Arbeit&Wirtschaft: Sie sind für das Web Accessibility Certificate WACA zuständig, das Barrierefreiheit im Netz prüft und sichtbar macht. Was macht eine Seite im Netz barrierefrei?
Werner Rosenberger: Digitale Barrierefreiheit heißt, dass wirklich alle Menschen, egal ob mit oder ohne Behinderungen, eine Webseite oder App nutzen können. Es gibt internationale Kriterien und Standards, die wir prüfen, um dann das WACA-Zertifikat zu vergeben. Damit können User leicht erkennen, ob eine Website barrierefrei ist oder nicht. Unternehmen wissen wiederum, was sie berücksichtigen müssen, wenn sie ihre Seite barrierefrei gestalten wollen.
Wenn Sie sich auf österreichischen Seiten im Netz umsehen: Wie barrierefrei sind da öffentliche Stellen, private Organisationen und Unternehmen?
Hier gibt es noch große Unterschiede. Im Jahr 2008 wurde im Bundesbehindertengleichstellungsgesetz die digitale Barrierefreiheit verankert, eine Norm wurde aber nicht definiert. Das lässt sich also nicht kontrollieren. Wenn Menschen sich aber diskriminiert fühlen, weil sie etwas nicht bedienen können, steht ihnen der Weg zur Schlichtung oder Klage offen. Für den öffentlichen Bereich gibt es hier inzwischen eine EU-Direktive, die eine entsprechende Normierung beinhaltet. Seit 2018 müssen daher Einrichtungen des Bundes, der Länder und Gemeinden die Web-Zugänglichkeit für alle sicherstellen.
Mit dem European Web Accessibility Act kommt das nun auch für Unternehmen, allerdings muss die Umsetzung erst bis zum Jahr 2025 erfolgen. Betroffen sind nur digitale Produkte und Dienstleistungen, also zum Beispiel Webshops oder E-Banking. Unsere Aufgabe sehe ich deshalb darin, den Unternehmen digitale Barrierefreiheit als wirtschaftlichen Faktor zu erklären. Die Baby-Boomer-Generation, die nun in Pension geht, hat gelernt, mit dem PC und dem Smartphone umzugehen, ist Internet-affin und möchte das Internet im Alter nutzen. Mit dem Alter kommen aber Einschränkungen, daher wäre für diese Menschen digitale Barrierefreiheit wichtig. Es handelt sich um eine riesengroße Zielgruppe.
Man kann heute eben mit Hilfsmittel so vieles ausgleichen.
Mit einem Screenreader sind für blinde Personen viele Tätigkeiten im Büro möglich.
Man muss sich nur drüber trauen – von beiden Seiten.
Werner Rosenberger, Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreich
Sie führen Sensibilisierungstrainings in Unternehmen durch. Wofür sensibilisieren Sie dabei?
Wir von der Hilfsgemeinschaft bieten zwei Arten von Workshops: Einerseits vermitteln wir alles zum Bereich Barrierefreiheit im Netz. Damit wenden wir uns an Website-Beauftragte, Marketingfachleute, Agenturen und Kommunikationsexpert:innen – also keine IT-Fachleute. Es geht also darum, in einfacher, nicht technischer Sprache zu erklären, was nötig ist, um eine Seite barrierefrei zu gestalten.
Andererseits führen wir Inklusionsworkshops durch. Da geht es um die Sensibilisierung dafür, wie man Menschen mit Behinderungen am Arbeitsplatz besser integrieren kann. Was muss ich dabei als Unternehmen beachten? Wo gibt es Förderungen? Wie sieht die gesetzliche Situation aus? Da geht es um bauliche Maßnahmen, aber eben auch um digitale Barrierefreiheit, damit Menschen mit Behinderungen besser in einen Job hineinfinden.
Wie läuft so ein Inklusionsworkshop ab?
Wir informieren dabei über die gesetzlichen Vorgaben, wir bitten die Teilnehmer:innen aber auch, sich in einen Rollstuhl zu setzen. Wie fühlt sich das an? Wie groß ist so ein Rollstuhl, aber auch, wie tief sitzt man? Wir arbeiten aber auch mit speziellen Brillen. Damit spürt man, wie sich eine Makuladegeneration anfühlt oder wie die Sichtweise mit einem Grünen Star ist. Wie kann ich trotz des eingeschränkten Sehens ein Formular ausfüllen oder eine Website bedienen? Was gibt es für Möglichkeiten? Ich kann eine Website zum Beispiel skalieren, die Schrift also größer oder kleiner machen.
Wie reagieren Menschen, die keine Beeinträchtigung haben, auf diese Erfahrungen?
Unterschiedlich. Was mich ein paar Mal verwundert hat, ist, dass die meisten Menschen offenbar am meisten Panik davor haben, nicht mehr zu hören. Das wird mehr gefürchtet, als nicht mehr sehen zu können oder in der Mobilität eingeschränkt zu sein. Das liegt wahrscheinlich daran, dass man dann nicht mehr so leicht mit anderen Menschen kommunizieren könnte.
Werden Sie in diesen Workshops auf Ihren Rollstuhl angesprochen? Und wie gehen Sie mit solchen Reaktionen um?
Bis zu meinem Radunfall vor 17 Jahren habe ich normal gehen können. Bei dem Unfall habe ich einen inkompletten Querschnitt erlitten. Damit umzugehen, war für mich ein Lernprozess. Ich habe gemerkt: Okay, ich kann mich in eine Ecke setzen, treuherzig schauen und mich bemitleiden lassen. Oder ich stehe auf, auch wenn ich nicht wirklich aufstehen kann, und gehe auf die Leute zu. Da war am Anfang viel Berührungsangst zu spüren. Manche waren übersensibel, andere haben den Kontakt zu mir nicht mehr gesucht, die wussten nicht, wie sie sich nun verhalten sollten. Also bin ich offen auf alle zugegangen, habe mit ihnen ganz normal geredet, wie wir auch vor dem Unfall miteinander geredet haben und habe dadurch die entstandene Barriere wieder abgebaut.
Daraus habe ich gelernt, dass ich nun viel offensiver auf Menschen zugehen muss, um diese Barriere in den Köpfen der Menschen verschwinden zu lassen. Das war für mich ein Lernprozess. Und diese Erfahrungen mache ich auch in den Workshops. Eine Lehre für mich ist, dass schon Kinder erlernen müssen, was Menschen mit Behinderungen brauchen. Deshalb ist Inklusion im Kindergarten und in der Schule so wichtig. Wenn ich schon in jungem Alter mit Menschen in Kontakt bin, die andere Bedürfnisse haben als ich, ist die Sensibilisierung eine ganz andere. Das wird wahrscheinlich noch Generationen brauchen, bis das erreicht ist, weil man nicht von einem Tag auf den anderen alles ändern kann, aber jeder Schritt in diese Richtung ist wichtig.
Es sollte nie die Behinderung im Vordergrund stehen,
sondern die Fähigkeiten.
Werner Rosenberger, Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreich
Was nehmen die Verantwortlichen in Unternehmen aus solch einem Workshop mit, um in der Folge etwas zu verändern? Und muss wirklich so viel verändert werden, um einen Arbeitsplatz barrierefrei zu gestalten?
Die größte Barriere ist immer noch in den Köpfen. Viele Führungskräfte können sich nicht vorstellen, dass ein Mensch, der blind ist oder eine andere Behinderung hat, überhaupt arbeitsfähig ist und genauso Leistung erbringen kann. Deshalb ist es wichtig, Aufklärungsarbeit zu leisten. Die Selbsterfahrung ist da ein wichtiges Element. Ja, man kann schlecht sehen – aber vorlesen lassen funktioniert. Eine persönliche Assistenz kann unterstützen, wie zum Beispiel meine persönliche Assistenz, die mich im Alltag begleitet, meine Hände, meine Füße ersetzt und durch die ich genauso arbeitsfähig bin wie jede andere Person. Die Kosten dafür muss nicht das Unternehmen tragen, sondern die übernimmt das Bundessozialamt. Das wissen aber die wenigsten.
Können Sie das Modell der persönlichen Assistenz ein wenig erläutern?
Die persönliche Assistenz kam aus den Benelux-Ländern über Deutschland nach Österreich, inzwischen ist sie gesetzlich verankert. Für alles, was eine Person nicht selbst machen kann, bekommt sie von einem Assistenten oder einer Assistentin Hilfe. Dabei muss zuvor genehmigt werden, wie viele Stunden Bedarf es gibt. Alles, was berufliche Assistenz ist, also alles, was an Hilfe im Beruf oder im Studium gebraucht wird, wird finanziell vom Bundessozialamt übernommen. Für Unterstützung im Freizeitbereich, wenn ich zum Beispiel zu Hause Hilfe beim Essen kochen oder Wäschewaschen brauche, ist das jeweilige Bundesland zuständig. Hier werden die Kosten zu einem Teil vom Land übernommen und einen Teil müssen die Betroffenen selbst zahlen.
Teilweise werden jene Menschen, die in der persönlichen Assistenz arbeiten, direkt bei einer Assistenzgenossenschaft oder einer ähnlichen Einrichtung angestellt. Es gibt auch das Modell, das Betroffene ihre Assistenz selbst beschäftigen. In einem Fall übernimmt der Personalvermittler alle Kosten und sie müssen dann nur den Selbstbehalt bezahlen, im anderen Fall verrechnen sie alle Kosten mit dem Bundessozialamt beziehungsweise dem jeweiligen Bundesland und es bleibt ein gewisser Selbstbehalt über.
Welche Möglichkeiten eröffnet eine solche persönliche Assistenz?
Es geht darum, wieder am Leben teilzunehmen. Gerade Menschen, die starke Einschränkungen haben, brauchen sehr viel Hilfe. Da kann man nicht immer die Familie oder Freunde bitten, das wirkt sich negativ auf die sozialen Beziehungen aus. Mit der persönlichen Assistenz kann man sich wieder in die Gesellschaft integrieren, kann arbeiten, kann sich sozial engagieren oder kann in einem Verein tätig werden.
Immer wieder gibt es Berichte über Menschen im Autismus-Spektrum, die manche Jobs sogar besser ausfüllen können, als Menschen, die nicht neurodivers sind. Da geht es zum Beispiel um Aufgaben im IT-Bereich. Gibt es zum Beispiel auch Arbeitsfelder, für die sich blinde oder sehschwache Personen besonders eignen?
Hier ist mein Zugang: Es sollte nie die Behinderung im Vordergrund stehen, sondern die Fähigkeiten. Natürlich kann eine blinde Person Rezeptionist:in oder Telefonist:in werden. Ob das aber das Ziel ist? Man kann heute eben mit Hilfsmittel so vieles ausgleichen. Mit einem Screenreader sind für blinde Personen viele Tätigkeiten im Büro möglich. Man muss sich nur drüber trauen – von beiden Seiten.
Es sind nicht nur Unternehmen oft zurückhaltend, auch die Menschen selbst stecken viel zurück und sagen: „Da beziehe ich doch lieber weiter meine Versehrten-Pension.“ Ich habe einmal mit Bekannten ein Mentoring-Programm entwickelt, wo es darum ging, Menschen mit Behinderungen mit Unternehmen zusammenzubringen. Wir wollten wissen: Was ist in diesem oder jenen Job eigentlich konkret zu tun? Wie sieht da der Alltag aus? Und in der dritten Runde haben wir festgestellt, dass wir zwar genügend interessierte Unternehmen gefunden haben, die sich als Mentor:innen zur Verfügung gestellt haben, aber keine potenziellen Mentees mehr.
Sie selbst führen auch ein aktives Berufsleben. Empfinden Sie das als erfüllender als zwar versorgt zu sein, aber nicht wirklich eine Aufgabe zu haben?
Wenn ich mich engagiere, bekomme ich eine Rückmeldung aus der Gesellschaft. Ich bin integrierter und ich bin in Kontakt mit vielen Menschen. Es ist aber klar, dass das für Menschen, die von Geburt an eine Behinderungen haben, sicher schwieriger ist. Und ich merke auch, dass Menschen, die wie ich durch einen Unfall in ihrer Mobilität eingeschränkt wurden, manchmal antriebslos sind. Mehr Sensibilisierung, was alles möglich ist, würde ihnen helfen.
Lasst uns über Inklusion im Bildungssystem sprechen und was daran gewaltig falsch läuft! 📚 Karin Riebenbauer setzt sich als Mutter und Mitbegründerin der Initiative „Recht auf Bildung für alle“ für Inklusion in Österreichs Schulen ein. Mehr dazu 👇https://t.co/2PHWmVbPr6 pic.twitter.com/DKcrfkWXVC
— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@AundWMagazin) May 9, 2024
Eines der Hilfsmittel, die Sie in unserem Gespräch schon mehrmals angesprochen habe, ist ein Screenreader, also die Möglichkeit, sich Dinge von einem Programm vorlesen zu lassen. Wie gut funktioniert aber dann das aktive Schreiben eines Mails, das Ausfüllen eines Formulars, das Bestellen in einem Webshop durch eine Person, die nicht sehen kann?
Das ist alles kein Problem, wenn im Hintergrund die entsprechenden für Screenreader hinterlegt sind. Und natürlich müssen Benutzer:innen bedienen können. Was sich jetzt schon abzeichnet: Künftig werden viele Funktionen, wie etwa das Ausfüllen von Formularen, von digitalen Assistenten übernommen werden. Spracherkennung wird immer öfter eingesetzt. Etwas, was ursprünglich für blinde Personen entwickelt wurde, findet damit Eingang in das digitale Angebot für alle Menschen.
Weiterführende Artikel:
Menschen mit Behinderungen sind in der Politik unterrepräsentiert