Mindestens einmal im Monat packt Dorathy Ujunwa ihre Tasche und fährt mit dem Zug von Wien nach Graz. Von Samstag bis Dienstag besucht die dreifache Mutter dort im Rahmen ihrer Ausbildung zur Diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegerin (DGKP) Kurse an der EMG-Akademie. Damit erfüllt sich Dora, wie sie alle nennen, mit Mitte 40 einen Traum. „Als ich in Nigeria aufwuchs, wollte ich Krankenschwester werden, doch die Ausbildung war zu teuer.“ Stattdessen wurde sie Buchhalterin. Nachdem sie 2003 nach Österreich gezogen war, arbeitete sie als Kindergartenhelferin und Stubenmädchen. Ein Gedanke ließ sie allerdings nicht los: „Ich will Menschen helfen und einen Job mit Zukunft haben!“ Die gute Nachricht: Der österreichische Sozialstaat hat die richtige Antwort parat.
„Dora, geh bitte, du schaffst das!“
2009, nach der Geburt ihres zweiten Kindes, absolvierte sie die einjährige Ausbildung zur Pflegeassistentin. Seit 2010 arbeitet sie bei der Caritas Socialis (CS). Dora hilft Menschen beim Aufstehen und Duschen sowie beim Essen, sie wechselt Verbände, verabreicht Insulin. „Dora, geh bitte, du schaffst das!“ Als ihr eine Lieblingsklientin mit diesen Worten Mut machte, meldete sie sich für die DGKP-Ausbildung, die für Pflegeassistentinnen rund zwei Jahre dauert, an. Auch ihre Familie steht hinter ihr. „Ich habe ein Dreimäderlhaus – meine Töchter sind mitten in der Pubertät. Wenn ich in Graz bin, kümmert sich der Papa brav um die Kinder.“ Ihren Mädels rät sie: „Es ist besser, als Kind weniger mit dem Handy zu spielen und mehr zu lernen. In meinem Alter ist das viele Lernen echt anstrengend“, sagt sie und lacht.
Neben den Blöcken in Graz absolviert Dora Ujunwa mehrere Praktika und arbeitet an der Abschlussarbeit. Seit Ausbildungsstart im Mai 2022 ist Dora geringfügig bei der CS beschäftigt. Ihren Lebensunterhalt sichert das Fachkräftestipendium, damit ist sie kranken-, unfall- und pensionsversichert. Auch solche Leistungen gehören zum Sozialstaat. Durch die finanzielle Unterstützung hat sie die Chance, sich beruflich weiterzuentwickeln. Wenn Dora fertig ist, wird sie in einer höheren Verwendungsgruppe entlohnt. Seit heuer werden die Berufsjahre als Pflegeassistenz nach der Ausbildung zur Gänze angerechnet, was zu einem höheren Grundgehalt führt. Für Dora bedeutet das um 400 Euro mehr im Monat. Die „lineare Umreihung“ war ein Verhandlungserfolg von GPA und vida. Die Ausbildungskosten von fast 11.000 Euro übernimmt zum Großteil der Arbeitgeber, im Gegenzug verpflichtet sie sich, danach mehrere Jahre im Unternehmen zu bleiben. Rund zehn Prozent sowie die Aufenthaltskosten für Graz muss sie selber tragen.
Wissen mit Leidenschaft
Rund 400.000 Menschen arbeiten im Gesundheits- und Pflegebereich, einem wichtigen Eckpfeiler im Sozialstaat. Doch es werden deutlich mehr gebraucht: Bis 2030 fehlen rund 75.000 zusätzliche Pflegekräfte. Um den Mangel auszugleichen, will man Arbeitskräfte aus anderen Branchen und Bereichen gewinnen und in deren Ausbildung investieren. Auch Doras Kollegin Jasmine Walters ist Pflegeassistentin und qualifiziert sich weiter. Ihr Weg in die Pflege war nicht vorgezeichnet. Die HTL-Absolventin arbeitete ehrenamtlich beim Roten Kreuz und unterstützte ältere Menschen. Dabei wurde ihr klar: „Das ist meine Leidenschaft“, und sie ist es bis heute geblieben: „Ich freue mich, wenn ich zu den Klient:innen komme und sie sagen: ‚Schön, dass Sie da sind!‘“
Mittlerweile arbeitet die 33-jährige Niederösterreicherin seit 13 Jahren in der Pflege. Angefangen hat Jasmine Walters als Heimhilfe, dann folgte berufsbegleitend die Ausbildung zur Pflegeassistenz und nun jene zur Pflegefachassistenz. Viele Klient:innen fragen sie, wie es ihr mit der Ausbildung geht. Sie finanziert sich die Ausbildung selbst, um sich beruflich nicht an einen Arbeitgeber binden zu müssen. Aktuell ist sie in Bildungsteilzeit. Statt 30 arbeitet sie bis zum Abschluss der Ausbildung 15 Stunden pro Woche und bezieht für die Differenz Bildungsteilzeitgeld, eine Leistung des AMS. Mit dem Geld kommt sie nur aus, weil ihr Partner sie unterstützt. „Sonst hätte ich nur um zehn Stunden reduzieren können.“
Bessere Rahmenbedingungen gesucht
Derzeit arbeitet sie zwei Tage die Woche, drei Tage ist sie in der Schule – dazu kommen Praktika, Prüfungen und die schriftliche Arbeit. Warum dieser Aufwand? „Für mich ist Wissen persönliche Weiterentwicklung.“ Beide Frauen lieben ihre körperlich und emotional herausfordernde Arbeit. Aber an den Rahmenbedingungen müsste sich einiges ändern: bessere Entlohnung, mehr Informationen zu Weiterbildungsangeboten samt noch besserer finanzieller Unterstützung und besserer Planbarkeit der Arbeitseinsätze. Doch dazu bräuchte es mehr Personal. Menschen, die wie Dora und Jasmine in der mobilen Pflege arbeiten, sorgen dafür, dass ältere Menschen länger in ihrem Zuhause bleiben können. Das gehört einfach zum funktionierenden Sozialstaat.
Nicht allein gelassen
„Der Sozialstaat bedeutet für mich, dass ich nicht immer nur für mich selbst sorgen muss, sondern dass mir in einer Krise angemessen geholfen wird“, sagt Alexander Greiner. Der 43-jährige Wiener hat im Zuge einer lebensbedrohlichen Erkrankung die Unterstützung des Sozialstaates erlebt, ist aber auch an Grenzen gestoßen. In seiner Altbauwohnung hängt ein Fahrrad an der Decke. Lenker und Sattel sind mittels Seilzug fixiert. „Ich bin echt froh über diesen platzsparenden Fahrradaufzug“, sagt er. Fahrradfahren bedeutet für ihn ein Gefühl von Freiheit. Beim Radfahren war es auch, als er 2015 erstmals eine körperliche Veränderung spürte. „Zuerst habe ich mich männlicher gefühlt – dicke Eier und so –, aber dann habe ich beim Abtasten gemerkt, dass der eine Hoden sehr viel dicker war.“
Er suchte einen Urologen auf, der machte einen Ultraschall. Mit Verdacht auf Hodenkrebs wurde er in ein Spital überwiesen, wo ihm nur zwei Tage später der tumorbefallene Hoden entfernt wurde. Die nachfolgenden Untersuchungen zeigten, dass sein Körper frei von Metastasen war. Greiner atmete auf: „Für mich war der Krebs damit bis auf die Nachsorge erledigt.“ Nur acht Wochen nach der Operation startete der gelernte Nachrichtentechniker in einen neuen Job: Nach 15 Jahren in der IT- und Unternehmensberatung arbeitete er nun als Barista und hegte Pläne, sich im Kaffee-Business selbstständig zu machen.
„Wie eine Nummer“
Die Nachsorgeuntersuchungen fanden in einem anderen Spital statt. „Dort bin ich mir vorgekommen wie eine Nummer“, sagt Greiner. Wie die Untersuchungen getaktet sind, welche Formulare und Laborzuweisungen nötig sind, musste er weitgehend selbst herausfinden. Ab Frühling 2016 verspürte er Schmerzen in der rechten Schulter, und die Tumormarker stiegen. Rad fahren und klettern konnte er nicht mehr. „Niemand hat eins plus eins zusammengezählt, bis die Tumormarker durch die Decke schossen.“
Im Frühling 2017 erfuhr er, dass der Hodenkrebs gestreut hatte. „Sie haben einen Tumor im Oberarmknochen“, teilte ihm der Radiologe mit. „Das zog mir den Boden unter den Füßen weg“, erinnert er sich. Mit der Therapie hätte er prompt starten können: Als er sich eine zweite Meinung einholen wollte, fuhr sein Arzt ihn an: „Wozu denn?“ „Ich glaube, wir haben verglichen mit anderen Ländern ein gutes Gesundheitssystem. Was ich mir wünschen würde, ist, dass es sich mehr an den psychosozialen Bedürfnissen der Patient:innen orientiert“, sagt Greiner. Erst bei Wahlärzt:innen fühlte er sich als mündiger Patient. „Ich wurde respektvoll behandelt und konnte Fragen stellen, was anscheinend nur geht, wenn du privat zahlst.“ Das sei in einem Sozialstaat wie Österreich unangebracht.
Neustart mit Krankheit
Zwei Wochen nach seiner neuerlichen Krebsdiagnose wurde Alexander Greiner ins AMS-Gründungsprogramm aufgenommen. Davon hatte der damals 37-Jährige geträumt. Das Programm unterstützt bei der Ausarbeitung der Geschäftsidee und übernimmt Kosten für Weiterbildungen. Während der sechsmonatigen Laufzeit und zwei Monate danach erhalten die Teilnehmer:innen ein erhöhtes Arbeitslosengeld. „Damals dachte ich, ich könnte das Programm und die Krebstherapie durchhalten“, schüttelt er heute den Kopf. „Ab dem 3. Chemo-Zyklus fehlte mir jegliche Energie.“ Für Bestrahlung und Chemotherapie wechselte er in ein Spital, wo er sich gut aufgehoben fühlte.
Greiner wusste, dass Hodenkrebs als gut therapierbar gilt, hatte aber finanzielle Sorgen: Seinen Job als Barista hatte er kurz vor der 2. Diagnose gekündigt, das Gründungsprogramm musste er unterbrechen. Damit entfiel auch die Förderung. Krankengeld und Notstandshilfe – Leistungen des Sozialstaats – waren in dieser Zeit wichtig. Doch das Auskommen war schwierig. Apothekenrechnungen, Arztkosten und Therapien ließen die Ersparnisse schrumpfen. Mehr als einmal wünschte er sich ein bedingungsloses Grundeinkommen.
Seit fünf Jahren gilt Alexander Greiner als krebsfrei, nun arbeitet er unter anderem im Auftrag der Krebshilfe und als Autor: Die Erfahrungen mit dem Krebs, dem Ärzt:innen-Marathon und der beruflichen Neuorientierung verarbeitete er 2019 in seinem Buch „Als ich dem Tod in die Eier trat“. Inzwischen hat er das AMS-Gründungsprogramm abgeschlossen und startet 2024 mit einem neuen Konzept durch. Seine Arbeit dreht sich nicht mehr um Kaffee, sondern um Gesundheit. Er will als Journalist, Podcaster, Moderator und Buchautor Fuß fassen und Männer für ein gesundheitsbewusstes Leben sensibilisieren. Dazu gehört es auch, auf Vorsorgeprogramme aufmerksam zu machen.
Wertvolle Familienzeit
„Papa, komm!“ Begeistert klettert der fast zweijährige Xaver in das Zelt, das seine Eltern für ihn und seinen Bruder Zacharias im Wohnzimmer aufgestellt haben. Der fünfjährige Zacharias besucht eine Kindergruppe, Xaver geht gerne vormittags mit dem Vater im Prater spazieren oder vergnügt sich auf dem Spielplatz. Diese wertvolle Zeit mit den Kindern ermöglicht Elmar Drabek die Väterkarenz, während der er kein Arbeitsentgelt bekommt, aber Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld hat. Dabei handelt es sich um eine Leistung aus dem staatlich finanzierten Familienlastenausgleichsfonds (FLAF). Im österreichischen Sozialstaat haben Väter bei rechtzeitiger Meldung Anspruch auf Papamonat und Väterkarenz.
„Ich möchte bei meinen Kindern sein“
„Meine Frau war eineinhalb Jahre in Karenz, und ich mache die letzten sechs Monate“, sagt der 47-jährige Musiklehrer. Er überlegte, ob er das ganze Schuljahr in Karenz gehen sollte, „aber das habe ich mich finanziell nicht getraut“. Auch bei Xavers älterem Bruder Zacharias blieb er ein halbes Jahr zu Hause. Für ihn ist das selbstverständlich: „Ich möchte bei meinen Kindern sein und meine Frau, die ebenfalls Lehrerin ist, kann so früher wieder arbeiten gehen.“ Sein Arbeitgeber hat problemlos mitgespielt. Drabek ist aber bewusst, dass er als Lehrer privilegiert ist und es etwa für einen kleinen Handwerksbetrieb schwieriger ist, die Karenzzeit zu überbrücken.
Wie viele Männer genau in Elternkarenz sind, ist schwer zu sagen. Erhoben wird nur, wie viele Männer Kinderbetreuungsgeld beziehen. Das ist aber nicht eins zu eins dasselbe. Jedenfalls ist die Zahl der Männer, die Kinderbetreuungsgeld beziehen, seit 2017 rückläufig. Die Mindestdauer der Väterkarenz wurde kürzlich auf zwei Monate festgelegt. Wenn Drabek an seinen Vater denkt, erinnert er sich: „Mein Vater war als Techniker viel unterwegs und oft die ganze Woche nicht da. Das war ein anderes Setting.“ Vätern, die überlegen, ob sie in Karenz gehen sollen, rät er: „Tut es!“