Wir treffen Valentina Ausserladscheider im Institut für Wirtschaftssoziologie, einem modernen Glaskasten in der Kolingasse im neunten Wiener Gemeindebezirk. Auf der Orientierungstafel im Eingangsbereich prangen große Worte: „Physik“ und „Informatik“, „Publizistik“ und „Wirtschaftswissenschaften“. Bei der Eröffnung des Gebäudes 2020 betonte der damalige Rektor der Universität Wien, Heinz Engl, dass hier die „wissenschaftliche Diskussion zwischen den Fächern gefördert werden soll“. Hier ist eine kritische Stimme zu wirtschaftlichen Entwicklungen wie die von Valentina Ausserladscheider genau richtig. Vor zwei Jahren kehrte sie aus Cambridge zurück, jetzt forscht sie wieder in Österreich, unter anderem zum Zusammenhang von Neoliberalismus und Rechtspopulismus.
A&W: Seit einigen Jahren werden die Ellbogen gesellschaftlich wieder deutlich ausgefahren, rechte Parteien empören sich beispielsweise immer häufiger über Arbeitssuchende. Haben Sie damit gerechnet, dass Österreich im September 2024 so rechts wählen wird?
Valentina Ausserladscheider: Ja. Die Wirtschaft stagniert, und viele Menschen sind mit Blick auf die Zukunft verunsichert. In einer solchen Situation kann ein Diskurs, der vermittelt, dass manche etwas verdient haben, was anderen nicht zusteht, funktionieren. In meinem Buch „Far-Right Populism and the Making of the Exclusionary State“ nenne ich das „Construction of Deservingness“, also die „Konstruktion der Verdientheit“: Wer hat verdienterweise Anspruch auf staatliche Zusatzleistungen – und wer nicht? Diese Idee ist immer dann erfolgreich, wenn sich Menschen um ihre Jobs und ihre Zukunft sorgen. Wenn dann jemand verspricht: „Wir stellen sicher, dass du das bekommst, was dir zusteht – und sonst niemand“, dann funktioniert das.
Ist dieses Versprechen noch eine neoliberale Idee oder schon Rechtspopulismus?
Wer sagt, dass der Sozialstaat nur für Österreicher:innen im nationalistischen Sinn da ist, bildet eine geniale Grundlage für Einsparungen. Menschen mit Migrationshintergrund, die in zweiter oder dritter Generation hier leben, zählen in dieser Auslegung nicht mehr dazu. Das passt perfekt in die neoliberale Logik: Dadurch gibt es viel weniger Menschen, die Anspruch auf soziale Leistungen haben. Staatsschulden können dann problemlos konsolidiert und Ausgaben gekürzt werden. Die Idee baut zudem stark auf Individualismus: Jede:r bekommt das, was er oder sie verdient.
Aber passt der Begriff Neoliberalismus überhaupt, wenn Rechtspopulist:innen eine solche Politik machen?
Ich bezeichne Neoliberalismus, der von rechts-außen kommt, als exkludierenden Neoliberalismus. Hier wird der Staat so umgebaut, dass Sozialpolitik sowie der Zugang zu Wohnungsmarkt, Jobs, leistbaren Lebensmitteln etc. ‚national-exklusiv‘ nur für einige wenige Österreicher:innen da ist. Das national-exkludierende Element macht den Unterschied zwischen rechtsgerichteter Wirtschaftspolitik von Konservativen und der von Rechtspopulist:innen aus. Bei Rechtspopulist:innen ist das „Wer“ entscheidend: Wer hat Zugang zum Sozialstaat, dem Arbeitsmarkt – und wer nicht?
Ja, der Neoliberalismus ist problematisch, aber das ist nichts Neues. Akut gefährlich sind vielmehr Konzepte, die die Fundamente der liberalen Demokratie in Frage stellen.
Valentina Ausserladscheider
Der autoritäre Neoliberalismus geht eine Stufe weiter. Er beschreibt den Weg in die Autokratie, in der sich das System aktiv von der liberalen Demokratie abwendet. Es gab in der Vergangenheit auch in Österreich Regierungen, die das versucht haben, aber bisher stehen wir noch nicht an diesem Punkt. In Ungarn sieht das anders aus: Viele meiner Kolleg:innen sprechen dort von einem autoritären Liberalismus unter Viktor Orbán. Auf der einen Seite geht es um knallharte Geschäftsinteressen, auf der anderen um das Aufbrechen der liberalen Demokratie in Richtung Autokratie.
Befürchten Sie, dass wir uns in diese Richtung bewegen werden?
Das hängt davon ab, was mit unseren Institutionen passiert. In der türkis-blauen Koalition unter Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache gab es Versuche, demokratische Einrichtungen und verschiedene kontrollierende Institutionen immer weniger zu finanzieren oder das Personal darin auszutauschen. Wenn so etwas wieder und verstärkt passiert, müssen wir uns fragen, inwieweit wir noch in einer liberalen Demokratie leben, oder ob wir uns schon in einen autoritären Neoliberalismus bewegen.
Geht die aktuelle neoliberale Politik rechter Parteien auf die klassische neoliberale Lehre etwa von Friedrich August von Hayek (1899-1992) zurück?
Wenn wir uns das ideologische Universum anschauen und die verschiedenen Wirtschaftsideen, die in bestimmte Ideologien reinspielen, dann können wir nicht sagen, was genau wodurch inspiriert ist. Natürlich bildet die liberale Denkschule nach Hayek und Co eine Grundlage für heutige Politik. Aber: Bei dem wirtschaftspolitischen Programm der FPÖ würde sich Hayek im Grab umdrehen. Gleichzeitig hat der Historiker Quinn Slobodian gezeigt, dass es auch in der liberalen Schule Denkformen gibt, die sich in Richtung Rassismus bewegen. Und genau dieses Gedankengut ist unter Leuten wie Donald Trump und Konsort:innen stark vertreten.
Was können wir daraus lernen?
In den Hochzeiten des Neoliberalismus, also in den 1990er– und 2000er–Jahren, erlebten wir die Grundannahme, dass Marktfreiheit und Liberalismus im wirtschaftlichen Sinne Hand in Hand mit progressiv–liberalen Werten gehen. Nur: Dieses Zusammenspiel ist nicht stabil. Deshalb bedienen sich auch Rechtsaußen-Politiker:innen und –Populist:innen gerne des Neoliberalismus. Für verschiedene unternehmerische Eliten wie die Elon Musks dieser Welt ist das kein Problem. Sie zeigen, dass der Marktliberalismus keine progressiven Werte braucht, um zu funktionieren.
📈 Neoliberale predigen gerne: „Der Markt regelt alles“. Doch stimmt das? 🔍 Valentina Ausserladscheider, (@vapunkt.bsky.social), Assistenzprofessorin am Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien, klärt auf.
— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@aundwmagazin.bsky.social) 10. Februar 2025 um 17:00
Rechtspopulistische Parteien befeuern Nationalismus und lehnen Migration ab, während der Neoliberalismus auf Arbeitsmigration und einen globalisierten Markt setzt. Wie passt das zusammen?
Bei der Deregulierung geht es rein um die Mobilität des Kapitals. Solange Transaktionen über Grenzen hinweg möglich sind, ist es egal, ob die Grenzen zu sind oder nicht. Es gibt durchaus unternehmerische Eliten, die progressiv sind und sich gegen nationale Grenzen wehren. Und es gibt Branchen in unserer Wirtschaft, die ohne Arbeitskräfte aus dem Ausland keine Chance haben. Die Tendenz scheint aber dahin zu gehen, dass unternehmerische Eliten immer seltener offene Grenzen brauchen – unter der Voraussetzung, dass Kapital mobil bleibt.
Was ist zu befürchten, wenn Neoliberalismus und rechte Politik immer mehr verschmelzen?
Mir bereiten vor allem die demokratiefeindlichen Ideen Sorge, die damit einhergehen. Ja, der Neoliberalismus ist problematisch, aber das ist nichts Neues. Akut gefährlich sind vielmehr Konzepte, die die Fundamente der liberalen Demokratie in Frage stellen.
Wir Menschen im Globalen Norden werden dabei nicht im gleichen Ausmaß Leidtragende neoliberaler Politik sein wie jene im Globalen Süden. International werden so hingegen echte Krisen ausgelöst: Wenn etwa die USA unter Trump aus der Weltgesundheitsorganisation (WHO) austreten, fehlen dieser 20 Prozent der Finanzierung. Wer übernimmt dann die Gesundheitsversorgung in ärmeren Regionen? Solche Entscheidungen haben unmittelbare Folgen.
Wie beeinflusst der Neoliberalismus den Widerstand gegen rechte oder rechtsextreme Ideologien? Hat eine Krankenpflegerin am Ende ihres durchgetakteten Arbeitstages noch die Kraft, sich politisch zu engagieren?
So pauschal lässt sich das nicht sagen. Wenn der Neoliberalismus Widerstand schwächt, hat das natürlich institutionelle Konsequenzen. In den 1980er–Jahren, unter der britischen Premierministerin Margaret Thatcher, verloren die dortigen Gewerkschaften massiv an Einfluss – und mit ihnen die Arbeitnehmer:innen. Ohne starke Gewerkschaften fehlt ein wichtiges Instrument für Widerstand am Arbeitsplatz, Protest wird schwieriger. Doch ein Blick nach Österreich zeigt, dass es auch anders geht: Als 2017 die türkis-blaue Regierung ins Amt kam, blieb der Protest verhalten. Heute gehen viel mehr Menschen auf die Straße und das politische Bewusstsein und die Solidarität sind deutlich stärker.
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