Denn immer mehr Menschen müssen sich die gleichbleibende Fläche in der Stadt teilen. Mit dem Mehr an Menschen steigt auch der Nutzungsdruck insbesondere in dicht bebauten Gebieten. Nutzungsansprüche und Anforderungen an öffentliche Räume sind aber durchaus vielfältig.
Von Häuserkante zu Häuserkante
Öffentlicher Raum wird oftmals mit Plätzen in Städten assoziiert, er umfasst jedoch weitaus mehr. In der dicht bebauten Stadt reicht er von Häuserkante zu Häuserkante, hier spielt sich das alltägliche Leben ab, hier können flüchtige Begegnungen, sozialer Austausch und Kommunikation stattfinden.
Die Gestaltung und die Anordnung dieses Raums machen vieles erst möglich und bestimmen die Lebensqualität der StadtbewohnerInnen wesentlich. Diese haben eine Vielzahl an (nicht kommerziellen) Bedürfnissen in ihrem Umfeld. Dazu gehören autonomes und hindernisfreies Unterwegssein, kurze Wege zu den Freiräumen, qualitätsvolle Aufenthaltsmöglichkeiten und Treffpunkte ohne Konsumzwang, ebenso das Vorhandensein öffentlicher Toiletten, die Wahlfreiheit zwischen Angeboten (u. a. Ruhe, Bewegung, Kommunikation) sowie das Bedürfnis nach Schutz vor Vertreibung, Verkehrsrisiken, Kriminalität und Lärm.
Bestimmende Faktoren
Der öffentliche Raum ist determiniert durch eine Vielzahl an Faktoren. Bestimmendes Element ist allerdings die Straßenverkehrsordnung, wonach der öffentliche Raum als Verkehrsfläche definiert ist. Aufenthaltsqualität für Menschen ist nicht darin enthalten. Nach wie vor dominieren hier die Anforderungen des motorisierten Individualverkehrs. Autos beanspruchen – fahrend oder parkend – die meiste Fläche aller Verkehrsmittel. So weit entfernt die Planungsprämisse der „autogerechten Stadt“ der späten 1950er-Jahre scheinen mag – bei Planungen überwiegen die Ansprüche des Autoverkehrs bis heute.
Auch die Raumplanung vor den Toren einer Stadt leistet hierzu einen erheblichen Beitrag. Siedlungsentwicklung auf der grünen Wiese anstatt entlang von Achsen des öffentlichen Verkehrs fördert die Abhängigkeit vom Auto weiter. Im städtischen Bereich sind Pkw-Zählungen und Prognosen für Bauvorhaben meist Usus, den Autos wird viel Platz eingeräumt. Gleichwertige Überlegungen bezüglich Fuß- und Radverkehr wie etwa die Erhebung von FußgängerInnen, wie viele Menschen sich wann und wo im öffentlichen Raum aufhalten oder Radverkehrszählungen spielen eine untergeordnete Rolle – oder es gibt sie erst gar nicht.
Die Gestaltung des Raums hat aber erheblichen Einfluss auf die Mobilität der Menschen: Laut Verkehrsclub Österreich werden in einem attraktiven Umfeld bis zu 70 Prozent längere Fußwege zurückgelegt als in einer stark autoorientierten Umgebung. Aber nicht nur die Prioritätensetzung in der Planung selbst ist ausschlaggebend für die Nutzbarkeit von Raum, viele andere Faktoren spielen eine erhebliche Rolle.
Einen großen Einfluss haben auch Genehmigungen für Schanigärten, Warenausräumungen, (temporäre) Marktstände sowie das Aufstellen von Verkehrsstangen und Pollern am Gehsteig, Baustellenabsicherungen und vieles mehr: Die Positionierung von all diesen Dingen im öffentlichen Raum beeinflusst dessen Qualität, die Alltagstauglichkeit und Nutzbarkeit für die Menschen erheblich. Die dahinterliegende Entscheidung ist auch immer Ausdruck einer Priorisierung von NutzerInnengruppen: Wer bekommt (wie viel) Raum zugesprochen?
Verschiedene Nutzungsansprüche
Die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit des öffentlichen Raums und von Freiräumen im Wohn- und Arbeitsumfeld sind für viele Bevölkerungsgruppen eine zentrale Größe für ihre Lebensqualität. Dazu zählen besonders Kinder, Jugendliche, Jungfamilien, ältere Personen mit kleinen Aktionsradien und sozial benachteiligte wie einkommensschwächere Menschen. Dies sind denn auch genau jene Gruppen, die jedenfalls in Wien stark wachsen. Eine dem Alltag angepasste Stadtgestaltung, die öffentlichen Raum als Rückzugs- und Lebensraum begreift und das Vorankommen zu Fuß und das konsumfreie Verweilen begünstigt, ist also für einen Großteil der Stadtbevölkerung wesentlich. Auswertungen zeigen zudem: Frauen gehen um rund ein Drittel mehr zu Fuß als Männer und SeniorInnen doppelt so viel wie Jugendliche.
Vor allem in den beengten Verhältnissen der dicht bebauten Stadt werden durch den begrenzten Platz Konfliktlinien deutlich. So haben Menschen unterschiedliche Mobilitätsanforderungen und fordern ihren Raum für Auto-, Rad- oder Fußverkehr ein. Auch zwischen Jung und Alt und damit verbundenen unterschiedlichen Bedürfnissen nach Bewegung und Aktivität oder Ruhe und Erholung entstehen Konfliktfelder.
Nutzung von Potenzialen
Das Recht auf Stadt ist auch ein Recht auf Zentrum. Oftmals finden in erster Linie Privilegierte (hohe Bildung, Einkommen, Kommunikationsstärke) und starke Lobbys Gehör. Dabei sollten gerade in der enger werdenden Stadt allgemeine vor individuelle Interessen gestellt und damit Zugänglichkeit und Nutzbarkeit des öffentlichen Raums für alle – insbesondere sozial Benachteiligte – gewährleistet werden. Möglichst mannigfaltige Nutzungsansprüche zu verbinden muss das Ziel sein. Die Umsetzung von Projekten mit dem Anspruch, den öffentlichen Raum wieder Menschen zurückzugeben, ist schwierig. (Medialer) Widerstand durch starke Lobbys schlägt den InitiatorInnen solcher Vorhaben entgegen. Der Weltuntergang wurde keinesfalls bei der Umgestaltung der Mariahilfer Straße zum ersten Mal heraufbeschworen, sondern schon bei der Umsetzung der Fußgängerzone in der Wiener Kärntner Straße Anfang der 1970er-Jahre und bei vielen anderen ähnlichen Projekten.
Aber es müssen nicht immer großdimensionierte (Prestige-)Projekte sein, auch im Kleinen kann lokal ein deutliches Mehr an Lebensqualität erreicht werden. So sind gerade im wachsenden Wien, wo in den dicht bebauten (Gründerzeit-)Gebieten zusätzlich eine überraschend hohe Zahl an Menschen unterkommt, neue Ansätze für den öffentlichen Raum gefragt, etwa mit der Schaffung qualitätsvoller Mikrofreiräume samt Sitzgelegenheiten und Begrünung. Oftmals können mit Durchwegungen, Öffnungen von Baublöcken und Rad- wie Fußwegstegen ganze Gebiete an Freiräume angeschlossen werden.
Auch die temporäre und nicht kommerzielle alternative Nutzung von Straßenzügen und Parkplätzen kann erheblich zur Steigerung der Lebensqualität, der Kommunikation und des Austausches im Grätzl beitragen. Beispiel sind die sogenannten Spielstraßen: Ausgewählte Straßenabschnitte werden regelmäßig für den Autoverkehr gesperrt und Kindern zum Spielen zur Verfügung gestellt.
Ein anderes Beispiel sind die Grätzloasen, also die temporäre Umgestaltung von Parkplätzen. Dass die Aktivierung von Flächen und die Schaffung neuer Räume in der Stadt durchaus möglich sind, zeigen auch Projekte wie die Wiental-Terrasse oder die Nutzbarmachung der Gürtelareale für Jugendliche. Zusätzlich kann die Mehrfachnutzung der Sport- und Spielflächen von Schulen und Kindergärten, Vereinssportanlagen, aber auch Bibliotheken oder Volkshochschulen neue Möglichkeiten bieten – bereits Öffentliches muss noch weiter geöffnet werden.
Das Öffentliche als Lebensraum
Der öffentliche Raum ist Lebensraum! In (wachsenden, dicht bebauten) Städten braucht es also Vorrang für jene Gruppen und ihre Bedürfnisse, die auf den öffentlichen Raum besonders angewiesen sind und ihn dringend brauchen. Das bedeutet mitunter eine Umverteilung und -gestaltung des bestehenden Raums. Öffentlicher Raum als Lebensraum muss bereits in der Planung mitgedacht werden. Der Mensch (als FußgängerIn) muss in den Mittelpunkt der Planung rücken. Der öffentliche Raum ist wertvolles Gut für alle und dient als tragfähige Basis für die künftige städtische Entwicklung und Sicherung urbaner Lebensqualität.
„Kommerzielle und nicht-kommerzielle Nutzung im öffentlichen Raum“
VCÖ „Verkehrssystem sanieren für die Zukunft“
Bevölkerungsprognose für Wien
Judith Wittrich
Abteilung Kommunalpolitik der AK Wien
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 4/17.
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