Vollbeschäftigung als Ziel
Diese Auffassungen sind heute politischer Mainstream. Das aber war nicht immer so. Im Jahr 1968 wurde nach langen, erbitterten politischen Debatten das Arbeitsmarktförderungsgesetz beschlossen. Dieses Gesetz sollte die staatliche Arbeitsmarktverwaltung dazu verpflichten, für die Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung in Österreich zu sorgen und neue Arbeitslosigkeit zu verhindern.
Tauziehen
Der damalige Ansatz war ein anderer als heute: Arbeitslosigkeit wurde als ein gesellschaftliches und wirtschaftliches Phänomen verstanden und nicht als das private Problem der von Erwerbslosigkeit betroffenen Menschen. Darüber, wie die Ursachen der Arbeitslosigkeit zu definieren sind und wessen Schultern deren Last zu tragen haben, wurde im Vorfeld des Inkrafttretens des Gesetzes heftig gestritten.
Damals ging es, wie heute auch, im Wesentlichen um Verteilungsfragen: Wer soll für die Kosten der Arbeitskräftevermittlung aufkommen? Wer hat die gesellschaftliche Kontrolle darüber, wie diese vonstattengehen soll? Bis in die 1960er-Jahre hinein versuchten die österreichischen Gewerkschaften mehr Einfluss auf die Arbeitsvermittlung zu bekommen und sie somit der Zuständigkeit der UnternehmerInnen zu entreißen.
In diese Richtung zielten auch Forderungen nach einer Meldepflicht für offene Arbeitsplätze durch die Unternehmen. Außerdem wollten die Gewerkschaften, dass die „wirtschaftliche Entwicklung“ als eine Ursache für Massenarbeitslosigkeit im Gesetz festgeschrieben werden sollte. Beides wurde durch Interventionen des Unternehmerlagers in der ÖVP verhindert. Ebenso wurde verhindert, dass der Staat Budgetmittel lockermachen durfte, um öffentlich geförderte neue Jobs zu schaffen.
Das Arbeitsmarktförderungsgesetz des Jahres 1968 war ein Spiegelbild damaliger Kräfteverhältnisse. In den folgenden Jahrzehnten sollten diese immer weiter zuungunsten in Österreich arbeitender Lohnabhängiger verschoben werden. In den 1970er-Jahren gerieten die europäischen Staaten wirtschaftlich ins Schleudern. Die Unternehmerseite nutzte diese Krise, um die soziale Verantwortung für Erwerbslosigkeit auf die Betroffenen abzuwälzen. Arbeitslosigkeit war laut der damals aufkommenden neoliberalen Sichtweise nicht mehr das Ergebnis struktureller Defizite, sondern das Resultat individuellen charakterlichen Versagens.
Neoliberale Umgestaltung
Es begann eine bis heute andauernde Umgestaltung der Sozialsysteme zuungunsten lohnabhängiger Menschen. Waren es bis Mitte der 1960er-Jahre die Gewerkschaften, die versuchten, ihre Interessen geltend zu machen und womöglich auch auf den privaten Sektor auszudehnen, traten nun Privat- und Marktinteressen auf den Plan. Die Sozialpolitik wurde zunehmend der Wirtschaft untergeordnet.
Das spiegelt sich selbst in der Sprache neuer, zu diesem Zweck erlassener Gesetze wider. 1994 wurde das sogenannte „Arbeitsmarktservicegesetz“ eingeführt. Aus der staatlichen Arbeitsmarktverwaltung wurde das „Arbeitsmarktservice“ AMS. Maßnahmen zur Sicherung der Vollbeschäftigung waren nun out. Bereits in den 1980er-Jahren wurde mit der auch in den Boulevardmedien befeuerten Kampagne gegen derlei Steuerungsinstrumente begonnen. Folgerichtig und ganz im Stil neoliberaler Politik war das 1994 gegründete AMS keine staatliche Behörde mehr, sondern ein ausgegliedertes Unternehmen. Unternehmenszweck war nicht mehr die Vollbeschäftigung, sondern die „Aufklärung“ der Arbeitslosen über deren angeblich verpasste Jobchancen.
Diese Politik ist bis heute durch eine stetig eskalierende Spirale aus Mittelkürzungen und Repression gekennzeichnet. Schon in den 1980er-Jahren wurden Lohnersatzleistungen für Erwerbslose beschnitten. Mit Gründung des AMS kam dieser Trend richtig in Fahrt. In einem Papier für das Institut für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften von Thomas Lankmayer und Rudolf Moser heißt es: „Seit den 1990ern wurden Strategien der ‚Restriktion und Sanktionen‘ stärker ausgebaut und der Bezug von Arbeitslosengeld wurde dahingehend erschwert, dass verstärkte Eigeninitiative bei der Arbeitsplatzsuche eingefordert, die Zumutbarkeitsbestimmung für Arbeitslose erweitert und Sanktionen bei vermuteter Arbeitsunwilligkeit ausgeweitet wurden. Die Zahl der Sperren des Arbeitslosengeldes wegen Vereitelung der Arbeitsaufnahme aufgrund von Arbeitsunwilligkeit oder Versäumens eines Kontrolltermins hat sich zwischen 1995 und 2005 verfünffacht.“
Seit 2005 müssen sich Arbeitslose beim AMS zum „Nachweis aktiver Arbeitssuche“ verpflichten. 2011 wurde die „Bedarfsorientierte Mindestsicherung“ beschlossen; Teil des Gesetzes war es, „arbeitsfähige“ SozialhilfeempfängerInnen für den Arbeitsmarkt zu „aktivieren“. 2012 folgte das „Sozialrechts-Änderungsgesetz“, welches laut Lankmayer und Moser die Absicht verfolgt, „Menschen länger gesund im Erwerbsleben zu halten und krankheitsbedingte Pensionierungen zu vermeiden (…). Dabei soll vor allem die Arbeitsmarktintegration von Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen verstärkt gefördert werden.“
Für derartige Förderungen werden seit Mitte der 1990er-Jahre verstärkt private Träger engagiert, die mit der Durchführung sowohl von Schulungen als auch Repressionsmaßnahmen beauftragt werden. Finanziert werden diese Träger zu großen Teilen aus dem AMS-Budget, welches allerdings immer mehr zusammengespart wird.
Kickls digitaler AMS-Betreuer
Schon die schwarz-blaue Regierung des Jahres 2000 nutzte Kürzungen beim AMS, um ein Nulldefizit zu finanzieren. Für 2018 hatte die neue Regierung angekündigt, das AMS-Budget von 1,94 Milliarden Euro auf 1,4 Milliarden Euro zusammenzustutzen. Erste Opfer hat die neue Politik bereits gekostet, nämlich Erwerbslose im Alter über 50 sowie junge Menschen bis 25. Die Aktion 20.000 zur Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt sowie die Ausbildungsgarantie bis 25 sind ersatzlos weggefallen. Auch Menschen mit Migrationshintergrund werden zur Zielscheibe. Die Mittel für das sogenannte Integrationsjahr, mit dem unter anderem Deutschkurse und Qualifizierungsmaßnahmen finanziert werden, wurden von 100 Millionen auf 50 Millionen Euro gekürzt. Komplettiert wird dieses Bild durch die Legalisierung des 12-Stunden-Arbeitstages. Während Erwerbslosen das Leben schwer gemacht wird, lässt man jene, die noch einen Job haben, bis zur Erschöpfung arbeiten.
Spezialeinheit gegen Schwache
Trotz oder gerade wegen dieser Einsparungen wird weiter an der Repressionsschraube gedreht. Innenminister Herbert Kickl kündigte im Oktober die Gründung einer „Spezialeinheit“ an, die Jagd auf angebliche „Sozialbetrüger“ machen soll. Damit sind allerdings keine reichen Steuerhinterzieher, sondern auf staatliche Unterstützung angewiesene Menschen gemeint.
Auch das AMS rüstet auf. Ein neues Computerprogramm soll zukünftig Arbeitslose in drei Kategorien einteilen und automatisch beschließen, wer niedrige, mittlere oder hohe Chancen am Arbeitsmarkt hat. Dass ausgerechnet jene, die ohnehin schon schlechte Chancen am Arbeitsmarkt haben, dadurch geradezu abgeschrieben werden könnten, sorgte für einen Aufschrei. Fraglich ist aber insgesamt, ob die neue Politik geeignet ist, die Arbeitslosigkeit auch wirklich zu bekämpfen. Denn Fakt ist: Es gibt schlichtweg nicht genug offene Stellen, sodass wirklich alle Arbeitslosen einen Job finden könnten.
Weitere Informationen:
Eveline Wollner: Der Herr Handelsminister hat 100%ig njet gesagt
tinyurl.com/ydyz7wyj
Thomas Lankmayer und Rudolf Moser: Der Sozialstaat im Wandel
tinyurl.com/ya46n8kk
Roland Atzmüller: Die Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik in Österreich
tinyurl.com/ybtphols
Christian Bunke
Freier Journalist
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 9/18.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin
christian@bunke.info
oder die Redaktion
aw@oegb.at