Die Sozialversicherungen und ihre natürlichen Feinde – ein Essay von Robert Misik

Inhalt

  1. Seite 1 - Selbstverwaltung fällt nicht auf, bis sie geschwächt wird
  2. Seite 2 - Sozialstaat strukturiert die Gesellschaft
  3. Seite 3 - Vermögen nicht enteignen
  4. Auf einer Seite lesen >
Die Sozialversicherungen bilden das Herz des Sozialstaats, sind der Motor der Freiheit aller, die nicht viel haben. Das System, in das gemeinsam eingezahlt wird, bildet das Vermögen der normalen Leute. Das bringt den Sozialversicherungen erklärte Feinde: Rechte und Neonliberale, die auf dieses Vermögen zugreifen wollen.

Illustration

Sozialstaat strukturiert die Gesellschaft

Der Sozialstaat hat, erstens, seine sozialtechnischen Seiten: Er strukturiert die Gesellschaft. Da er durch Arbeit finanziert wird, hält er die Arbeit hoch. Er beruht auf einer Gerechtigkeitsidee der Reziprozität: Für Leistungen gibt es auch Verpflichtungen. Wer arbeiten kann, der ist dazu verpflichtet, nicht nur gesetzlich, sondern im Grunde sogar moralisch. Denn wer Leistungen aus dem Arbeitseinkommen anderer im Notfall oder in klar geregelten sonstigen Fällen – etwa im Alter – erhalten will, der muss auch etwas beitragen. Das ist nicht nur die Forderung, die hinter gesetzlichen Regelungen steht, sie ist auch so etwas wie ein untergründig wirkendes Gerechtigkeitsideal in unserer Gesellschaft. Aber das heißt auch, dass der Sozialstaat eine gewisse konformistische Dimension hat, bestimmte Lebensvollzüge als richtig, bestimmte andere als falsch bewertet. Wer sich dieser „Gerechtigkeit durch Reziprozität“ entzieht, der wird auch moralisch abgewertet, als jemand, „der anderen auf der Tasche liegt“ und so weiter.

Der Sozialstaat hat, zweitens, auch eine ökonomische Funktion, er ist ein wesentliches Instrument keynesianischer Wirtschaftspolitiken. Er sorgt dafür, dass niemand in völliger Armut aufwächst und damit – zumindest von der Idee her – jeder und jede seine Talente entwickeln kann und folglich eine Gesellschaft ihre Potenziale nicht verschwendet. So sorgt er für ökonomischen Fortschritt. Er sorgt auch dafür, dass in Krisen die Kaufkraft stabilisiert wird, weil Menschen, die ihre Jobs verlieren, nicht ins Bodenlose fallen; damit werden auch die Einkommen derer, die Arbeit haben, stabilisiert, weil ein gut strukturierter Sozialstaat das Wachstum von Niedriglohnsektoren eindämmt. All das führt dazu, dass die Konsumnachfrage, der wichtigste Motor von Prosperität, nicht allzu dramatischen Schwankungen unterworfen ist.

Der Sozialstaat hat auch eine ökonomische Funktion, er ist ein wesentliches Instrument keynesianischer Wirtschaftspolitiken. Er sorgt dafür, dass niemand in völliger Armut aufwächst und damit – zumindest von der Idee her – jeder und jede seine Talente entwickeln kann und folglich eine Gesellschaft ihre Potentiale nicht verschwendet.

Motor der Freiheit

Aber die wichtigste Dimension des Sozialstaates – und hier besonders der Sozialversicherungen – ist, dass er ein Motor der Freiheit ist. Dabei wird ihnen von ihren Feinden oft das Gegenteil nachgesagt, etwa, dass sie das Leben, die Arbeitsmärkte zu sehr reglementieren, dass sie einerseits mit vielen Verboten bewehrt sind, andererseits aber auch Anreize setzen, und da oft sogar die falschen. Dass zu viele Regeln oder auch nur die Pflichtversicherung „entmündigen“, weil sie die Möglichkeit ausschließen, sich nicht zu versichern oder am „Markt für Krankenversicherungen“ sich die zu suchen, die man am liebsten haben will. Auch dass die gesetzlichen Versicherungen die BürgerInnen „enteignen“ wird gesagt, weil sie ja Beiträge leisten müssen, und nicht selbst entscheiden können, wem sie Beiträge zahlen – und ob sie das überhaupt tun wollen. In Wahrheit freilich ist das Gegenteil der Fall: Sie sind Institutionen der Freiheit, weil sie allen Menschen die Sicherheit geben, nicht ins Bodenlose zu fallen, und damit erst die Voraussetzung schaffen, dass sich BürgerInnen, und zwar alle, frei entfalten können. „Was für eine Vorstellung von Mündigkeit steckt dahinter, wenn von ‚Entmündigung‘ der Bürger die Rede ist, weil diese vor weniger Schicksalsschlägen auf der Hut sein müssen?“, fragten Herbert Ehrenberg und Anke Fuchs schon vor knapp vierzig Jahren in ihrem Buch „Sozialstaat und Freiheit“.

Mit der Pflichtversicherung ist ein Recht verbunden: Ein Recht, Leistungen zu beziehen, wenn man die dafür nötigen Voraussetzungen erfüllt. Diese sind standardisierbare Voraussetzungen, keine persönlichen. Du hast deinen Rentenanspruch, wenn du lange genug einbezahlt hast und ein gewisses Alter erreicht hast, und nicht deshalb, weil du irgendjemandem sympathisch bist oder hübsch aussiehst. Der Anspruch ist also von persönlichen Eigenheiten unabhängig, oder anders gesagt: Er steht einem beinahe anonym zu. Er steigert Autonomie und ist gerade das Gegenteil von Patronage oder Paternalismus. Es ist ein Recht und kein Gutdünken.

Inhalt

  1. Seite 1 - Selbstverwaltung fällt nicht auf, bis sie geschwächt wird
  2. Seite 2 - Sozialstaat strukturiert die Gesellschaft
  3. Seite 3 - Vermögen nicht enteignen
  4. Auf einer Seite lesen >

Über den/die Autor:in

Robert Misik

Robert Misik ist Journalist, Ausstellungsmacher und Buchautor. Jüngste Buchveröffentlichung: "Die falschen Freunde der einfachen Leute" (Suhrkamp-Verlag, 2020). Er kuratierte die Ausstellung "Arbeit ist unsichtbar" am Museum Arbeitswelt in Steyr. Für seine publizistische Tätigkeit ist er mit dem Staatspreis für Kulturpublizistik ausgezeichnet, 2019 erhielt er den Preis für Wirtschaftspublizistik der John Maynard Keynes Gesellschaft.

Du brauchst einen Perspektivenwechsel?

Dann melde dich hier an und erhalte einmal wöchentlich aktuelle Beiträge zu Politik und Wirtschaft aus Sicht der Arbeitnehmer:innen.



Mit * markierte Felder sind Pflichtfelder. Mit dem Absenden dieses Formulars stimme ich der Verarbeitung meiner eingegebenen personenbezogenen Daten gemäß den Datenschutzbestimmungen zu.