Zum Tag der Arbeit gehörten früher Mut und Risikobereitschaft. Käthe Leichter schrieb in der Haft für ihre Söhne ihre Kindheits- und Jugenderinnerungen nieder. Das Manuskript konnte aus dem Gefängnis geschmuggelt werden und ist uns so erhalten geblieben. Darin schildert sie, wie sie als kleines Mädchen aus vornehmem Bürgerhaus den 1. Mai in den Jahren nach 1900 erlebte.
Tag der Arbeit: nicht immer angstfrei
Dieser Bericht ist ein besonders wichtiger Beitrag zur Geschichte des 1. Mai. Denn er räumt mit der weit verbreiteten Vorstellung auf, die Mai-Aufmärsche der sozialdemokratischen Arbeiter:innen seien zu Kaisers Zeiten immer so friedlich verlaufen wie in Wien 1890. Die Realität sah anders aus. Viele Unternehmen drohten mit Entlassung. Teilnehmer:innen mussten mit Verletzungen und Verhaftungen rechnen. Erst als die demokratische Republik den Tag der Arbeit 1919 zum Staatsfeiertag erklärte, wurde er für die Arbeitnehmer:innen zum Fest ohne Angst.
Erst als die demokratische Republik den „Tag der Arbeit“ 1919 zum Staatsfeiertag erklärte, wurde er für die Arbeitnehmer:innen zum Fest ohne Angst.
Bericht von Käthe Leichter zum Tag der Arbeit
„Einmal im Jahr aber ist der große Tag der Polizei. Da gleicht der sonst so friedliche Platz einem Heerlager. Pferde stehen auf dem Platz zueinandergereiht, ihre Reiter kommen plötzlich aus der Wachstube, sitzen auf und reiten im Sturm davon. Immer öfter werden nachmittags solche Reiterattacken auf den Kai hinaus geritten, wo man Menschenmassen in der Richtung zum Prater ziehen sieht. Einzelne Verhaftete werden eingebracht und bis zur Nacht ist das Haus eine Polizeikaserne.
Es ist der 1. Mai. Vormittags haben wir vom Balkon aus elegante Wagen zur Mai-Auffahrt fahren gesehen, aber nachmittags ist die Straße wie verwandelt. An Stelle der Fiaker einfach gekleidete Menschen, mit roten Nelken im Knopfloch, ernst oder singend. Jedenfalls ist eine unheimliche Nervosität in der Luft, die wir Kinder spüren. Wir dürfen am Nachmittag des 1. Mai nicht ausgehen. ‚Es ist zu viel Gesindel auf der Straße, und man kann in einen Wirbel hineinkommen‘, heißt es.“
Die Polizei reitet ihre Attacken
„So bin ich, wie so oft, auf der anderen Seite der Barrikade, in dem Haus, das von der Polizei behütet ist und von dem aus sie ihre Attacken auf die Arbeiter reitet. Ich verstehe noch nicht die Bedeutung des 1. Mai, aber die Erklärung des Vaters, dass die Arbeiter einmal im Jahr ihren Feiertag feiern wollen, genügt mir. Warum sollen nur die Reichen am Vormittag in den Prater fahren dürfen, von dem der Vater immer wieder erzählt, dass Kaiser Josef ihn für alle geöffnet hat? Warum reitet die Polizei da keine Attacken?“
Warum sollen nur die Reichen am Vormittag in den Prater fahren dürfen …? Warum reitet die Polizei da keine Attacken?
„Und ohne zu ahnen, dass ich später alljährlich an der Spitze meines Bezirkes glücklich und stolz mit denen da draußen marschieren werde, krampft sich mir jedes Mal, wenn die Polizei ausreitet, das Herz zusammen.“