Es war eine einzige Party, die Spanien 2019 gefeiert hat. Rund 84 Millionen ausländische Gäste machten in dem Land Urlaub und brachten 92 Milliarden Euro mit. Inländische Tourist:innen noch gar nicht mit eingerechnet. Die Branche beschäftigte zu diesem Zeitpunkt 2,8 Millionen Menschen, die 14 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) beitrugen. Doch schon damals gab es Stimmen, die auf das sandige Fundament hinwiesen.
„Es gab immer schon Strukturprobleme im Tourismussektor. Das Problem war, dass vor der Pandemie diese Branche boomte. Etwas, das gut funktioniert, wollte die Regierung nicht ändern“, merkt Gonzalo Fuentes an. Er ist Leiter der Sektion Tourismus der Gewerkschaft Comisiones Obreras (CCOO) in Spanien. Der kurzfristige Boom geht auf einen anderen Wirtschaftsschock zurück: „Die Wirtschaftskrise von 2009 führte zu einer Reform der Arbeitsmarktpolitik im Jahr 2012. Seitdem laufen die Kollektivverträge automatisch aus, wenn sie nicht neu ausgehandelt werden. Selbst Branchentarifverträge, die vor der Arbeitsmarktreform Mindestvereinbarungen waren, konnten nach der Reform durch Betriebsvereinbarungen in ihren sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen herabgesetzt werden. Der Kündigungsschutz wurde gelockert, was zu einer größeren Arbeitsplatzunsicherheit geführt hat.“
Verdiente eine Reinigungskraft im Hotel vor dem Jahr 2012 rund 1.330 Euro, waren es nach der Reform nur noch 735 Euro. Die neuen Regelungen trafen auf Strukturen, die mit ganz anderen Voraussetzungen gewachsen waren. In den 1970ern und 80ern kamen Arbeiter:innen aus Europa und Südamerika nach Spanien und blieben einfach da. Weil die Arbeit einträglich war. Plötzlich hatten sie prekäre Jobs. Etwas, auf das die spanische Jugend keine Lust habe. Wer gut ausgebildet ist, der verlasse das Land, so Fuentes.
In Österreich gab es im Jahr 2019 die gleiche Party. Ausländische Tourist:innen trugen fast 21 Milliarden Euro ins Land. Die touristische Wertschöpfung lag mit direkten und indirekten Effekten bei 29,7 Milliarden Euro und trug 7,5 Prozent zum BIP bei, rechnet das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) vor.
Doch auch hierzulande hat die glänzende Fassade längst erste Risse bekommen. Denn natürlich ist auch in Österreich der Tourismus von Saisonarbeiter:innen abhängig. Gerade einmal 45 Prozent kommen von hier. Jede:r Fünfte aus Osteuropa, jede:r Siebte aus einem Drittstaat außerhalb der Europäischen Union. Wie prekär deren Arbeitsplätze tatsächlich sind, wurde in der Corona-Krise deutlich. Weil nur Anspruch auf Arbeitslosengeld hat, wer innerhalb der vergangenen zwei Jahre 52 Wochen in die Sozialversicherung eingezahlt hat, bekamen viele keine Leistungen, als im Rahmen der Pandemiebekämpfung der Tourismus zum Erliegen kam.
Der heimische Tourismus muss mehr Sensibilität beim Thema Klimawandel entwickeln.“
Franz Prettenthaler, Direktor des Instituts für Klima, Energie und Gesellschaft
Dazu kommt der Klimawandel, den die Branche meist nur mit immer neuen Provisorien beantwortet. „Der heimische Tourismus muss mehr Sensibilität bei diesem Thema entwickeln. Man hat das lange Zeit ignoriert und die zusätzlichen Beschneiungskapazitäten als Qualität verkauft. Aber mangelnde Sensibilität bei diesem Thema kommt beim Kunden gar nicht mehr gut an“, urteilt Franz Prettenthaler, Direktor des Instituts für Klima, Energie und Gesellschaft am Joanneum in Graz und Mitherausgeber des Buches „Tourismus und Klimawandel“.
Prettenthaler merkt jedoch an, dass der Klimawandel bislang noch keine ökonomischen Auswirkungen auf den Tourismus gehabt habe: „Die Bereitschaft, auf Kunstschnee Ski zu fahren, ist ständig gewachsen, und die Wetterabhängigkeit und die Naturschneeabhängigkeit haben abgenommen. Die neuen Angebote werden angenommen.“ Dazu komme zumindest im Wintertourismus ein Mangel an Alternativen. „Österreich galt bis vor Kurzem noch als besonders gefährdet, weil die Skigebiete niedrig gelegen sind. Wir sehen aber, dass auch internationale Skigebiete stark betroffen sind, weil dort die Beschneiungsmöglichkeiten nicht gegeben sind.“
Andere Faktoren hätten auf Österreich einen größeren Einfluss gehabt. Beispielsweise die Digitalisierung. Sie habe zu Konzentrationstendenzen geführt. „Tourismus-Hotspots werden zu immer hotteren Spots, weil Social-Media-Plattformen die Wahrnehmung der ohnehin stark frequentierten Plätze verstärkt.“
Doch abseits der Berge zwingt der Klimawandel die Tourismusbranche zum Umdenken. Sizilien hat im August 2021 mit 48,8 Grad Celsius einen europäischen Temperaturrekord gemeldet. Die Sommermonate Juli und August sind mittlerweile in vielen Gebieten so heiß, dass die Tourist:innen auf die Schultersaison ausweichen – also die Monate vor und nach der vermeintlichen Hauptsaison. Der demografische Wandel unterstützt diese Tendenz. Immer mehr Menschen haben keine Kinder mehr im Haushalt und müssen auf die Schulferien keine Rücksicht nehmen.
Nur weil die Auswirkungen der Klimakatastrophe noch nicht im Geldbeutel der österreichischen Tourismusbranche spürbar sind, heiße das aber nicht, dass nicht gehandelt werden müsse. „Fakt ist, dass der österreichische Tourismus möglichst schnell zu einem klimaneutralen Produkt werden muss“, ermahnt Prettenthaler. Manche Lösungen sind naheliegend – die Umstellung von Ölheizungen auf eine umweltfreundlichere Variante zum Beispiel –, andere verlangen ein grundsätzliches Umdenken der Unternehmer:innen.
Die Sommermonate Juli und August sind mittlerweile in vielen Gebieten so heiß, dass die Tourist:innen auf die Schultersaison ausweichen.
Auch das habe die Corona-Pandemie gezeigt. Zwar seien in dieser Zeit die Nächtigungen von ausländischen Tourist:innen um 41 Prozent zurückgegangen, die Transportemissionen seien aber um 80 Prozent eingebrochen. Prettenthaler rechnet vor, dass Gäste aus Asien, den USA und Australien nur 6,4 Prozent der Nächtigungen ausmachen würden, sie aber aufgrund der Anreise für die Hälfte aller Emissionen verantwortlich wären. Und weiter: „Wenn die Familie aus Köln am Abend vor dem Urlaub in ein Steak-Restaurant geht, verursacht sie dabei mehr CO2 als mit der Anreise nach Österreich per Auto.“
Sich auf Kund:innen zu konzentrieren, die zum Skifahren nicht erst um die halbe Welt fliegen müssen, sind sogenannte „low hanging fruits“. Also Ziele, die erreichbar sind, ohne teure Projekte umsetzen zu müssen. Für komplexere Ideen gibt es unter anderem den Aufbau- und Resilienzplan. Weil die EU einerseits bis zum Jahr 2050 klimaneutral werden möchte und andererseits gerade in einer Wirtschaftskrise im Zusammenhang mit einer globalen Pandemie steckt, werden Projekte im Bereich des Strukturwandels massiv gefördert, wenn sie die Wirtschaft – und damit den Tourismus – nachhaltiger und sozial gerechter machen. Doch die Krise spitzt sich zu. Jetzt droht eine Stagflation in Österreich.
Ballermann und Billigflüge
Vom Saulus zum Paulus könnte sich dabei Mallorca entwickeln. Vor der Pandemie kamen dort jährlich 29 Millionen Fluggäste und 1,6 Millionen Kreuzfahrtpassagier:innen an. 35 Prozent der Wirtschaftsleistung auf den Balearen hängen vom Tourismus ab. Der Regierung um Francina Armengol ist klar, dass Bettenburgen und Billigflüge die Insel zerstören werden. Längst lockt das Kleinod deswegen mit Golf- und Tennisplätzen reiche Kundschaft, die länger bleibt als für ein Trinkgelage. Sebastián Nadal, Vater von Tennisass Rafael Nadal, hat auf der Insel sogar die „Rafael Nadal Academy“ gegründet und wirbt auf der ganzen Welt um die Stars von morgen. Sogar ein ATP-Turnier findet mittlerweile auf Mallorca statt.
Die Unternehmer:innen und Kund:innen haben die Zeichen der Zeit erkannt. Seit dem Jahr 2003 hat sich die Zahl der Ausländer:innen, die auf Mallorca leben, auf 240.000 verdoppelt. Es werden internationale Schulen eröffnet, die sich am britischen und französischen Schulsystem orientieren. Abseits des Ballermanns spielen deutschsprachige Angebote kaum noch eine Rolle. Stattdessen hat die amerikanische Künstler:innen-Boheme die Insel für sich entdeckt. Im Jahr 2020 fand sogar die „Artfair Mallorca“ statt.
Ein Wandel, den Fuentes auch in anderen Tourist:innenregionen anstreben möchte. Die Zeit hält er für ideal: „Als die Pandemie ausbrach, wurden die von den Gewerkschaften und anderen Organisationen der Zivilgesellschaft angeprangerten Missstände deutlich. Damit eröffnete sich die Möglichkeit, Pläne vorzulegen und konkret darüber zu verhandeln, wie die strukturellen Probleme des Tourismus gelöst werden können. Denn die Pandemie hat gezeigt, dass wir so nicht weitermachen können.“
Um einen solchen Plan zu entwerfen, hat die CCOO mit fünf großen Umweltorganisationen (Greenpeace, WWF, Ecologistas en Acción, SEO/BirdLife und Friends of the Earth) zusammengearbeitet und die Schwachstellen im System aufgezeigt. Die klare Handlungsempfehlung ist, dass die Angebote nicht aus-, sondern umgebaut werden müssen. Die Grenzen in Bezug auf die Natur und das kulturelle Erbe müssten berücksichtigt werden.
Tourismus werde in Zukunft nur dann erfolgreich sein, wenn er den Beschäftigten eine gewisse Qualität der Arbeitsplätze bietet, die ökologischen Ressourcen und die biologische Vielfalt bewahrt und eine Emissionsreduzierung umsetzt. „Es geht darum, ein Modell zu finden, bei dem auf die Natur geachtet wird, das mit den EU-Geldern finanzierbar ist und das im Tourismusbereich nachhaltige Arbeitsplätze sichert“, so Fuentes. Und das alles nicht mehr auf dem Rücken wirtschaftlich Benachteiligter. „Es kann nicht so weitergehen, dass der Tourismus nur sehr wenigen Menschen Reichtum bringt.“
Was für den Sommer- und Strandtourismus in Spanien gilt, muss auch das oberste Ziel der österreichischen Skigebiete werden. Prettenthaler fordert vor allem die Politik auf, die Rahmenbedingungen zu verbessern. Vor allem im Bereich der Mobilität sei noch viel zu tun. Die Gebiete müssten für Anwohner:innen und Tourist:innen leicht und klimaneutral erreichbar sein. Unternehmer:innen sollten glaubwürdig konkrete Ziele kommunizieren und sie auch umgehend angehen. Ein klares Bekenntnis zur baldigen Klimaneutralität würde schließlich auch bei potenziellen Kund:innen gut ankommen.
Ob es etwas Schlechtes ist, dass die Tourismusbranche keinen Winter oder Sommer mehr wie früher erleben wird, hängt von den Betrieben ab. Sie haben es in der Hand, die zukünftigen Urlaube besser zu machen, als sie jemals waren.
Vier Fakten zu Billigfliegern
In einem Sektor, der so auf Kostenersparnis getrimmt ist wie die Tourismusbranche, ist es unvermeidbar, dass Kund:innen enttäuscht von der Leistung sind. Falls diese überhaupt erbracht wurde. Mit den Trends zu Billigfluglinien und digitalen Buchungsportalen hat sich dieses Problem verschärft.
1 / So führte die Arbeiterkammer beispielsweise einen Prozess gegen eine Fluggesellschaft, bei der einerseits ein Online-Check-in nicht möglich war, andererseits der Check-in am Flughafen zwischen dreißig und fünfzig Euro extra kostete, wie Gabriele Zgubic-Engleder, Abteilungsleiterin Konsumentenpolitik der Arbeiterkammer Wien, berichtet.
2 / Im Rahmen der Corona-Krise kam es außerdem zu einer Welle an Beschwerden, weil sich Fluglinien weigerten, den Kaufpreis zurückzuerstatten. „Seit März 2020 verzeichneten die AK-Beratungsstellen in ganz Österreich rund 50.000 Beschwerden zu diesem Thema“, erklärt Zgubic-Engleder. Entsprechend fordert sie auch, dass die Praxis der Vorauszahlung geändert werden muss. Das Geld sollte erst am Tag des Fluges fällig werden.
3 / Doch auch die Politik müsse reagieren. Da die meisten Probleme mit Fluggesellschaften auftreten – deren Angebote aus Umweltgründen immer stärker in die Kritik geraten –, müssten attraktivere Bahnverbindungen geschaffen werden. Die öffentliche Förderung der Bahn spiele hierbei eine große Rolle.
4 / Wer die Streitigkeiten mit Reiseunternehmen minimieren wolle, sollte ein paar Grundregeln beachten. Kund:innen sollten beispielsweise nicht bei Portalen buchen, sondern bei den Fluglinien oder Hotels direkt. So könne die Verantwortung nicht von einer zur nächsten Partei geschoben werden. Auch ist es für Konsument:innen wichtig, ihre Rechte zu kennen, im Zweifel sollten die Expert:innen vom Konsumentenschutz der Arbeiterkammer hinzugezogen werden.