Die Sozialversicherungen und ihre natürlichen Feinde – ein Essay von Robert Misik

Inhalt

  1. Seite 1 - Selbstverwaltung fällt nicht auf, bis sie geschwächt wird
  2. Seite 2 - Sozialstaat strukturiert die Gesellschaft
  3. Seite 3 - Vermögen nicht enteignen
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Die Sozialversicherungen bilden das Herz des Sozialstaats, sind der Motor der Freiheit aller, die nicht viel haben. Das System, in das gemeinsam eingezahlt wird, bildet das Vermögen der normalen Leute. Das bringt den Sozialversicherungen erklärte Feinde: Rechte und Neonliberale, die auf dieses Vermögen zugreifen wollen.

Illustration

Vermögen jener, die nicht viel haben

Der französische Sozialwissenschafter Robert Castel hat schließlich auf noch einen weiteren wichtigen Aspekt des Sozialversicherungssystems hingewiesen, indem er Gedanken darüber anstellte, welche Rolle Finanzvermögen (und andere Vermögensarten) in unserer Gesellschaft spielen: Sie geben Sicherheit. Und mit der Sicherheit geht Autonomie einher. Wer vermögend ist, ist gegen Widrigkeiten abgesichert, kann also auch etwas wagen. Und genau diese Rolle spielen die Sozialversicherungen für jene, die nicht vermögend sind – oder besser, die bisher nicht vermögend waren. Sie sind eine eigene Art von Vermögen. Castel: „Kann es so etwas wie ein Vermögen geben, das nicht privater Natur ist und doch einer Person zugeschrieben wird, das also sozial ist, aber privaten Nießbrauch offen steht? Dieser Stein der Weisen … hat sich schließlich finden lassen. Es sind die Leistungen der Pflichtversicherungen: ein Vermögen, dessen Ursprung und Funktionsregeln sozialer Natur sind, das aber die Funktion eines privaten Vermögens erfüllt.“

Es ist ein Vermögen, das ich aber, im Unterschied zum Geld am Sparbuch, nicht heute schon ausgeben kann, und ich kann es, anders als etwa eine Immobilie, nicht heute schon einem anderen für einen bestimmten Gegenwert übertragen. Ich kann es nicht handeln.

Diese Ansprüche des bzw. der Einzelnen aus Sozialversicherungen sind, so Castel, „eine andere Eigentumsform, die nicht wie Geld zirkuliert und sich nicht wie eine Ware tauschen lässt.“ Das ist schon ein seltsames Eigentum, eine eigene Art von Vermögen. Es gibt mir die Sicherheit, dass ich mein Leben auch dann in Würde weiterführen kann, wenn mich eine schwere Krankheit ereilt, und ich weiß als 45-Jähriger bzw. 45-Jährige schon – ungefähr –, dass ich später einmal eine Rente beziehen werde, die eine bestimmte Lebensführung erlauben wird (vielleicht nicht die selbe, wie ich sie jetzt führe, vielleicht schon, das variiert). Es ist ein Vermögen, das ich aber, im Unterschied zum Geld am Sparbuch, nicht heute schon ausgeben kann, und ich kann es, anders als etwa eine Immobilie, nicht heute schon einem anderen für einen bestimmten Gegenwert übertragen. Ich kann es nicht handeln.

Vermögen nicht enteignen

Aber es hat dennoch genau die Wirkung, die früher allein die Vermögenden genießen konnten: Es sichert ab und bietet daher die Möglichkeit, Risiken einzugehen, sich zu erproben, nicht in jedem Moment auf maximale Sicherheit achten zu müssen.

Was aber ein Vermögen ist, auf das spitzen immer auch andere. Vermögen kann man auch enteignen. Man kann es oder Teile davon anderen zuschanzen. Und nicht zuletzt darum geht es immer auch bei der Reform von Sozialversicherungen. Ich kann, beispielsweise, die Beiträge zur Krankenversicherung öffentlichen Spitälern zugutekommen lassen oder davon einen Teil abzwicken und Privatkliniken von Schönheitschirurgen rüber schieben. Ich kann die Sicherheit, die die Arbeitslosenversicherung bietet, absenken, wenn ich ein Interesse an ArbeitnehmerInnen habe, die sich unsicherer fühlen (weil sie sich dann vielleicht mehr gefallen lassen oder niedrigere Löhne akzeptieren).

Die Sozialversicherungen sind das Vermögen der normalen Leute und sie haben natürliche Feinde, die man daher am besten nicht im Kreise der normalen Leute suchen sollte.

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  2. Seite 2 - Sozialstaat strukturiert die Gesellschaft
  3. Seite 3 - Vermögen nicht enteignen
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Über den/die Autor:in

Robert Misik

Robert Misik ist Journalist, Ausstellungsmacher und Buchautor. Jüngste Buchveröffentlichung: "Die falschen Freunde der einfachen Leute" (Suhrkamp-Verlag, 2020). Er kuratierte die Ausstellung "Arbeit ist unsichtbar" am Museum Arbeitswelt in Steyr. Für seine publizistische Tätigkeit ist er mit dem Staatspreis für Kulturpublizistik ausgezeichnet, 2019 erhielt er den Preis für Wirtschaftspublizistik der John Maynard Keynes Gesellschaft.

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