All das kostet natürlich viel Geld. In konkreten Zahlen ausgedrückt: Pro Jahr finanziert die Sozialversicherung Sach- und Geldleistungen in einem Volumen von rund 60 Milliarden Euro. Das entspricht 78 Prozent des Bundesbudgets bzw. 17 Prozent des BIP (jährliche österreichische Wertschöpfung). Das ist viel Geld, keine Frage. Und natürlich ein Auftrag, sorgsam mit den Mitteln umzugehen, die letztlich von der Allgemeinheit aufgebracht werden.
Zu einfache Annahme
Oft wird behauptet, die Sozialversicherung sei ineffizient, weil es in Österreich 21 verschiedene Sozialversicherungsträger gibt. Damit sind die Gebietskrankenkassen und die Kranken-, Pensions- und Unfallversicherungen gemeint. Aber die dahinterstehende Annahme, dass ein System umso effizienter ist, je weniger Träger es hat, ist doch etwas zu einfach. Betrachtet man etwa den viel bemühten Verwaltungsaufwand, so ist dieser in der Sozialversicherung gering: Von den Einnahmen werden nur 2 Prozent dafür benötigt. Dieser Anteil ist sogar zurückgegangen, im Jahr 1995 lag er noch bei 2,9 Prozent. Im internationalen Vergleich sind die Verwaltungskosten im unteren Bereich angesiedelt, und zwar selbst dann, wenn man berücksichtigt, dass die Verwaltungskosten nicht überall gleich berechnet werden. Vergleiche mit anderen Ländern zeigen: Die Reduktion der Zahl der Krankenkassen allein brachte keinen Rückgang des Verwaltungsaufwandes. In Deutschland und der Schweiz etwa sind die Verwaltungskosten trotz zahlreicher Fusionen nicht gesunken.
Was auf den ersten Blick erstaunlich wirkt, wird bei genauerer Überlegung nachvollziehbar: Größere Einheiten sind nicht automatisch günstiger. So machten die Verwaltungskosten in der verpflichtenden Krankenversicherung in Österreich 2 Prozent der Ausgaben aus. Damit steht Österreich im OECD-Vergleich gar nicht schlecht da, denn dieser Prozentsatz liegt unterhalb von jenem der Vergleichsländer Niederlande (2,14 Prozent), Belgien (2,44 Prozent), Schweiz (2,47 Prozent), Frankreich (2,8 Prozent) und Deutschland (4,56 Prozent). Privat ist nicht automatisch effizient. Private, gewinnorientierte Versicherungssysteme haben einen sehr hohen Verwaltungsaufwand – und leisten dabei sogar nur einen kleinen Teil der Versorgung. Sie müssen nämlich viel Geld für Werbung, Marketing und Vertrieb ausgeben, und sie müssen Gewinne erwirtschaften. Das sind alles Aufwandspositionen, die nicht bei den Versicherten ankommen – und die in der öffentlichen Sozialversicherung nicht vorkommen.
Leistungen vereinheitlichen
Der Verwaltungsaufwand also ist nicht das Problem. Das bedeutet aber nicht, dass es im österreichischen Sozialstaat keinen Verbesserungsbedarf gäbe. So stehen die meisten Leistungen im Gesundheitswesen allen Versicherten gleichermaßen zu, das betrifft etwa den Zugang zu Spitälern oder Medikamente. Dennoch gibt es auch Unterschiede. Wenn PatientInnen mit privater Zusatzversicherung in einem öffentlichen Spital frühere Operationstermine bekommen, ist das inakzeptabel.
Auch innerhalb der öffentlichen Sozialversicherung besteht Handlungsbedarf. Nach wie vor erhalten Menschen in manchen Bereichen unterschiedliche Leistungen, und zwar je nach Krankenkasse, zu der sie gehören. Dies betrifft etwa die Zahnversorgung (Zahnersatz), die Hilfsmittel und Heilbehelfe (Rollstühle, Kontaktlinsen …) und die Bereiche der Physiotherapie, Psychotherapie, Logotherapie und Ergotherapie. Diese Leistungsunterschiede müssen behoben werden. Es darf aber nicht darauf hinauslaufen, dass sich alles auf niedrigerem Niveau einpendelt. Vielmehr sollten Leistungen, wo es sinnvoll ist, nach oben angepasst werden.
Erste Schritte in diese Richtung wurden bereits gesetzt. So haben die Sozialversicherungsträger im Juni 2017 beschlossen, bestimmte Leistungen zu vereinheitlichen. Das betrifft zum Beispiel die FSME-Impfung, den PSA-Test, die Kostenanteile der Versicherten bei Transportkosten, die endovaginale Sonografie, Rollstühle, Windeln, kieferorthopädische Leistungen oder Familienzuschläge beim Krankengeld.
Dass es hier bisher Unterschiede gab, ist darauf zurückzuführen, dass Krankenversicherungsträger mit einer besseren Finanzlage ihren Versicherten höhere Leistungen zahlen können. Hintergrund dafür ist vor allem die Struktur der Versicherten. Manche Träger haben vor allem stabil Beschäftigte oder befinden sich in wirtschaftlich dynamischeren Regionen. Bei anderen Trägern gibt es viele PensionistInnen, Arbeitslose, Armutsgefährdete oder viele Versicherte mit sozialen und gesundheitlichen Problemen.
Ein Beispiel: 99,7 Prozent der arbeitslosen Menschen sind in den Gebietskrankenkassen versichert. Diese erhalten für Arbeitslose im Schnitt viel weniger Beiträge als für Beschäftigte. Daher sind die Einnahmen je Versicherten oder Versicherte sehr unterschiedlich. Die Versicherung der öffentlich Bediensteten oder die Betriebskrankenkassen wiederum haben pro Kopf deutlich höhere Einnahmen als die Krankenversicherung im Durchschnitt: Hier bedarf es eines Ausgleichs. Dazu kommt, dass kleine, aber wohlhabende Träger mehr VertragsärztInnen haben als die Gebietskrankenkassen in Summe. Die Versorgung der Menschen muss aber von ihren Bedürfnissen abhängig sein und nicht von der Finanzlage der jeweiligen Krankenversicherung.
Aber auch bei der Sozialversicherung selbst kann einiges verbessert werden. So sollte die Effizienz dadurch erhöht werden, dass keine Tätigkeiten parallel durchgeführt werden, wenn das kostengünstiger einmal für alle gemacht werden könnte. Man kann durch vermehrte Arbeitsteilung und Kooperation auch die Effizienz steigern. Wer eine wirkliche Reform der Sozialversicherung im Kopf hat, muss die Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt stellen – nicht die Struktur. Es geht darum, das System fairer zu machen, statt durch schnelle Ad-hoc-Reformen ein bewährtes System zu gefährden.
David Mum
im Kabinett des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz für den Bereich „Soziales“ zuständig
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/17.
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Solidarische Versicherung
Warum die Sozialversicherung so wichtig ist.
Wesentliche Grundsätze der Sozialversicherung sind aus gewerkschaftlicher Sicht:
- Solidarische Finanzierung:
Die Höhe der Beiträge hängt von der Höhe des Einkommens ab. Daher zahlen Kranke – im Gegensatz zu privaten Versicherungen – keine höheren Beiträge als Gesunde. - Keine Riskenauslese:
Jeder Mensch wird abgesichert, unabhängig davon, ob das Risiko (z. B. Krankheit, Invalidität, Unfallgefahr) hoch oder niedrig ist. - Selbstverwaltung:
Die Versicherten bzw. BeitragszahlerInnen (ArbeitnehmerInnen und Arbeitgeber) verwalten die Sozialversicherungsträger selbst. Dies bringt eine hohe Identifikation der SozialpartnerInnen und Versicherten mit „ihrer“ Sozialversicherung und hat dazu beigetragen, dass sich das System stabil entwickelt hat. - Anspruchslohnprinzip:
Die Höhe der Beiträge ist von dem Lohn abhängig, der einem zusteht. Die Sozialversicherung prüft und ahndet auch Unterentlohnung (Bezahlung unter den kollektivvertraglichen Mindestlöhnen, Prüfung von Lohn- und Sozialdumping). - Pflichtversicherung:
Das bedeutet, es gibt keinen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen. Das System der Pflichtversicherung ist effizient und effektiv, weil es einen Risikoausgleich gewährleistet und mit einem niedrigen Verwaltungsaufwand funktioniert. - Umlageverfahren:
Mit den eingenommenen Beiträgen werden direkt die Leistungen (z. B. Arztbesuch, Pensionszahlungen) finanziert. Die Beiträge werden nicht auf den Finanzmärkten veranlagt. Daher trägt man kein Finanzmarktrisiko und die Absicherung wird nicht als profitables Geschäft missbraucht.