Interview mit Ulrich Brand zu Degrowth
Arbeit&Wirtschaft: Was ist Degrowth?
Degrowth oder Postwachstum hat aus meiner Sicht drei Dimensionen. Die erste ist die Diagnose, dass die ökologischen Probleme – aber auch soziale und wirtschaftlichen – vor allem durch die kapitalistische Wachstumsorientierung generiert werden. Die zweite Dimension ist, dass Degrowth eine Art Projekt und Alternative formuliert. Dass der unbedingte Wachstumsimperativ infrage gestellt wird. Das heißt nicht, dass per se nicht mehr gewachsen werden soll. Es geht dabei nicht um eine negative BIP-Entwicklung. Das wäre Change by Desaster. Degrowth formuliert einen Change by Desing. Es geht um eine bewusste Umgestaltung der Abhängigkeit davon, dass immer mehr investiert, produziert und konsumiert werden muss.
Und die dritte Dimension?
Den Standpunkt teile ich selbst nicht, aber in der Degrowth-Bewegung ist relativ stark verankert, dass es sich um eine soziale Bewegung handelt. Eine Bottom-Up-Bewegungen, die Alternativen schafft. Ich selber würde eher sagen, Degrowth ist eine analytische und alternative Perspektive.
Aber gibt es diese Analyse und Erkenntnis nicht schon seit 50 Jahren?
Die ‚Grenzen des Wachstums‘ haben vor allem auf die Ressourcenübernutzung abgezielt. Der systemische, kapitalistische Wachstumszwang – also Profit um des Profitwillens – war weniger stark im Vordergrund. Das war eher eine Modellbeschreibung, die allerdings sehr wichtig war. Aber die Degrowth-Perspektive bezieht sich sehr stark auf eine andere Debatte der siebziger Jahre. Damals haben André Gorz und Ivan Illich argumentiert, dass Wachstum um des Wachstumswillens ein Problem ist. Die Wurzel der aktuellen Degrowth-Debatte liegt also durchaus in den siebziger Jahren.
Ist Degrowth das beste Mittel, um die Folgen der Klimakatastrophe noch einzuschränken?
Degrowth bedeutet, wir müssen den kapitalistischen Wachstumsimperativ zurückdrängen. Es braucht einen Rückbau der ökonomischen Logik von ‚Wachstum, Wachstum, Wachstum‘. Diese Erkenntnis wird heute breit geteilt wird. Nicht nur von den Investoren und vom Management, sondern auch von Beschäftigten und Gewerkschaften und vom Staat. Das ist die eine Dimension. Die andere ist der materielle Rückbau, bei der es weit weniger Konsens gibt. In bestimmten Bereichen – bei der Produktion und Nutzung von Automobilien, dem Flugverkehr, der industriellen Landwirtschaft, der schnell verbrauchbaren Güter und der billigen Kleidung – muss zurückgebaut werden. Wir brauchen ein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, das Wohlstand mit weniger materiellen Gütern sichert. Das heißt aber durchaus, dass wir im Bildungsbereich, im Gesundheitsbereich, im Bereich on ökologischer Ernährung und im öffentlichen Verkehr wachsen müssen.
Den Energiesektor haben Sie gar nicht erwähnt.
Klar ist, dass wir wegmüssen von der fossilen Energieproduktion. Die muss drastisch zurück- und in die Richtung der Erneuerbaren Energie umgebaut werden. Aber wir sollten uns nichts vormachen: Das ist kein Nullsummenspiel. Der Energieverbrauch muss insgesamt gesenkt werden. Wir kriegen das nur mit dem Ausbau Erneuerbarer Energien nicht hin. Das zeigen alle Studien. Deshalb ist das Mantra des „grünen Wachstums“ unehrlich.
Weniger zu produzieren, wäre eine Kehrtwendung im jetzigen Wirtschaftssystem. Wo sehen Sie Chancen, dass es klappen könnte? Welche Sektoren machen Ihnen Mut?
Wir müssen den Mobilitätsbereich so umbauen, dass wir wegkommen von der Fixierung auf das Automobil und auf den Flugverkehr. Das ist ja nicht nur eine Frage des Verkehrsträgers. Die Raumstruktur muss ebenfalls geändert werden. Viele Leute müssen aus den Innenstädten von Wien oder Hamburg wegziehen, weil die Mieten zu teuer sind und müssen dann jeden Tag sechzig Kilometer pendeln. Im Bereich der Ernährung wissen wir, dass wir aus der energieintensiven, industriellen Landwirtschaft rausmüssen. Hin zu einer ökologischen Landwirtschaft, die – da sollten wir uns nichts vormachen – arbeitsintensiver ist. Wir benötigen langlebige Kleidungsstücke und andere Güter. Das ist alles Degrowth. Das wird in bestimmten Bereichen Investitionen generieren, aber mittelfristig bedeutet das erst einmal den Rückbau der Automobilindustrie, der industriellen Landwirtschaft und der billigen Kleidungsindustrie. Es gibt genug Beispiele, die aus meiner Sicht Mut machen. Es ist auch eine Frage der politischen Rahmenbedingungen und der ökonomischen Macht. Welche Akteure setzen sich durch?
Gibt es denn für so viele Menschen CO₂-neutrale und langlebige Klamotten?
Das ist Change by Design, ein Umbauprozess. Der ist nicht von heute auf morgen möglich. Dafür braucht es passende Rahmenbedingungen wie ein Billigfleischverbot oder wirkungsvolle Lieferkettengesetze, damit es keine Billigklamotten gibt. Die Infrastrukturen müssen grundlegend umgebaut werden, etwa ein Rückbau von Straßen. Nicht als Verbot, sondern als gesellschaftlichen Umbau, der Regeln braucht, der aber auch Kreativität und ein Wollen bei der Politik, den Unternehmen und den Menschen braucht.
Für einen Hersteller wie Primark käme das aber einem Verbot gleich.
Ich würde es eben nicht Verbot nennen, sondern verbindliche gesellschaftliche Regeln. So wie wir heute Regeln haben, dass es keine Sklaverei gibt oder dass ich nicht mit einem Panzer durch die Innenstadt fahren darf, braucht es auch Regeln für eine gute Weltwirtschaft. Das wäre beispielsweise ein angewandtes Lieferkettengesetz, sozial-ökologische Standards in den Produktionsländern ermöglicht – und deren Einhaltung. Dann sind die Billigmarkenhersteller dafür mitverantwortlich, dass die Menschen in Bangladesch einen fairen Lohn bekommen. Sonst brauchen wir nicht über Veränderung und sozial-ökologischen Umbau reden, wenn wir diese Mechanismen nicht in den Blick nehmen.
Mit dem Europäischen Green Deal gibt es durchaus Bemühungen, diesen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel herbeizuführen.
Erst einmal finde ich am European Green Deal gut, dass es eine radikale Problemdiagnose gibt. Wir sind wirklich in trouble, was die Klimakrise und die Ressourcenprobleme angeht. Das Projekt der Dekarbonisierung, die Idee von einer Kreislaufwirtschaft und der Wandel zu einer ökologischen Landwirtschaft finde ich gut. Meine Kritik geht dahin, dass der Europäische Green Deal in einer Idee vom grünem Wachstum verhaftet ist. Er stellt weder die ökonomischen Machtverhältnisse nicht infrage, noch dass Europa völlig selbstverständlich auf die Ressourcen der Welt zurückgreift.
Mit welcher Nonchalance nun Wasserstoff im Senegal oder in Ostafrika produziert werden soll, Lithium in Chile zum „weißen Gold“ wird. Prinzip: Wer zahlt, schafft an. Wenn ich mir die konkrete Umsetzung ansehe, fällt mir auch auf, dass die EU in ihrer gemeinsamen Agrarpolitik weiterhin einen Großteil der Gelder in die industrielle Landwirtschaft investiert hat. Und das ist der größte EU-Budgetposten. Das bedeutet, Butterberge und Milchseen, Export Hühnerfleisch, was die lokalen Märkte in Afrika kaputt macht.
Die USA und China streben ebenfalls „Klimaneutralität“ an. Was ist der Begriff wert?
Man muss unterscheiden. Eine starke Klimaneutralität würde bedeuten, die Wirtschaft wirklich zu dekarbonisieren, ohne woanders zu CO₂ zu kompensieren. Das ist ein großes Thema. Europäische Unternehmen kaufen sich über Aufforstungsprojekte im Regenwald frei. Das ist aber schwache Klimaneutralität. Dazu gehört auch die Debatte um technologische Lösungen wie das Einfangen und Einlagern von CO₂ . Viele nennen das Greenwashing.
Beispielsweise beim Thema Wasserstoff.
Wenn jetzt Wasserstoff in Afrika hergestellt wird, dann ist die Frage zu welchen Bedingungen, Ist es grüner Kolonialismus oder haben die Länder wirklich was davon? Ich bin angesichts der Machtverhältnisse bisher skeptisch.
Wäre es aus rein ökologischer Sicht sinnvoll?
Eine starke Klimaneutralität gibt es nur durch eine Reduktion des Energieverbrauchs. Grünes Wachstum führt aber zu einer Zunahme. Denkt man an die Digitalisierung, den geplanten E-Auto-Boom und Wasserstoffpläne für den Flugverkehr, das wird das nicht gehen. Ernsthafte Politik in Richtung Klimaneutralität, die auch international solidarisch ist, sehe ich aktuell nicht. Es dominiert die globale kapitalistische Konkurrenz. Das sehen wir zwischen China, den USA und Europa – und die Länder des globalen Südens sind Objekte der Ausbeutung. Und das wird nicht infrage gestellt.
Seltene Erden kommen aus China. Lithium aus Chile. Das ist Outsourcing von Umweltschäden. Wie sieht die Lösung aus?
Rückbau. Weniger Energie- und Ressourcenverbrauch. Es ist ja in erster Linie ein quantitatives Problem. Erst später kommt das politische, das qualitative hinzu.
Was meinen Sie damit?
Der Handel mit Rohstoffen läuft extrem ungleich. Die Länder im globalen Süden haben durchaus ein Interesse daran, ihre Rohstoffe zu verkaufen, steigen dabei aber sehr schlecht aus. In den Ländern profitieren meist Oligarchen und ein bisschen die Mittelschicht. Man könnte das als ‚periphere, imperiale Lebensweise‘ bezeichnen. Es bleibt eben hochgradig ungleich und es hilft nicht, die Gesellschaften dort solidarisch und ökologisch umzubauen. Deswegen ist es absurd, jetzt in Ost- und Westafrika Wasserstoff herzustellen und hierher zu transportieren, dabei aber nichts oder allenfalls symbolisch etwas gegen die Energiearmut vor Ort zu tun. Es braucht eine Reorganisierung der Wirtschaftsbeziehung, um auf Augenhöhe zu agieren. Die OPEC ist eine entsprechende Machtform. Ein solches Kartell bräuchte es auch für Lithium und andere Rohstoffe, damit sie ökologisch und sozial verträglich abgebaut werden und den Ländern was bringen.
Während wir einen Rückbau brauchen, sind diese Länder wirtschaftlich aber noch lange nicht so weit. Sie müssen erst einen gewissen Wohlstand erreichen.
Mein Punkt wäre, an der Lebensqualität anzusetzen, nicht zu sagen „aber die Länder im Süden, die sollen wachsen dürfen“. Dass ‚gute Mobilität‘ nicht gleichbedeutend ist mit einem großen Auto. Das ‚gute Ernährung‘ nicht automatisch hohen Fleischkonsum bedingt. Auch nicht in China oder Brasilien. Ich will diesen Ländern nichts vorschreiben. Wer bin ich denn? Aber es muss Initiativen geben, damit beispielsweise die chinesische Bevölkerung diesen Wahnsinnskonsum überdenkt und andere Lebensbedingungen hat. Denn der aktuelle Produktivismus und Konsumismus schafft auch in China eine enorme Ungleichheit. Das meine ich nicht moralisierend, sondern sehr politisch. Es muss uns gelingen, ein anderes Wohlstandsmodell zu schaffen. „Der Süden“ wird dann möglicherweise wachsen im Sinne einer Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen. Aber nicht durch Palmölplantagen, von denen nur ein paar Oligarchen profitieren.
Wie balanciert man denn jetzt die Herausforderungen aus, Wirtschaft, Soziales und Ökologie zusammenzubringen, ohne in der Klimakatastrophe zu enden?
Es ist erst einmal ein Problem, dass wir diese drei Bereiche getrennt denken. Das ist ein wirkliches Dilemma der Nachhaltigkeitsdiskussion. Es wird so getan, als wären Ökonomie, Soziales und Ökologie voneinander getrennt und hätten eigene Logiken. Das Problem ist, dass es gegeneinander ausgespielt wird – „Jetzt, im Kampf gegen die Klimakrise gibt es weniger Geld für Soziales.“ Und im Kapitalismus ist die Ökonomie dann die stärkste Säule, doch das bleibt oft unhinterfragt. Eine kritische Perspektive argumentiert: Diese Dominanz muss zurückgedrängt werden. In die ökonomische Logik muss eingebaut werden, dass die Wirtschaft nicht die Natur übernutzt. Dass sie die Beschäftigten nicht ausbeutet und die Konsument:innen nicht mit Billigschrott überhäuft. Das wäre aus meiner Sicht die Logik des Ausbalancierens.
Dafür muss ich, wie Sie es schon haben durchklingen lassen, die Definition von Wohlstand ändern.
Um es etwas zuzuspitzen: Es gibt drei Szenarien, wie Wohlstand verhandelt wird. Das erste ist ein autoritäres Weiter-so – wir halten unsere Wohlstandsinseln im globalen Norden und verteidigen die imperiale Lebensweise. Das ist durchaus relevant, wenn man sich die Forderungen einiger Parteien anschaut, Regierungsprojekte wie das von Donald Trump. Das zweite Szenario ist der Wohlstand eines grün modernisierten Kapitalismus. Das Versprechen, dass man mit einem E-Autos und ein bisschen Öko-Food so weiter machen kann wie bisher. Kein Missverständnis: Darum wird intensiv gerungen und vielen Ansätze würden wirklich Verbesserungen bringen. Aber es bleibt in der Logik des grünen Wachstums und stellt die imperiale Produktions- und Lebensweise nicht grundlegend infrage. Das dritte Szenario wäre eine solidarische Postwachstumsgesellschaft, die ein gutes Leben für alle ermöglicht.
Das ist ein Wohlstandsmodell, das sehr stark die sozial-ökologischen Infrastrukturen setzt. Sich also nicht darauf konzentriert, was man individuell hat, sondern darauf, was einem das gute Leben ermöglicht. Das ist ein großer Unterschied. Denn der öffentliche Verkehr erlaubt mir ein gutes Leben – nicht das Auto per se. Wir können in Deutschland und Österreich an eine Erfahrung anknüpfen, die angelsächsischen Länder und viele des globalen Südens so nicht haben. Wir haben einen starken öffentlichen Sektor. Dank starkem Gesundheits- und Bildungssektor ist es selbstverständlich, dass die öffentliche Infrastruktur da ist. Während ich in den USA für eine gute Schule oder Krankenversorgung bezahlen muss. Die Frage einer guten öffentlichen Daseinsvorsorge ist zentraler Punkt eines guten Lebens.