Tirol hat in den vergangenen Jahren einen regelrechten Boom erlebt. „Ab dem Jahr 2008 gab es eine Flucht ins Betongold. Die Niedrigzinsphasen auf dem Kapitalmarkt befeuerten das, und ein Run auf Wohnimmobilien als Anlageobjekt begann“, erklärt Gschwentner. Von jährlich 6.200 Wohneinheiten im Jahr 2021 wuchs das Bauvolumen auf 7.000. Bei diesen Zahlen sind aber auch Einfamilienhäuser dabei. Betrachtet man nur Wohnanlagen – also Gebäude mit drei oder mehr Wohnungen – wird der Beton-Boom deutlicher. Aus rund 2.700 Wohnungen im Jahr 2013 wurden 3.400 im Jahr 2021.
Völlig losgelöst in Tirol
Eigentlich ist das gut, denn immer mehr Wohnraum sollte zu sinkenden oder zumindest stagnierenden Wohnkosten führen. Doch der Immobilienmarkt ist völlig entkoppelt von solchen Logiken. Die Preise schossen in die Höhe. Laut Statistik Austria war Tirol im Jahr 2021 mit durchschnittlich 9,30 Euro pro Quadratmeter Wohnraum hinter Salzburg (10,10 Euro) und Vorarlberg (9,80 Euro) das drittteuerste Bundesland in Österreich. Wer in Innsbruck aktuell eine frei finanzierte Wohnung mieten will, zahlt 13,90 Euro pro Quadratmeter. In Kufstein sind es 11,40 Euro.
Der Gegenentwurf zur Rendite-Gier sind gemeinnützige Bauträger. Davon gibt es in Tirol insgesamt acht, NHT ist einer davon. Wer es schafft, als Mieter:in eine solche Wohnung zu ergattern, zahlt oftmals nicht einmal die Hälfte. In Innsbruck liegen die NHT-Mieten bei 5,2 Euro pro Quadratmeter (63 Prozent Einsparung), in Kufstein bei 5 Euro (56 Prozent Einsparung). Diese enorme Differenz macht auch klar, warum landesweite Durchschnittspreise eine eher unpräzise Orientierungshilfe sind. Allein lebende Menschen zahlen in Innsbruck für kleinere Wohnungen schon 20 Euro pro Quadratmeter, so Gschwentner.
Mulit-Epizentren
Bei der Entwicklung von Immobilienpreisen ist das Stadt- auch das Epizentrum. Als Nächstes folgt der Speckgürtel, dann umliegende Regionen. Tirol ist jedoch bei Tourist:innen sehr beliebt, und die Naherholungsgebiete verteilen sich über das gesamte Bundesland. „Zunächst wurde Innsbruck kaum mehr leistbar, dann der Speckgürtel, der sich immer weiter ausgedehnt hat. Nach dem Großraum Innsbruck kamen die touristisch interessanten Gebiete wie Kitzbühel, Zillertal, Ötztal und St. Anton, in denen das Gleiche passierte. Jetzt gibt es kaum noch Gebiete, in denen es günstige Wohnungen zu kaufen gibt“, zeichnet Gschwentner die Entwicklung nach. 15.000 Euro pro Quadratmeter schocken in Kitzbühel niemanden mehr.
Darunter leiden die Tiroler:innen. In einem Investitionsleitfaden für den Immobilienkauf in Tirol schreibt das „Handelsblatt“ unter dem Punkt „Was deutsche Interessenten beachten müssen“ folgende Erkenntnis: „Bei Einheimischen haben die Preissteigerungen der Ferienimmobilien teilweise Unmut ausgelöst. Sie befürchten, auf dem Immobilienmarkt nicht mehr zum Zug zu kommen.“
Das hat sich auch politisch niedergeschlagen: „Die Gemeinden sind restriktiver geworden. In der letzten Gemeinderatswahl stand leistbares Wohnen sehr im Fokus. Seitdem treten Gemeinderät:innen und Bürgermeister:innen bei Bauprojekten von Investor:innen stark auf die Bremse“, erklärt Gschwentner. Der Hintergrund ist, dass Bauland knapp wird. Um Preise anbieten zu können, die sich die Menschen in Tirol leisten können, darf ein Quadratmeter Bauland nicht mehr kosten als 300 Euro. „Je mehr Anlageobjekte gebaut werden, desto schwerer ist es für gemeinnützige Bauträger, ihre Projekte umzusetzen. Der Grundstücksmarkt ist ziemlich ausgetrocknet – eine Folge des Baubooms“, so der NHT-Geschäftsführer weiter. Deswegen sind auf dem freien Markt rund 700 Euro pro Quadratmeter zumindest nicht unüblich.
Auf rechtlichen Instrumenten spielen
Die Gemeinden müssen also helfen. „Es gibt Instrumente der Bodenpolitik und Raumordnung, die wir schon länger diskutieren. Es kann ja nicht sein, dass man mit Eigentum tun und lassen darf, was man will“, fordert Leonhard Plank. Er ist Experte im Forschungsbereich Finanzwissenschaften und Infrastrukturpolitik am Institut für Raumplanung der TU Wien. Dabei geht es um aktive Widmungspolitik oder Zweitwohnsitz-Verbote. Plank nennt ein solches Maßnahmenpaket „eine ‚institutionalisierte Mietpreisbremse‘. Ziel ist es, langfristig die Bautätigkeit und Bereitstellung gemeinnützigen Wohnraumes zu fördern.“
Natürlich sind die Gemeinden in Tirol sehr viel aktiver geworden in den vergangenen Monaten. Auf Landesebene gehen die Maßnahmen gegen die steigenden Immobilienpreise aber kaum über Lippenbekenntnisse hinaus. Zuletzt forderte Tirols Landeshauptmann Anton Mattle (ÖVP) eine Erleichterung bei der Wohnkreditvergabe. Die Finanzmarktaufsicht fordert, dass Kreditnehmer:innen 20 Prozent Eigenmittel aufbringen müssen und maximal 40 Prozent des Haushaltseinkommens für die Tilgung aufwenden dürfen. „Der Druck gegenüber der Finanzmarktaufsicht muss erhöht werden. Denn ich will, dass Tirol ein Land der Eigentümer:innen ist, nicht der Mietabhängigkeit“, polterte Mattle.
Selektive Wahrnehmung
Das Problem sieht Mattle darin, dass Interessent:innen schwer Kredite bekommen – und nicht darin, dass sie deshalb schwer Kredite bekommen, weil die Preise hoch und die Einkommen niedrig sind. Tirol liegt beim Einkommen im Ländervergleich auf dem letzten Platz. Im Durchschnitt bleiben Tiroler:innen 1.380 Euro netto pro Monat. Einem Pärchenhaushalt stehen also netto 2.760 Euro zur Verfügung. Es dürfen also durchschnittlich 1.104 Euro für die Tilgung eines Kredits verwendet werden. Laut Statistik Austria kostet eine Wohnung mit 80 Quadratmetern in Tirol im Schnitt 274.000 Euro. Das Pärchen muss also Eigenmittel in Höhe von 54.800 Euro haben. Laut Daten der Österreichischen Nationalbank (OeNB) braucht das Tiroler Pärchen rund zehn Jahre, um diese Summe zu sparen. Jetzt müssen sie noch einen Kredit über 219.200 Euro aufnehmen. Bleiben die Kreditzinsen gleich, hat das Pärchen nach 53 Jahren die Wohnung abbezahlt. Mattles Vorschlag funktioniert also nicht einmal dann, wenn er ohne Nebenkosten abläuft und das Pärchen tatsächlich zu den Tiroler:innen gehört, die genug Geld zum Sparen haben.
Freies, aber unleistbares Tirol
Plank hat mit seinen Kolleg:innen Antonia Schneider und Justin Kadi die Studie „Wohnbauboom in Wien 2018 bis 2021“ veröffentlicht. Einige Erkenntnisse lassen sich auf andere Bundesländer übertragen. „Die Studie zeigt, dass die Miete im geförderten Wohnbau nur halb so hoch ist wie auf dem freien Wohnungsmarkt. Der wird für weniger gut betuchte Gruppen zunehmend unleistbar“, erklärt Plank im Interview mit Arbeit&Wirtschaft. Die Problematik in Tirol macht das sehr deutlich.
Wohnen ist teuer – Mieter:innen kämpfen mit unsicheren Wohnverhältnissen und befristeten Mietverträgen. Auf der anderen Seite sprudeln die Mieteinnahmen der Immowirtschaft – sie sind seit 2008 um über 100% gestiegen. /thread
— AK Österreich (@Arbeiterkammer) March 1, 2022
Auch Gschwentner priorisiert andere Lösungen, beispielsweise die großzügigere Unterstützung des geförderten Wohnungsbaus. „Die Landesregierung nimmt genug Geld aus der Wohnbauförderung ein. 100 Millionen beträgt der Wohnbauförderungsbeitrag von Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen. Dazu kommen etwa 200 Millionen Euro pro Jahr aus alten Darlehen, die zurückgezahlt werden. Das sind in Summe 300 Millionen Euro. Für die Wohnbauförderung gibt die Landesregierung aber nur 250 Millionen aus. Der Rest verschwindet im Budget.“
Vom Bund wünscht sich der NHT-Geschäftsführer, dass er die Versorgungslage mit Baumaterialien in geregelte Bahnen lenkt. Viele Rohstoffe seien nicht teuer, weil sie selten geworden seien, sondern weil sie im Rahmen von Preisspekulationen zurückgehalten würden. Das Wirtschaftsministerium könnte beispielsweise mit Preiskommissionen gegensteuern.