Mitbestimmung der Beschäftigten
Im Jahr 1886 hatte der liberale Reichsratsabgeordnete Ernst von Plener einen Antrag auf die Einrichtung von Arbeiterkammern gestellt, über den auch jahrelang beraten wurde. Doch am Ende waren sich sozialdemokratische Partei und Gewerkschaften einig. Sie lehnten den Antrag des Liberalen ab. Ihre Befürchtung: Eine Arbeiterkammer könnte am Ende als Argument gegen ein allgemeines Wahlrecht dienen, ohne dass sich an den verbrieften Rechten der ArbeiterInnen viel änderte. Darauf wollte man sich nicht einlassen.
Unter den Erwartungen
Als sie dann in den 1920er-Jahren schließlich doch etabliert worden war, blieb der Einfluss der Arbeiterkammer allerdings unter den Erwartungen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften. Die AK hatte einfach zu wenig mitzureden. Ein paar Jahre lang probierten die ÖsterreicherInnen in der Ersten Republik ein bis dahin nicht gekanntes Maß an demokratischen Mitbestimmungsrechten aus.
Es dauerte allerdings nicht lange, bis die erste parlamentarisch geprägte Demokratie ein jähes Ende fand. Die Verfassungsnovelle von 1929 wertete die Rolle des Bundespräsidenten zulasten des Parlaments auf, und nur vier weitere Jahre später, genauer gesagt im Jahr 1933, wurde das Parlament de facto ganz ausgeschaltet. Die Arbeiterkammern waren zur Zeit des austrofaschistischen Regimes ab 1934 nicht viel mehr als unter Regierungsaufsicht stehende Geschäftsstellen der Einheitsgewerkschaft. Im Jahr 1938 wurden sie gänzlich aufgelöst.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Arbeiterkammer mit Gründung der Zweiten Republik wieder eingerichtet, und zwar formal schon am 20. Juli 1945. Und auch beim Wahlrecht tat sich in der Zweiten Republik einiges. Wer mindestens 20 Jahre alt war, durfte ab 1949 wählen. Wer 26 oder älter war, durfte sich auch selbst zur Wahl stellen. 1968 wurden das aktive Wahlalter auf 19 und das passive auf 25 Jahre abgesenkt. 1992 schließlich fielen die Mindestalter auf 18 bzw. 19 Jahre, im Jahr 2007 wurde das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt.
Und auch sonst wurden die Möglichkeiten, sich an Wahlen zu beteiligen, Schritt für Schritt für immer mehr Menschen erweitert. Im Jahr 1989 konnten sich AuslandsösterreicherInnen zum ersten Mal an Wahlen beteiligen, allerdings ausschließlich in den diplomatischen Vertretungen der Republik. Erstmalig 2002 erhielten auch Menschen ausländischer Staatsbürgerschaft das Wahlrecht und zwar auf kommunaler Ebene, aber nur in Wien. Zwei Jahre später allerdings kippte der Verfassungsgerichtshof diese Regelung wieder, da er allein in der österreichischen Staatsbürgerschaft die Grundvoraussetzung für die Ausübung des Wahlrechts erkannte.
Demokratiedefizit
Seit dem Jahr 1995 dürfen zumindest EU-BürgerInnen, die in Österreich leben, auf kommunaler Ebene wählen. Auf Landesebene oder bei Wahlen zum Nationalrat sind sie von der demokratischen Mitbestimmung weiterhin ausgeschlossen. So dürfen allein in der Bundeshauptstadt über 400.000 WienerInnen an den Wahlen zum Gemeinderat – der ist in Wien schließlich ein Landtag –, Nationalrat und Bundespräsidenten nicht teilnehmen. KritikerInnen erkennen darin ein gewaltiges Demokratiedefizit, das im Widerspruch zur politisch forcierten Mobilität innerhalb Europas steht. Demokratische Mitbestimmung unabhängig von der Staatsbürgerschaft gibt es allerdings dennoch und zwar bei den Wahlen zur Arbeiterkammer. „Wahlberechtigt sind ohne Unterschied der Staatszugehörigkeit alle am Stichtag kammerzugehörigen Arbeitnehmer“, heißt es in § 10 des Arbeiterkammer-Gesetzes.
Ausnahmewahl
Auf das passive Wahlrecht mussten zugezogene AK-Mitglieder allerdings lange warten. Erst nachdem im Jahr 1999 eine Gruppe von fünf türkischen AK-Mitgliedern als Kandidaten zur AK-Wahl antreten wollten und von der Wahlkommission strikt abgelehnt wurden, sorgte ein Rechtsstreit vor dem Europäischen Gerichtshof schließlich für die Einführung des passiven Wahlrechts für MigrantInnen bei den AK-Wahlen.
Weitere Informationen:
Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie
tinyurl.com/ybx3w4bu
Der Standard, „Jeder vierte Wiener darf nicht wählen“
tinyurl.com/yckgypxh
Thomas Stollenwerk
Freier Journalist
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 9/18.
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