Im Jahr 2016 konnte die Gewerkschaft erstmals erfolgreich einen Kollektivvertrag mit der Berufsvereinigung von Arbeitgebern in Rettungs- und zugehörigen Sanitätsberufen (BARS) abschließen. Auch heute noch finden Verhandlungen statt, um die verbleibenden Lücken zu schließen, wie beispielsweise im wachsenden – und nicht selten prekären – Sektor der Abfallwirtschaft.
Existenzsichernd?
Eine Reihe von Branchen zeigt aber, dass der Abschluss eines Kollektivvertrages leider nicht immer damit gleichzusetzen ist, dass die Betroffenen existenzsichernde Einkommen erhalten. So gibt es Kollektivverträge, in denen zwar jährliche Abschlüsse erreicht wurden, aber auf niedrigem Niveau. Dazu kommen Kollektivverträge, in denen das letzte Mal vor mehreren Jahren ein Lohnabschluss verzeichnet werden konnte.
Das betrifft etwa das KosmetikerInnengewerbe, wo die Lohntafel in den 1990ern gekündigt wurde und nur noch für jene Beschäftigten gilt, die damals schon im Betrieb waren.
Auch die als Selbstständige selbst in Kammern organisierten BerufsvertreterInnen nehmen es mit der existenzsichernden Bezahlung ihrer MitarbeiterInnen nicht immer so ernst: So hängen Kanzleikräfte bei RechtsanwältInnen in Wien seit 2009 bei einem Einstiegs-Mindestlohn zwischen 1.023,50 und 1.201,00 Euro fest. Seitdem verweigern die ArbeitgebervertreterInnen trotz anhaltender Proteste einen weiteren Abschluss. Im Burgenland liegen die Löhne unter 1.000 Euro, in der Steiermark erfolgte der letzte Abschluss im Jahr 1992 noch in Schillingbeträgen. Auch für Zahnarzt-Angestellte heißt es seit 2015 „bitte aussetzen“.
„Für gute Leute muss man ohnehin zahlen“: So oder so ähnlich lauten die Argumente jener Arbeitgeberverbände, die sich mit Händen und Füßen weiterhin gegen einen (aktuellen) Kollektivvertragsabschluss wehren. Ein Beispiel dafür ist die Werbewirtschaft, wo nach wie vor nur in Wien ein Kollektivvertrag existiert – einer, der noch dazu besser heute als morgen weg sollte, wenn es nach dem Willen mancher Branchen-Arbeitgeber geht.
Spitze des Eisbergs
Dort, wo es einen Betriebsrat gibt und der Betrieb gut organisiert ist, ist es tatsächlich nicht unüblich, mittels Betriebsvereinbarung und innerbetrieblicher Gehaltstabellen einheitliche, gute Standards zu regeln. Doch von der Spitze des Eisbergs lässt sich bekanntermaßen in den seltensten Fällen auf sein Fundament schließen: Wenig überraschend dienen arbeitsrechtliche Schutznormen – und dazu zählen Mindestlohnvorschriften – vor allem jenen, die es sich nicht „selbst richten können“.
Und sie sind ein wesentliches Instrument überbetrieblicher Interessenvertretungen, um einen Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern und ArbeitnehmerInnen zu schaffen. Schließlich darf auch nicht vergessen werden, dass kollektive Mindestnormen auch dem Interesse der Arbeitgeber dienen: Sie schützen vor unlauterer Konkurrenz durch Lohndumping.
Keine staatliche Intervention?
Martin Müller hat in seinem Beitrag bereits ausgeführt, was für den Vorrang kollektivvertraglicher Mindestlöhne im Vergleich zu gesetzlichen Mindestlöhnen spricht (siehe „Wir können’s besser!“). Doch ist es in Österreich tatsächlich so, dass dem Staat im Zusammenhang mit Lohnpolitik keinerlei Aufgabe zufällt? Bereits heute hat der Staat einige Befugnisse, die eine möglichst flächendeckende Absicherung durch Mindestlöhne garantieren sollen.
Ein wesentliches Instrument für diesen Lückenschluss ist die sogenannte „Satzung“ durch das Bundeseinigungsamt. Hierdurch wird ein Kollektivvertrag auch auf ArbeitnehmerInnen ausgedehnt, die davon sonst nicht erfasst wären, da ihr Arbeitgeber nicht Mitglied jenes Verbands ist, der den Kollektivvertrag abschließt (klassisch betrifft dies freiwillige Arbeitgeberverbände). Mit der Satzung sollen nicht nur einheitliche Bedingungen für die ArbeitnehmerInnen gewährleistet, sondern können vor allem auch die tarifgebundenen Arbeitgeber vor unlauterer Konkurrenz geschützt werden.
Wie wichtig dieses Instrument ist, zeigt ein Blick nach Deutschland, wo vor allem in großen Industriebetrieben flächendeckend die Ausgliederung in nicht tarifgebundene (und damit nicht selten wesentlich „billigere“) Betriebe in vollem Gange ist. Einen wesentlichen Schutzmechanismus bieten hierzulande bereits die branchenweit (anstelle von nur für einen Großbetrieb) abgeschlossenen Kollektivverträge sowie die sogenannte Außenseiterwirkung. Letztere bedeutet, dass ein Kollektivvertrag nicht nur für Gewerkschaftsmitglieder gilt, sondern für alle Beschäftigten einer Branche.
„Gesatzt“ werden kann nur in jenen Bereichen, wo es offensichtliche Lücken in einer an sich kollektivvertraglich abgedeckten Branche gibt: Einerseits ist eine Ausweitung mittels Satzung nur für gleichartige Dienstverhältnisse möglich, andererseits muss der Kollektivvertrag, der erstreckt werden soll, „überwiegende Bedeutung“ haben. Sprich, der überwiegende Teil aller gleich gelagerten Dienstverhältnisse muss bereits von vornherein vom Kollektivvertrag erfasst sein.
Regelmäßig erfolgt eine solche Satzung beispielsweise im Gesundheits- und Sozialbereich für jene Arbeitgeber, die nicht Mitglied der SÖW sind, oder auch im grafischen Gewerbe. Denkbar ist aber auch eine Ausweitung eines Kollektivvertrags auf andere Bundesländer.
Keine Arbeitgebervereinigung
In Branchen, wo eine solche Erstreckung nicht möglich ist, da es zum Beispiel auf Arbeitgeberseite gar keine Vereinigung gibt, die zum Abschluss von Kollektivverträgen ermächtigt ist, hat das Bundeseinigungsamt eine weitere Möglichkeit: Es kann per Verordnung einen sogenannten „Mindestlohntarif“ erlassen, der für eine ganze Branche einheitliche Mindestlöhne festlegt. Dies ist etwa für HausbesorgerInnen, HausbetreuerInnen und in Privathaushalten Beschäftigte erfolgt, aber auch für private Bildungs- und Kinderbetreuungseinrichtungen.
Letzte weiße Flecken beseitigen
Wesentlich ist nun eine Ausweitung der bestehenden Instrumente, um die letzten verbleibenden Lücken zu schließen. Da wären zum einen einmal die „untätigen“ Arbeitgeberverbände, die zwar einen Kollektivvertrag abgeschlossen haben, diesen jedoch über Jahre (oder Jahrzehnte) nicht mehr aktualisieren. Das Problem: Da es einen Kollektivvertrag gibt, egal wie wenig aktuell dieser auch sein mag, kann weder per Satzung noch Mindestlohntarif das lebensnotwendige Minimum festgelegt werden. Mit einer entsprechenden Gesetzesänderung könnte hier rasch reagiert werden.
Doch auch wenn der Gesetzgeber die letzten verbleibenden Lücken schließt: Die Verhandlung der Löhne bleibt Sache der Gewerkschaft, und diese wird nicht aufhören, für den Abschluss weiterer Kollektivverträge und die Erreichung höherer Löhne zu kämpfen. Und nicht vergessen: Nur gemeinsam sind wir stark!
Auch das allerletzte Auffangnetz in der arbeitsrechtlichen Rangordnung, das aus kaiserlichen Zeiten stammende Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB), liefert Anlass zur Gesetzesreform. Gibt es keinerlei Vereinbarung auf kollektiver Ebene (Kollektivvertrag oder Betriebsvereinbarung) und keinen Lückenschluss durch Satzung oder Mindestlohntarif, gilt hinsichtlich der Lohnhöhe die freie Vereinbarung. Unser gesamtes Arbeitsrecht fußt allerdings darauf, Schutzmechanismen einzuziehen, da diese freie Vereinbarung im Machtungleichgewicht des Arbeitsverhältnisses zwangsläufig zu Ungunsten der ArbeitnehmerInnen kippt. Nur hier nicht. Hier geht man davon aus, dass Lohnvereinbarungen im unregulierten Bereich auf Augenhöhe getroffen werden.
Zwar gilt mangels ausdrücklicher Vereinbarung stets ein „angemessenes Entgelt“ als vereinbart – das wäre in aller Regel der fachnächste Kollektivvertrag. Doch dürfen Arbeitgeber davon abweichen, solange das vereinbarte Entgelt nicht sittenwidrig niedrig ist. Und diese Grenze ist geduldig …
Susanne Haslinger
Rechtsschutzsekretärin PRO-GE
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 3/17.
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