Machtmissbrauch gibt es überall. Besonders häufig dort, wo ein hohes Maß an Ungleichheit herrscht und Kontrollmechanismen für jene an den Schalthebeln der Macht fehlen.
In Abhängigkeitsverhältnissen kann das Aufzeigen von Missständen für hierarchisch Unterlegene schnell existenzielle Folgen haben. Die Studie kommt zu einem interessanten Schluss, nämlich: In allen Bereichen ist für Diskriminierung das Machtgefälle relevant und der soziale Status ausschlaggebend. Im Kern geht es also um soziale Ungleichheit. Diese Machtstrukturen selbst sind aber nur selten Teil der öffentlichen Diskussion.
Wie erkennt man Machtmissbrauch und macht solche Verhältnisse sichtbar?
Juliette Sanchez-Lambert und ich haben ein Buch darüber geschrieben, wie Machtmissbrauch in Form von sexueller Belästigung aussieht: „It’s not that grey“. So grau ist sie nämlich gar nicht, die berüchtigte Grauzone, wenn man einmal gelernt hat, Machtstrukturen zu erkennen.
Das Buch liefert eine Anleitung, wie man Umgebungen erkennt, in denen Missbrauch begünstigt wird, wie man Strategien entschlüsselt, die Täter_innen verwenden, und wie man lernt, missbräuchliches Verhalten von „normalem“ zu unterscheiden und dann dagegen aufzutreten. In vier Fallstudien kann man solche Situationen bei der Arbeit, in einer Zahnarztpraxis, an der Uni und sogar im Freund_innenkreis durchspielen. Herausgekommen ist viel mehr als bloß ein Buch über sexuelle Belästigung. Es ist ein Leitfaden, wie man sich durch Machtstrukturen bewegt und wie man erste Anzeichen von Missbrauch erkennen und bekämpfen kann.
Wenn eine Grenzüberschreitung gelingt, macht das den Weg für die nächste frei.
Denn, wie wir herausgefunden haben, passiert so etwas nicht urplötzlich aus dem Blauen heraus, sondern kündigt sich lange und schrittweise an. Wenn eine Grenzüberschreitung gelingt, macht das den Weg für die nächste frei.
Die Täter_innen ebnen nach und nach den Weg für die jeweils nächste, noch krassere Grenzüberschreitung, indem sie die Betroffenen allmählich und systematisch von einer Gruppe isolieren, in die Enge treiben, Druck und Kontrolle ausüben. Oft wird eine einzelne Person herausgepickt und geschwächt, weil sie auf diese Weise leichter manipuliert werden kann.
Betroffen sind oft Menschen, die gesellschaftlich an den Rand gedrängt sind und denen prinzipiell weniger Glauben geschenkt wird. Die Erhebung von SORA zeigt, dass der soziale Status ein wichtiger Faktor für Benachteiligung ist: Menschen mit niedrigerem sozialem Status haben ein deutlich höheres Diskriminierungsrisiko.
Jede fünfte Diskriminierung geschieht am Arbeitsplatz
Dort berichtet mehr als die Hälfte der Betroffenen über bewusstes Zurückhalten von Informationen, von Gerüchten, die gegen sie in Umlauf gebracht werden, oder von übler Nachrede. Knapp jede_r Zweite bekommt unangenehme Anspielungen, Spitznamen und Kommentare zu hören bzw. erlebt am Arbeitsplatz Ausgrenzung und Isolation, und die absoluten Extreme, nämlich hartes Mobbing, Psychoterror, Drohungen und Erpressungen, mussten in Summe ganze 43 Prozent der Betroffenen erleben.
Die meisten Menschen würden wohl „hartes Mobbing, Psychoterror, Drohungen und Erpressungen“ für inakzeptables Verhalten am Arbeitsplatz halten, schauen aber bei den Vorstufen von Ausgrenzung viel zu oft weg und tragen dazu bei, dass so etwas als normal betrachtet wird.
Auch die extremen Fälle passieren nicht von ungefähr, sondern brauchen Vorstufen, ein gewisses Umfeld und begünstigende Strukturen. Die meisten Menschen würden wohl „hartes Mobbing, Psychoterror, Drohungen und Erpressungen“ für inakzeptables Verhalten am Arbeitsplatz halten, schauen aber bei den Vorstufen von Ausgrenzung viel zu oft weg und tragen dazu bei, dass so etwas als normal betrachtet wird. Ohne Unterstützungssysteme ist es für Betroffene dann kaum möglich, gegen Diskriminierung vorzugehen. Wer aus guten Gründen und konkreten Erfahrungen heraus fürchten muss, seinen Job zu verlieren, oder ohnehin schon prekär arbeitet, hat eine denkbar schlechte Ausgangsposition, um sich gegen Missbrauch und Diskriminierung zu wehren.
- Information werden vorenthalten
- Gerüchte verbreitet
- Menschen isoliert
Der Beginn von Ausgrenzung, wo Information vorenthalten, Gerüchte verbreitet und Menschen isoliert werden, ist dabei nicht als harmlos oder von den schweren Fällen getrennt zu betrachten. Es sind kleinere, aber wichtige Zahnräder dieses Mechanismus, und sie sind Warnsignale, die anzeigen, dass ein größeres Problem im Entstehen ist, das in einem ungleichen System wächst.
Gelebte Solidarität
In den meisten Fällen von Machtmissbrauch hätten beherzt eingreifende Mitmenschen, die das Geschehen mitbekommen, einen entscheidenden Unterschied gemacht. Hier geht es um gelebte Solidarität. Das bedeutet konkret: Wissen über Arbeitnehmer_innenrechte mit Kolleg_innen teilen, wo immer es geht darüber aufklären, welches Verhalten nicht akzeptabel oder sogar verboten ist, über Vertrauenspersonen und Beschwerdestellen sprechen und klarstellen, welche Konsequenzen missbräuchliches Verhalten hat. Jede_r für sich kann eine Machtanalyse durchführen, indem man sich fragt: Wo würde Missbrauch am wenigsten auffallen? Wen würde ich am ehesten decken? Wer in diesem Raum fühlt sich mächtig und warum? Wer fühlt sich machtlos und warum?
Diskriminierung geht von Vorgesetzten, Vermieter_innen, Lehrer_innen aus – kurz: jenen, die am längeren Hebel sitzen.
In allen Bereichen, die SORA untersucht hat, waren Machtgefälle entscheidender Teil des Problems. Diskriminierung geht von Vorgesetzten, Vermieter_innen, Lehrer_innen aus – kurz: jenen, die am längeren Hebel sitzen.
Echter Wandel
Seit #MeToo wollen viele Organisationen beweisen, dass sie gegen Missbrauch aktiv werden. Und so wird in gefühlt jedem zweiten Unternehmen fieberhaft an einem Verhaltenskodex gearbeitet. Dabei bleiben aber jene Firmenstrukturen, die Machtmissbrauch begünstigen, oft unberührt. Genau diese Ungleichheitsfunktionen müssen aber auf den Tisch, wenn echter Wandel gelingen soll.
Schlussendlich geht es darum, einen sicheren Arbeitsplatz für alle zu schaffen. Das gelingt uns nur, wenn es Kontrollmechanismen für die Mächtigen gibt, wenn auch nicht unmittelbar Betroffene ihre Privilegien nutzen, um für andere einzutreten und Solidarität selbstverständlich praktiziert wird.
Hier geht es zur kostenlosen Online-Version des Buchs “It’s not that grey”