand zu sagen, aber: Die Wohnbauförderung an Privathaushalte führt zu Zersiedelung und Bodenversiegelung – in Zeiten der Klimakrise und der Bodenknappheit nicht unbedingt die beste Strategie.
Bauen trotz Krise
Die gemeinnützigen Wohnbauträger sind in diesem System nicht sonderlich privilegiert. Sie haben nur kleine steuerliche Vorteile. Dennoch ist das Gemeinnützigkeitsgesetz ein Best-Practice-Beispiel: Gemeinnützige Wohnbaugesellschaften dürfen nur minimal Gewinne an Anteilshalter:innen ausschütten, sie haben eine „Reinvestitionspflicht“ für alle Überschüsse, aber auch ein gesetzliches „Verlustverbot“, sodass immer leicht über der Kostendeckungsgrenze gebaut bzw. vermietet werden muss. „All diese verschiedenen Parameter haben sehr starke positive Lenkungseffekte“, so Wolfgang Amann.
Damit die gesamte Bauwirtschaft nicht kollabiert, müssten verstärkt Mittel in den gemeinnützigen Wohnbau gelenkt werden.
Thomas Ritt, AK-Wohnbauexperte
Simpel gesagt: Durch die Wohnbauförderung ist Geld da, durch das Gemeinnützigkeitsgesetz wird es verwendet, ohne dass Investor:innen Profite machen, und durch die Reinvestitionspflicht bauen Gemeinnützige auch in der Krise, wenn die Bauwirtschaft abschmiert. So ist dieses System praktisch eine Konjunkturlokomotive.
„Wir sind zwischen Markt und Nicht-Markt“, konstatiert Michael Gehbauer, Geschäftsführer der WBV, der Wohnbauvereinigung der GPA. Die Gemeinnützigen können Studien zufolge rund 25 Prozent unter Marktpreisen anbieten und haben damit auch eine preisdämpfende Wirkung auf den gesamten Markt.
Neoliberale Anschläge auf den gemeinnützigen Wohnbau
Dennoch ist längst nicht alles rosig, und die Dinge haben sich in den vergangenen Jahrzehnten verschlechtert. Gabu Heindl, Architektin und Städtebau-Theoretikerin, fordert in einer großen Studie für die Arbeiterkammer („Gerechte Stadt muss sein“) einen unbedingten „Vorrang der Gemeinnützigkeit“ und die Orientierung des gesamten Systems an sozialen und ökologischen Zielen. In den vergangenen Jahren etwa haben „explodierende Bodenpreise“ für private Investor:innen ein Spekulations-Paradies geschaffen und zugleich für den sozialen Wohnbau die Kosten nach oben getrieben.
Der Philosoph, Stadtforscher und Stadtplanungs-Experte Karl Czasny sieht das einst so vorbildliche Modell mittlerweile weitgehend zerstört. „Wie unsere Wohnungen unleistbar wurden“, so betitelte er ein Analyse-Paper, das eine regelrechte Anklageschrift ist. Bereits vor dem gegenwärtigen Inflationsschub gaben normale Familien schon bis zu 40 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen aus. Subventionsmittel fließen immer mehr in den privaten Markt, in diesem wurden die Mietpreisbindungen gelockert oder abgeschafft, die Zweckbindung der Wohnbauförderung ist Vergangenheit, die Rückflüsse aus den Darlehen wurden durch die Länder auf dem Finanzmarkt versilbert, um kurzfristig die Budgets zu entlasten, gemeinnützige Wohnungen wurde im großen Stil privatisiert (BUWOG!) oder langsam an Mieter:innen verkauft. Diese Entfesselung der Märkte führte zum Immobilienboom, der dann wieder die Bodenpreise explodieren ließ und das Bauen für die Gemeinnützigen ebenfalls verteuerte. 30 Jahre verschiedener neoliberaler Anschläge, deren Resultate dann wieder aufeinander einwirkten, haben das Wohnen unleistbar gemacht, so Czasny.
Absurde Preisspirale
Und dazu hat man noch einen irren Automatismus eingeführt: In großen Teilen des Marktes sind die Mieten indexiert, steigen also automatisch mit der Inflation, was nicht nur Wohnen immer teurer macht, sondern sogar wie eine absurde Preisspirale wirkt: Man erhöht die Mieten entlang der Inflationsrate, womit aber auch die Inflationsrate hoch bleibt und in der nächsten Runde wiederum die Mieten steigen – ein Perpetuum mobile, das zu immer mehr Umverteilung von den Mieter:innen hin zu Immobilienkapitalist:innen führt.
Zwischen 2018 und 2021 sind
in Wien 58.000 neue Wohnungen entstanden,
aber nur mehr ein Drittel sei
auf den geförderten oder gemeinnützigen Wohnbau entfallen.
All das hat noch einmal negative Folgewirkungen, etwa auf die Konjunktur und die Inlandsnachfrage, da wegen der steigenden Ausgaben fürs Wohnen ein „wachsender Teil der Kaufkraft der österreichischen Haushalte verloren geht“. Jeder einzelne der Faktoren, die hier wirken, mag für sich genommen nur eine kleinere Veränderung bewirkt haben, in Summe sei es jedoch fatal, so Czasny: Wir gleichen schon „dem legendären Frosch im Topf, dessen Wasser ganz langsam erhitzt wird: Er merkt die in kleinen Schritten erfolgende Veränderung nicht und bleibt so lange gemütlich im Wasser sitzen, bis er praktisch bei lebendigem Leib gekocht wird.“
Absolut irre
Mit der Invasion der Ukraine durch Russland, der Wirtschaftskrise, der Baukostenkrise, mit Inflation und Zinsanstiegen sowie restriktiven Kreditbedingungen der Banken hat sich im Immobiliensektor im vergangenen Jahr praktisch alles verändert. In den Jahren zuvor explodierten die Bodenpreise, und es breitete sich im Konzernwohnbau eine Glücksritterstimmung aus. „Absolut irre“ sei das gewesen, sagt Thomas Ritt, Wohnbauexperte der Wiener Arbeiterkammer. Gemeinnützige haben praktisch keine Grundstücke zu annähernd realistischen Preisen mehr bekommen. Zwischen 2018 und 2021 sind in Wien 58.000 neue Wohnungen entstanden – in dieser Zeit gab es aber nur ein Bevölkerungsplus von 43.000 Einwohner:innen. Nur mehr ein Drittel sei auf den geförderten oder gemeinnützigen Wohnbau entfallen. Der Rest war reiner kommerzieller Wohnungsmarkt. Ritt: „Früher war das Verhältnis umgekehrt.“ Doch jetzt ist der gewerbliche Wohnbau praktisch zusammengebrochen. Möglich, dass demnächst die Bodenpreise sinken und irgendwann auch die Baukosten. Doch aktuell explodieren die Wohnksoten.
Der Zweck heiligt den Zuschuss
Jetzt müssten wieder, so Ritt, verstärkt Mittel in den gemeinnützigen Wohnbau gelenkt werden, auch damit nicht die gesamte Bauwirtschaft kollabiert. „Eine denkbare Möglichkeit als Sofortmaßnahme wäre: Der Bund führt Zweckzuschüsse zur Wohnbauförderung ein, dafür müssen die Länder aber auch alle Fördermittel und die zusätzlichen Zuschüsse zu 100 Prozent in den geförderten Wohnbau investieren.“ Das wäre nicht nur wichtig, um die Konjunktur zu stützen, sondern auch, damit in den nächsten Jahren leistbarer Wohnraum entsteht – sonst haben wir demnächst einen bitteren Wohnungsmangel.
WBV-Geschäftsführer Michael Gehbauer sieht das ähnlich: „Das ist ein Gebot der Stunde.“ Ohne zusätzliche Mittel können Gemeinnützige kaum mehr kostendeckend bauen, ergo: nicht mehr gesetzeskonform. Dann können faktisch keine neuen Projekte mehr angegangen werden. Gehbauer: „Es braucht eine Wohnbaumilliarde, um dringend benötigte zusätzliche geförderte Mietwohnungen errichten zu können.“
Auf dem Immobilienmarkt breitet sich an allen Ecken schon Panik aus. „Baustopp“ bzw. „Pleitewelle“ titelte unlängst das Magazin „Trend“. Gabu Heindl, Bauwirtschafts-Professorin an der Universität Kassel, sieht aber auch eine „Chance, die man jetzt nützen sollte“: Der private Immobilienmarkt hat zu viel Betongold, unleistbare Wohnungen und vor allem Eigentumswohnungen für Spekulant:innen geschaffen. „Dieser Markt bricht jetzt zusammen, und das ist genau der Moment, in dem man die Gemeinnützigkeit braucht.“