Arbeit&Wirtschaft: Frau Gahleitner, warum Ihre Spezialisierung aufs Arbeitsrecht?
Sieglinde Gahleitner: Gerechte Lebensbedingungen, vor allem aus der Sicht von Frauen, haben mich schon früh interessiert. So habe ich bereits bei meiner Matura das Thema „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ gewählt. Im Arbeitsrecht werden Konflikte bereinigt, und den wirtschaftlich Schwächeren wird geholfen, zu ihrem Recht zu kommen. Ich stamme aus einem Handwerker-Haushalt und hätte mir nach dem Studium noch nicht zugetraut, tatsächlich Anwältin zu werden.
Stattdessen sind Sie …
… in die Arbeiterkammer gegangen und habe als Referentin für Arbeitsrecht, Gesellschaftsrecht und Sozialpolitik gearbeitet. 1998 habe ich dann meine Rechtsanwaltsprüfung abgelegt.
Warum ausgerechnet die AK?
Ich habe mir gedacht, es ist toll, was die Arbeiterkammer leistet, und dort würde ich gerne mitarbeiten – und das hat mir auch große Freude bereitet. Anfangs war ich in der Rechtsberatung, später habe ich Betriebsratsmitglieder unterstützt und geschult, dann in der sozialpolitischen Abteilung auch Gesetze mitverhandelt.
Bis das Gericht lockte …
Im Alter von 30 Jahren habe ich nach einer neuen Herausforderung gesucht, wollte näher an die Durchsetzung des Rechts gehen und konkrete Sachen auch selbst ausstreiten. Als Arbeitsrechtsanwältin arbeite ich nun sowohl für die Arbeitnehmer:innen- als auch für die Arbeitgeber:innenseite und versuche, an Konfliktlösungen mitzuarbeiten.
Sie beraten Klient:innen in sämtlichen Fragen des kollektiven und individuellen Arbeitsrechts. Wie sehen Sie das Arbeitsverfassungsgesetz – ist es ein gutes Gesetz?
Es ist grosso modo wirklich ein sehr gutes Gesetz. Die meisten Arbeitsverhältnisse in Österreich sind von Kollektivverträgen erfasst – die Pflichtmitgliedschaft in den Interessenvertretungen und die „Außenseiter-Wirkung“ der Kollektivverträge haben sich bewährt. Letzteres bedeutet: Der Kollektivvertrag gilt auch für Arbeitnehmer:innen, die keiner Gewerkschaft angehören.
Ist das Verhältnis zwischen Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen meist harmonisch?
Gestreikt wird nur selten, und das ist sicher ein Verdienst der Sozialpartnerschaft. Doch die Konfliktlösungsbereitschaft hat sich eher verschlechtert, die Verhandler:innen wollen nun – oft auf Teufel komm raus – länger streiten. Es ist schwieriger geworden, außergerichtliche Kompromisse zu finden und Vergleiche abzuschließen. Auch sonst ist zu beobachten, dass in der Gesellschaft allgemein der Diskurs und Kompromisse weniger gesucht werden als das Beharren auf der eigenen Meinung.
Sozialpartnerschaft funktioniert vor allem über das Reden und Verhandeln.
Das stimmt schon, aber ein gewisser rechtlicher Rahmen ist nötig. Beim Kündigungsschutzverfahren etwa gibt es einen gesetzlichen Mechanismus, wie Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen miteinander verhandeln können. Die Arbeitnehmer:innen fechten die Kündigung zunächst bei Gericht an und legen dar, inwiefern ihre soziale Situation durch die Kündigung wesentlich beeinträchtigt ist. Auf der anderen Seite müssen die Arbeitgeber:innen nachweisen, dass sie wichtige Gründe für die Kündigung hatten. Im Rahmen dieser Argumente wird dann versucht, bei Gericht eine Abschlagszahlung zu verhandeln, die die Nachteile der Kündigung für die Arbeitnehmer:innen ausgleicht, was in den meisten Fällen auch gelingt. Ohne diesen rechtlichen Rahmen wären diese Einigungen aber nicht möglich.
Ich bin mehr als unzufrieden mit dem,
was sich in der Gleichbehandlung getan hat.
Sieglinde Gahleitner
Wo würden Sie im ArbVG nachbessern?
Mir gefällt die fehlende Begründungspflicht bei Kündigungen nicht. Erst wenn ich als Arbeitnehmer:in nachweise, dass die Kündigung meine Interessen wesentlich beeinträchtigt, müssen Arbeitgeber:innen einen Kündigungsgrund nennen.
Das ist in Deutschland anders.
Ja, dort gibt es eine Begründungspflicht, und das heißt: Alle Beschäftigten können überprüfen lassen, ob eine Kündigung gerechtfertigt war oder nicht. Auch die Grundrechte-Charta sieht vor, dass jede:r in der Europäischen Union vor einer ungerechtfertigten oder unsachlichen Kündigung geschützt sein soll.
Es bleibt nicht viel Zeit, um auf eine Kündigung zu reagieren.
Genau. Auch die kurze Kündigungsanfechtungsfrist bereitet den Menschen Schwierigkeiten. Zwar wurde diese Frist von einer Woche auf zwei Wochen verlängert, doch das ist immer noch viel zu kurz. In einer Anfechtungsklage müssen alle Anfechtungsgründe genannt sein, doch Gekündigte stehen oft unter Schock und brauchen Zeit, um sich zu sammeln. Manchmal stellt sich etwa erst nach mehreren Gesprächen heraus: Die Vorgesetzten waren unleidlich, weil die Arbeitnehmer:innen zum Beispiel auf die Auszahlung ihrer Überstunden bestanden haben. Wenn meine Mandant:innen das nicht gleich erzählen, dann kann dieses verpönte Motiv nicht geltend gemacht werden, es kann also nicht einfach nachgereicht werden (Anm.: Zu verpönten Motiven zählen u. a. auch Diskriminierungen wegen des Geschlechts, des Alters oder der Tätigkeit in einer Gewerkschaft).
Werden Arbeitnehmer:innen sonst ausreichend vor Kündigung geschützt?
Nun, es gibt kaum Schutz für leitende Angestellte, die maßgeblichen Einfluss im Betrieb haben. Auch wenn diese Beschäftigten teilweise eine Arbeitgeber:innen-Funktion ausüben, müssen sie trotzdem auch selbst gegen eine unfaire Kündigung geschützt werden. Problematisch sind auch Kleinstbetriebe mit weniger als fünf Arbeitnehmer:innen – einen Schutz vor unfairen Kündigungen gibt es dort praktisch nicht, außer durchs Gleichbehandlungsgesetz.
Ist unsere Arbeitswelt in den vergangenen 50 Jahren gerechter geworden?
Ich bin mehr als unzufrieden mit dem, was sich in Sachen Gleichbehandlung getan hat. Früher dachte ich: Wenn ich ins Pensionsalter komme, brauchen wir nicht mehr über den Gender-Pay-Gap reden. Und jetzt bin ich seit fast 30 Jahren auf dem Gebiet des Arbeitsrechts tätig, und es hat sich faktisch viel zu wenig getan.
Was schlagen Sie vor?
Die Rechte von Frauen sollten auch in der Betriebsverfassung noch klarer geregelt werden. Frauenförderpläne sind wünschenswert und sollten erzwingbar sein. Aber vor allem brauchen wir mehr Transparenz bei den Löhnen und Gehältern.
Inwiefern?
Der Betriebsrat hat zwar das Recht zu erfahren, wie viel die einzelnen Beschäftigten verdienen, doch er darf diese Informationen nur sehr eingeschränkt weitergeben. Es sollte ein aktives Recht geben, die Entlohnung der vergleichbaren Kolleginnen und Kollegen zu kennen, um den Gender-Pay-Gap sofort bekämpfen zu können.
Das ändert sich hoffentlich bald dank der EU-Lohntransparenzrichtlinie.
Die Transparenzrichtlinie der Europäischen Union wird hierbei ein bisschen weiterhelfen. Und man könnte im Arbeitsverfassungsrecht einige Hebel ansetzen, um eine Gehaltstransparenz durchzusetzen.
Der Gender-Pay-Gap ist nicht die einzige Sorge der Frauen …
Die Fakten sind: Vor allem Frauen erziehen die Kinder, sie erledigen weiterhin die Gratisarbeit im Haushalt, und sie pflegen die eigenen Eltern, die Schwiegereltern und so weiter. Es wäre an der Zeit, auch gesetzgeberisch einzuschreiten – nicht nur im ArbVG. Der Gesetzgeber könnte zum Beispiel sagen, dass Kindererziehung nur 50:50 geht, also die Frau bekommt Teilzeit nur, wenn der Mann sie im gleichen Ausmaß nützt. Für Alleinerzieherinnen müsste es natürlich Ausnahmen geben. Aber so wie bisher brauchen wir nicht weitermachen.
Wo sehen Sie einen Lichtblick?
Es gibt jetzt etwas mehr Frauen in Vorstands- und Aufsichtsratsfunktionen, aber es sind noch immer relativ wenige. Und selbst das hat nur mit viel Druck aus Brüssel funktioniert, denn sonst wäre gar nichts weitergegangen. Je mehr Frauen in Führungspositionen arbeiten, desto besser funktioniert die Gleichbehandlung auf allen Ebenen.
Und jenseits der Frauen?
Durch das Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetz kann gegen Firmen vorgegangen werden, die vor allem Arbeitskräfte aus dem Ausland holen und diese unter dem österreichischen Lohnniveau bezahlen. Jetzt werden diese Arbeitgeber:innen nicht nur auf einzelvertraglicher Ebene, sondern auch behördlich in die Pflicht genommen. Das schützt auch ordentlich arbeitende österreichische Unternehmen, die sich an unsere Gesetze und Kollektivverträge halten.
Sollte jemand, der eine Betriebsratsgründung verhindert, bestraft werden?
Ja, das sollte mit massiven Konsequenzen verbunden sein. Ob das jetzt Verwaltungsstrafen sind oder die Tat noch härter bestraft werden sollte, das müsste diskutiert werden – eine Nachbesserung wäre jedenfalls nötig.
Von manchen Arbeitgeber:innen wird das als Bagatelle verstanden …
Es ist außerordentlich wichtig, dass die Arbeitnehmer:innen von einem Betriebsrat vertreten werden. Die Arbeitsbedingungen sind in Betrieben mit Betriebsräten wesentlich besser. Es ist auch jetzt jedem und jeder klar, dass das Verhindern eines Betriebsrats rechtswidrig ist, aber spürbare Konsequenzen gibt es halt bisher nicht.
Was würde eine Betriebsratsgründung erleichtern?
Es wäre wichtig, Betriebsratswahlen zu vereinfachen, denn derzeit sind sie mit einem sehr hohen bürokratischen Aufwand verbunden. Besonders in kleinen Betrieben ist es deshalb schwierig, Leute davon zu überzeugen, sich das anzutun.
Bitte erklären Sie mir Ihre Strategie, sich in Tausende Seiten einzulesen.
Ich muss sehr strukturiert und organisiert arbeiten, um das Pensum zu bewältigen, und auch viele Aufgaben im Team delegieren. Es gibt viele Fristen, alle Termine sind kalendiert, und darüber hinaus gibt es ein Kanzlei-Fristenbuch – bei uns ist alles doppelt und dreifach abgesichert. Ich trage mir jeden Termin auf zwei Arten ein, das Sekretariat notiert ihn ebenfalls, damit ja keine Frist versäumt wird.
All das schaffen Sie in 40 Stunden?
Nein, in 40 Stunden geht sich meine Arbeit leider nicht aus, aber ich bin selbstständig und habe es mir so ausgesucht.
Wie schaffen Sie es, sich abzugrenzen?
Aus dem Büro gehen und etwas völlig anderes tun – ohne dabei an die Arbeit zu denken. Früher haben mir meine wunderbaren Kinder geholfen, abzuschalten, jetzt besuche ich beispielsweise gerne die Staatsoper, spiele Tennis oder treffe mich mit Familie oder Freund:innen.
Weiterführende Artikel:
Wie die Arbeiterkammer Politik für die Vielen macht