Ungleicher städtischer Wohlstand
Neben der Erweiterung der Stadtgebiete bildeten vor allem massive Migrationswellen den Hintergrund dieses urbanen Aufschwungs. Menschen flohen hier insbesondere vor Lebensverhältnissen, aber auch Lebensformen, die als arm und/oder beengend empfunden wurden. Ähnlich wie heute in Mumbai, Mexiko-Stadt oder Schanghai trafen aber die Erwartungshaltungen der „Zugezogenen“ u. a. auf die harte Realität einer extrem ungleichen Verteilung des städtischen Wohlstands. Weltweit betrachtet ist Armut seit dem Beginn der Industrialisierung so generell ein Phänomen, das als urbanes Problem wahrgenommen wird. So leben z. B. – trotz des Rückgangs extremer Armut – noch immer rund zwei Drittel der Armen Lateinamerikas in gleichzeitig oft boomenden Städten. Auch wenn Österreich von den Lebensverhältnissen des globalen Südens weit entfernt ist, findet sich dieses „urbane Paradoxon“ – Wachstum, Reichtum und Armut – auch bei uns. So liegen der reichste wie der ärmste Bezirk des Landes nur ein paar U-Bahn-Stationen voneinander entfernt: die Wiener Bezirke 1 bzw. 15. Andersherum betrachtet war zwar 2015 das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in den urbanen Räumen um mehr als ein Zehntel höher als in den ländlichen Gebieten. Gleichzeitig sahen sich aber 28,3 Prozent der BewohnerInnen der 31 größeren Städte in Österreich von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht.
Das ist wiederum ein doppelt so hoher Wert wie am Land. Betrachtet man die aktuellen Zahlen des statistischen Amts der Europäischen Union (Eurostat) genauer, liegt Österreich mit dieser „Armuts-Schere“ zwischen Stadt und Land sogar auf Platz eins in der EU. Im medialen Diskurs um Fragen von Stadtentwicklung, Beschäftigung und Armut dominiert im Regelfall Wien. Doch tatsächlich ist Arbeitslosigkeit oder Armut keineswegs ein rein großstädtisches Phänomen. So wiesen 2016 neben Wien auch die AMS-Bezirke Graz, Baden, Gmünd, Oberwart sowie Spittal an der Drau, Villach, Klagenfurt und Völkermarkt Werte über zehn Prozent auf.
Kleine und mittlere Städte betroffen
Besonders bemerkenswert erscheint demgegenüber, dass in Wien der Anteil an armutsgefährdeten Personen mit 23 Prozent der Bevölkerung zwar sehr hoch, aber doch deutlich unter dem städtischen Durchschnitt (28,3 Prozent) des Landes liegt. Die harte Realität der über 700.000 Menschen, die in urbanen Räumen leben und von Armut betroffen sind, konzentriert sich somit speziell in den bei uns so typischen mittleren und kleineren Städten. Auch der österreichische Städtebund weist darauf hin, dass Österreichs Städte einen großen Teil der Belastungen, die sich aus der Armutsproblematik ergeben, zu tragen haben. Längst muss das Ehrenamt – wie die Wiener Tafel – helfen.
Aktuelle bzw. vergleichende Studien zum Thema Armut in Österreichs Städten findet man hier oder auch an anderer Stelle nicht. So erschien der erste und letzte Armutsbericht zur zweitgrößten Stadt des Landes, Graz, im Jahr 2010. Trotzdem liegen gerade zur steirischen Landeshauptstadt einige aufschlussreiche Fakten und Feststellungen von wissenschaftlicher Seite vor.
Am Beispiel Steiermark
Obwohl Graz eine dynamische Wirtschaftsregion mit einem überdurchschnittlich hohen Pro-Kopf-Einkommen ist, lebt hier weit mehr als die Hälfte der steirischen Mindestsicherungs-BezieherInnen. Der steirische Armutsbericht hält dazu fest: „In Städten treten soziale Probleme und soziale Ungleichheit oft deutlicher zutage als in stärker ländlich geprägten Regionen. Die Familienstrukturen werden in größeren Städten stärker von Einpersonenhaushalten bestimmt, die sozialen Risiken (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alter) unmittelbarer ausgesetzt und damit auch häufiger von Armut bedroht sind. Hinzu kommt, dass sich in größeren Städten mehr MigrantInnen niederlassen, die aufgrund unterschiedlicher Formen der Diskriminierung zu den besonders armutsgefährdeten Gruppen zählen. Das rapide Anwachsen der Hilfsbedürftigen wird vor allem mit der zunehmenden Prekarisierung am Arbeitsmarkt bei gleichzeitig im Verhältnis überproportional steigenden Lebenshaltungskosten in Verbindung gebracht.“
Der Bericht zitiert das Sozialamt der Stadt Graz, demzufolge über die Hälfte der BezieherInnen im erwerbsfähigen Alter sogenannte AufstockerInnen sind: Sie erhalten also einen Zuschuss zum Arbeitslosengeld, zur Notstandshilfe oder zu einem geringen Erwerbseinkommen aus prekärer Beschäftigung, weil sie ihr Leben ansonsten nicht finanzieren könnten. Davon betroffen seien insbesondere Frauen mit Teilzeitarbeit und/oder mehreren Jobs mit einem Verdienst unterhalb der Mindestsicherung.
Eklatante Rückstände
„Die Entwicklung, dass Arbeit nicht mehr die Wirkung habe, eine gesicherte Lebensführung zu ermöglichen, wird als wirtschaftlich, gesellschaftlich und sozial bedenklich eingestuft, Vorteile lägen ganz klar nur auf Seite der Wirtschaft“, zitiert der Bericht das Sozialamt. „Die ehemalige ‚Kerngruppe‘ in der Sozialhilfe der ‚kaum arbeitsfähigen‘ und ‚schwer hilfsbedürftigen‘ Menschen wachse zwar absolut, verliere aber in Relation an Bedeutung. Viele der Hilfsbedürftigen hätten eklatante Strom- und Mietenrückstände und Probleme, allgemeine Grundbedürfnisse abdecken zu können.“
Während in der Steiermark insgesamt im Durchschnitt 1,3 Prozent der Wohnbevölkerung durch die Mindestsicherung unterstützt wurden, betrug dieser Anteil in Graz im Durchschnitt 3,3 Prozent, gefolgt von den Bezirken Leoben mit 1,8 Prozent und Bruck-Mürzzuschlag mit 1,7 Prozent (Stand Beginn 2014). Der Anteil aller von Armut betroffenen Personen in der Steiermark liegt allerdings mit 12,9 Prozent weit über jenem der Mindestsicherungsbeziehenden.
Nur ein Bruchteil jener, die von Armut betroffen sind, erhält also Mindestsicherung. Der Diskurs über die Armutsproblematik läuft – allerdings nicht nur hier – somit oft in die falsche Richtung. Gerade verantwortliche PolitikerInnen einzelner Landeshauptstädte sind VorreiterInnen, wenn es um Schuldzuweisungen und Maßnahmen geht, die gegen von Armut betroffene Personen gerichtet sind. So meinte der Grazer Bürgermeister Siegfried Nagl im Wahlkampf 2016, dass die Mindestsicherung insgesamt eine „Fehlgeburt“ sei und stattdessen Menschen zu gemeinnützigen Arbeiten verpflichtet werden sollten.
Repression gegen Wohnungslose
Graz war auch die erste Stadt, in der im Jahr 1996 wieder Bettelverbote erlassen wurden. Obwohl Studien inzwischen die Behauptungen einer organisierten „Bettlermafia“ widerlegt haben, folgten immer mehr Städte dem steirischen Negativbeispiel.
Eine etwas neuere, aber besonders dramatische Form der Repression gegen Betroffene ist die Verfolgung von Obdachlosen. So regte die Innsbrucker Bürgermeisterin Christine Oppitz-Plörer Ende 2016 ernsthaft an, unerlaubtes Nächtigen im Freien mit bis zu 2.000 Euro zu bestrafen. Schon vorher versuchte die Stadt potenzielle Schlafplätze durch das Bespritzen mit Wasser unbrauchbar zu machen.
Angesichts der realen Probleme – Innsbruck weist die höchsten Kosten für Wohnen in der gesamten Republik auf – ist das eine Prioritätensetzung, die nicht von allen InnsbruckerInnen geteilt wird. Bereits im Sommer 2016 hat demgegenüber der Sozialpolitische Arbeitskreis Tirol (SPAK) vor der sich verschärfenden Wohnproblematik gewarnt. Insbesondere eine Veränderung der Mietzinsobergrenzen sowie eine Nutzung leer stehender Wohnungen gemeinnütziger Bauträger wurden hier als konkrete Maßnahmen gegen die städtische Armut gefordert.
Urban Europe – Statistics on cities, towns and Suburbs (Flaggschiff-Veröffentlichung „Das städtische Europa“ der Eurostat)
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John Evers
Erwachsenenbildner und Historiker
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 4/17.
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