Der Bursche lebt in Sri Lanka, aber er könnte ebenso gut in Indien, Bolivien, der Elfenbeinküste oder in einem anderen Land des globalen Südens zu Hause sein. Er könnte auch Schuhe in einer Textilfabrik zusammennähen, Elektroschrott recyceln, in einer Mine oder auf einer Kaffee-, Kakao- oder Bananenplantage arbeiten, Baumwolle ernten oder sich prostituieren, um der Familie zu einem gewissen Einkommen zu verhelfen. Die Krebserkrankung des Vaters, die der Familie Armut gebracht hat, hätte auch ein Unfall, der Tod oder der Jobverlust aufgrund der Pandemie sein können.
Dieser Teenager ist eines von 68 Millionen Kindern in Asien und dem Pazifikraum, die regelmäßig einer Arbeit nachgehen. Das ist jedes 14. Kind in der Region. Mehr als ein Drittel von ihnen ist sogar jünger als elf Jahre. Diese Zahlen stammen von 2017 und sind die aktuellsten Schätzungen der ILO (International Labour Organization), einer Sonderorganisation der UNO. Die neuen Zahlen geben die ILO und UNICEF kurz vor dem 12. Juni, dem Welttag gegen Kinderarbeit, heraus.
Hotspots Afrika und Asien
Noch mehr Kinder, nämlich 72 Millionen, sind in Afrika von Kinderarbeit betroffen – das ist jedes fünfte Kind. Damit bilden Afrika und Asien die Hotspots der Kinderarbeit. Weltweit sind der ILO zufolge 152 Millionen Kinder betroffen. Fast die Hälfte von ihnen arbeitet unter gefährlichen und ausbeuterischen Bedingungen. Mehr als zwei Drittel dieser Kinder arbeiten in der Land- und Forstwirtschaft sowie in der Fischerei, 17 Prozent im Dienstleistungsbereich und zwölf Prozent in der Industrie.
Als Gewerkschaft ist unsere Position klar: Wir tolerieren keine Kinderarbeit,
denn Kinder haben ein Recht auf Bildung.
Anton Marcus, Free Trade Zones &
General Services Employees Union in Sri Lanka
Das darf nicht so bleiben. Darüber sind sich die Mitgliedsstaaten der ILO – immerhin 187 Länder – einig. Sie alle haben eine UN-Konvention zur Beseitigung der schlimmsten Formen von Kinderarbeit ratifiziert und verpflichteten sich damit, umgehend alles zu tun, um gefährliche und ausbeuterische Kinderarbeit effektiv und nachhaltig zu bekämpfen. Bis 2025 wollen die ILO und die Alliance 8.7 Kinderarbeit komplett abschaffen. „8.7“ bezieht sich auf die Ziele für Nachhaltige Entwicklung (SDGs – Sustainable Development Goals), die in Punkt 8.7 auch die Eliminierung von Kinderarbeit beinhalten. Um der Sache Dringlichkeit zu verleihen, rief die UNO 2021 zum Jahr gegen Kinderarbeit aus. Dennoch ist das Ziel 2025 sehr ehrgeizig – erst recht angesichts der Pandemie, die erstmals seit zwanzig Jahren wieder für eine Zunahme von Kinderarbeit gesorgt hat.
Kinder machen weniger Probleme
So sagt etwa Anton Marcus, Joint Secretary der Gewerkschaft Free Trade Zones & General Services Employees Union in Sri Lanka: „Da die Armut in Sri Lanka durch die Corona-Pandemie stark gestiegen ist, nimmt auch die Kinderarbeit zu.“ In den Dörfern gibt es kaum noch Arbeit, und so seien viele Kinder gezwungen, etwa in Textilfabriken zu arbeiten, wo sehr schlechte Löhne bezahlt werden. Dafür fälschen manche laut Marcus auch ihre Geburtsurkunden: „Manchmal wissen das die Arbeitgeber, aber Kinder machen weniger Probleme als Erwachsene.“
2020 erhöhte die Regierung in Sri Lanka das gesetzlich erlaubte Mindestarbeitsalter von 14 auf 16 Jahre und folgte damit den Forderungen von Gewerkschaften und ILO. Marcus: „Als Gewerkschaft ist unsere Position klar: Wir tolerieren keine Kinderarbeit, denn Kinder haben ein Recht auf Bildung.“ Gleichzeitig verstehe er, dass die Armut Menschen dazu zwinge, unter allen Umständen zu arbeiten – ein Dilemma, das die Herausforderung bei der Bekämpfung von Kinderarbeit gut zusammenfasst.
Sri Lanka steht sogar noch vergleichsweise gut da. Insaf Nizam, bei der ILO Regional-Spezialist für Kinderarbeit in Südasien, erzählt von den durch die COVID-Krise ausgelösten massiven Migrationsbewegungen in Ländern wie Indien, Bangladesch oder Pakistan. Hunderttausende Arbeiter*innen, die ihre Jobs verloren hatten, gingen in ihre Dörfer zurück und fanden selbst nach Monaten keine Arbeit. Kinder, die billigsten und unkompliziertesten Arbeitskräfte, helfen, die klaffende Lücke im Familieneinkommen zu verkleinern. Das tun sie mitunter sogar, indem sie allein reisen, was sie umso gefährdeter für Ausbeutung macht. Neue Probleme habe die Pandemie nicht geschaffen. Nizam: „Armut, Diskriminierung, fehlender Zugang zu Bildung, das Fehlen von Rechten für Arbeiter*innen und Mindestlöhnen haben schon existiert. Aber die Pandemie hat die Scheinwerfer auf diese Probleme gerichtet und sie verstärkt – und plötzlich sind wir aufgewacht und sehen, wie schwerwiegend sie sind.“
Hungertod und Bildungskrise
Auch die Tatsache, dass Kinder nicht zur Schule gehen können, verschlechtert ihre Lebensumstände. Laut UNICEF, dem Kinderhilfswerk der UNO, waren wegen der Maßnahmen gegen die Pandemie weltweit mehr als 168 Millionen Kinder vom Schulunterricht ausgeschlossen. 214 Millionen verpassten mehr als drei Viertel des Unterrichts. UNICEF-Exekutivdirektorin Henrietta Fore spricht von einer katastrophalen Bildungskrise. Es werde deutlich, dass die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie Kindern mehr schaden als die Krankheit selbst: Die Armut nehme zu, grundlegende Ernährungsdienste und Versorgungsketten seien unterbrochen, Lebensmittelpreise in die Höhe geschossen. All das führe dazu, dass Kinder weniger gesund ernährt würden oder gar vom Hungertod bedroht seien.
Die Pandemie wirft die Welt im Kampf gegen Kinderarbeit zurück. Michael Wögerer, Projektleiter bei „weltumspannend arbeiten“, dem entwicklungspolitischen Verein im ÖGB, sagt: „Aufgrund der aktuellen Weltlage wurden die bisherigen Errungenschaften, die wir bei der Kinderarbeit erreicht hatten, leider wieder zurückgedrängt.“ Es habe schon große Verbesserungen, insbesondere bei Kinderprostitution und Kindersoldaten, gegeben. Konkret wurden in den letzten 20 Jahren fast 100 Millionen Kinder aus Kinderarbeit befreit. Insbesondere im asiatischen Raum gab es große Fortschritte.
Insaf Nizam bestätigt: „Angesichts der Pandemie erfahren sogar Länder, die schon konstante Fortschritte gemacht haben, einen Rückschlag.“ Zu diesen gehört etwa Sri Lanka. Er glaubt nicht, dass es noch realistisch ist, Kinderarbeit bis 2025 abzuschaffen. Jedoch hält er ambitionierte Ziele dennoch für gut: So hätten etwa die SDGs, die 2016 in Kraft traten, den Ländern bisher geholfen, große Anstrengungen gegen Kinderarbeit zu unternehmen.
Kein moralisches Problem
Die Corona-Krise habe laut Michael Wögerer dazu geführt, „dass die Ärmsten der Armen wegen der Lockdowns nicht mehr in die Arbeit gehen konnten oder ihre Arbeit verloren haben und die Menschen faktisch dazu gezwungen sind, ihre Kinder arbeiten zu schicken“. Kinderarbeit sei kein moralisches, sondern ein soziales und strukturelles Problem: „Ich kenne keine Familie, die ihre Kinder arbeiten schicken würde, wenn es nicht notwendig wäre.“ Kinderarbeit abzuschaffen, ohne Armut zu bekämpfen, sei nicht möglich: „Solange wir an den strukturellen Problemen nichts ändern, wird sich auch an Kinderarbeit nichts ändern.“ Und was braucht es, um diese Herkulesaufgabe – wenn auch nicht bis 2025 – zu bewältigen?
Neben Armut begünstigt auch informelle Arbeit, also Arbeit ohne Verträge, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, Kinderarbeit, weil hier die Kontrolle erschwert ist. Gerade für Menschen, die in der informellen Wirtschaft tätig sind, hat die Corona-Krise massive Einschränkungen gebracht. Wögerer: „Die Menschen mit informeller Arbeit können während der Lockdowns nicht mehr auf die Straße gehen, um etwas zu verkaufen, und haben kein Einkommen.“ Daher ist die Formalisierung von Arbeit ein wichtiges Ziel für die Bekämpfung von Kinderarbeit. Insaf Nizam von der ILO berichtet, dass in Indien 90 Prozent der Jobs im informellen Sektor stattfinden, in Pakistan mehr als 80 Prozent. In Sri Lanka ist die Situation etwas besser – aber so oder so: „Es ist eine große Herausforderung, im informellen Sektor ein Bewusstsein für Kinderarbeit zu schaffen.“ Umso bemerkenswerter ist es, dass es dennoch in den letzten zwei Jahrzehnten große Fortschritte gab.
Zusammenspiel vieler Player
Dass schon viel gelungen ist, liegt an vielen Playern. Eine wichtige Rolle spielt neben Gewerkschaften vor Ort die ILO, zu deren wichtigsten Aufgaben es gehört, politische Akteure zusammenzubringen und Studien durchzuführen. Nizam: „Was wir als ILO machen, können viele andere Organisationen nicht. Um zum Beispiel Umfragen durchzuführen und Regierungen zu beraten, braucht es Ressourcen, aber auch einen hohen Grad an Expertise.“ Nizam verweist zudem auf weitere UN-Organisationen, Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche Organisationen und NGOs: „Nur wenn alle zusammenwirken, werden wir Erfolg haben.“ Letztlich geht es darum, Regierungen dazu zu bringen, wirksame Gesetze und Aktionspläne gegen Kinderarbeit zu implementieren.
Dazu gehören etwa Lieferkettengesetze, durch die Unternehmen Verantwortung für die menschenrechtlichen Auswirkungen ihrer unternehmerischen Tätigkeiten entlang der gesamten Liefer- und Wertschöpfungskette übernehmen. Auch Nizam befürwortet das: Seit etwa der UN-Menschenrechtsrat 2011 die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte verabschiedet hat, sei es für Unternehmen wichtiger geworden, einen genaueren Blick darauf zu werfen, woher sie Produkte beziehen und wohin diese gehen: „Wenn zum Beispiel in einer Zementfabrik keine Kinder arbeiten, aber Kinder diesen Zement mischen, kann sich der Zementproduzent nicht mehr abputzen.“ Ein solches Lieferkettengesetz, das auch gegen Kinderarbeit wirken würde, fordert für Österreich die Aktion „Kinderarbeit stoppen!“, eine Initiative von Butterfly Rebels, der Dreikönigsaktion, Fairtrade, der Kindernothilfe, „Jugend – Eine Welt“ sowie „weltumspannend arbeiten“.
Armut ist Teil des Systems
Auch wenn bei der Kinderarbeit in Sri Lanka schon viel erreicht wurde, wünscht sich Anton Marcus tatkräftigeres Vorgehen, um sie komplett abzuschaffen: „Wir brauchen ein Aktionsprogramm.“ Dabei sei aber Vorsicht geboten: Die Menschen, die dann etwa nicht mehr arbeiten dürfen, sollten Unterstützungen bekommen – nur so könne Kinderarbeit wirklich gestoppt werden. Und auch er sieht das große Bild: „Kinderarbeit hängt stark mit Armut zusammen, und Armut ist Teil des Systems. Es ist nicht einfach, sich der Armut anzunehmen, während man dasselbe System beibehält.“ Und weil das System ein globales ist, glaubt Marcus nicht, dass Sri Lanka Kinderarbeit allein bekämpfen kann: „Ohne eine globale Lösung werden wir Kinderarbeit nicht ausrotten. Und während wir einen globalen Aktionsplan entwickeln, sollten wir auf nationaler Ebene alles tun, was wir können.“ Für den heute 15-Jährigen kommt das jedenfalls zu spät. Seine Kindheit hat ihre Unschuld schon verloren.
Drei Fragen zum Thema
an Michael Wögerer
Verein „weltumspannend arbeiten“, im ÖGB
Wann ist die Arbeit von Kindern problematisch?
Das Englische unterscheidet zwischen Child Work und Child Labour. Child Work sind Tätigkeiten, bei denen Kinder spielerisch am Arbeitsleben der Eltern, zum Beispiel im landwirtschaftlichen Betrieb mitarbeiten, aber trotzdem ihre Kindheit ausleben können und nicht vom Schulunterricht ferngehalten werden. Wenn Kinder Erwerbsarbeit machen und deshalb nicht mehr zur Schule gehen, handelt es sich um Child Labour – und das ist problematisch. Kinder dürfen in den meisten Ländern ab 15 Jahren arbeiten, in manchen ab 14.
In welchen Produkten steckt tendenziell Kinderarbeit?
Allgemein lässt sich sagen, dass in allen Produkten, in denen viel Handarbeit steckt, auch Kinderarbeit drin ist, also zum Beispiel Kleidung, Schuhe, Spielzeug und im Lebensmittelbereich Produkte, die auf Plantagen im globalen Süden angebaut werden, wie Kaffee, Tee, Bananen oder Schokolade. Die in Deutschland konsumierte Schokolade kommt nur zu circa zwei Prozent aus Fairtrade-Anbau. Es ist davon auszugehen, dass im Rest Kinderarbeit steckt. In Österreich ist die Situation zumindest bei Schokolade etwas besser.
Hilft es, teurere Produkte zu kaufen oder an NGOs zu spenden?
Ein teureres Produkt sagt noch nichts darüber aus, wie die Menschen vor Ort behandelt werden. Im Zweifelsfall wird die Gewinnspanne für den Hersteller größer, aber das Kind, das den Schuh näht, arbeitet weiter und bekommt gleich viel Geld. Es spricht nichts gegen Fairtrade-Produkte, aber oft kauft man sich damit nur ein gutes Gewissen. Ziel wäre es, dass es Hilfsorganisationen einmal nicht mehr braucht. Entwicklungshilfe geht mehr weg davon, Geld zu verteilen, und hin dazu, vor Ort Strukturen für nachhaltige Entwicklung zu schaffen. Das können gewerkschaftliche Organisationen am besten, denn sie wissen, was die Menschen vor Ort brauchen.