Arbeit&Wirtschaft: Deutschland ist kein streikfreudiges Land, doch im März kam es zu einem „Super-Warnstreik“. Warum gingen so viele Menschen auf die Straße?
Martin Burkert: Wir gehören zu den Ländern, die im internationalen Vergleich weniger Streiktage haben. Hierzulande gehen wir sehr verantwortungsbewusst mit dem scharfen Schwert „Streik“ um. In der Pandemie sind alle Züge gefahren, seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine wurden eine Million Vertriebene nicht nur befördert, sondern auch betreut. Das Neun-Euro-Ticket hat Beschäftigte im öffentlichen Verkehr überfordert. In der letzten Tarifrunde in der Pandemie haben wir mit 1,5 Prozent Lohnplus unseren Beitrag geleistet. Nun droht die Gefahr, dass wir in der Tarifentwicklung abgekoppelt werden. Eine Fahrzeugreinigungskraft beginnt mit 2.100 Euro brutto, Buslenker:innen mit 2.200, Kundenbetreuer:innen mit 2.500 Euro brutto. Solche Beträge sind gerade in Ballungszentren bei der gegenwärtigen Inflation, den Mieten und den Lebenshaltungskosten zu niedrig. Es ist ein historischer Moment, um deutlich zu machen, dass Mobilität systemrelevant ist.
Gibt es abseits der Inflation weitere Forderungen, die Sie aktuell durchsetzen wollen?
Wir haben schon viele Modelle, etwa mehr Urlaubstage gegen einen leicht geringeren Lohn. Die Diskussion rund um eine 4-Tage-Woche gibt es auch, die Arbeitgeber:innenverbände lehnen das ab. Der Hauptgrund ist die arbeitsplatzsichernde geringe Lohnsteigerung in der Pandemie in Kombination mit über elf Prozent Inflation. Die Entlastungspakete, die wir haben, reichen nicht aus. Bei uns wollen die Leute aber jetzt Geld sehen – das ist unsere Hauptforderung. Es geht uns vor allem um die kleinen und mittleren Lohngruppen. Darum wollen wir 650 Euro bzw. 12 Prozent mehr im Monat. Es gibt eine große Solidarität und Überzeugung, dass wir das tun müssen.
Der Staat hat aufgrund der Corona- und Energiekrise viel Geld an die Unternehmen ausgeschüttet. Macht das die Beschäftigten nicht nachdenklich?
Investitionen in die Infrastruktur sind Zukunftsinvestitionen. Macht der Finanzminister die Schatulle auf? Es ist notwendig. Altkanzler Schmidt sagte einmal: „Wir können uns nur eines leisten: Bundesbahn oder Bundeswehr.“ Aber jetzt gibt es 45 Milliarden Euro zusätzlich für die Schieneninfrastruktur bis 2027. Das ist auch notwendig. Der Zustand der 36.000 Schienenkilometer lässt sich nicht mehr kaschieren.
Streikt der öffentliche Verkehr, fällt das allen auf. Nehmen Sie sich auch als Speerspitze wahr?
Es gibt Branchen, die einen großen Einfluss auf das öffentliche Leben haben: ÖPNV, Bahn, Fluglots:innen. Aber man stelle sich einmal vor, die Lohnbuchhalter:innen würden streiken. Dann gibt es kein Geld am Konto. Was ich damit sagen will: Es gibt viele Berufsgruppen, die einen großen Einfluss auf unser Leben haben. Entscheidend ist, dass man verantwortungsvoll mit dem Streikrecht umgeht. Wenn wir streiken, dann steht alles. Das weiß man und Streik ist bei uns auch das letzte Mittel.
Sehen Sie den Streik auch als generellen Kampf um Rechte von Arbeitnehmer:innen?
Wir sehen es in Großbritannien: Dort wird das Streikrecht von bestimmten politischen Kräften stark bedroht, und ich orte hier auch schon derartige Tendenzen. Das wäre massiv Demokratie-gefährdend.
Frankreich: Streiks gegen die Pensionsreform
Arbeit&Wirtschaft: Wie kam es zu diesen historisch großen Protesten in Frankreich?
Pierre Coutaz: Es ging nicht nur um die Arbeitsbedingungen, sondern um das Anheben des Pensionsalters. Dieses Regierungsprojekt wurde Ende vorigen Jahres angekündigt, seit 19. Jänner gibt es die größten Streiks und Demonstrationen in den letzten 50 Jahren. Es waren teilweise mehr als dreieinhalb Millionen Menschen, die auf die Straße gingen. Wir erleben die größte soziale Bewegung seit 1968.
Im Kampf gegen die Pläne der Regierung Macron sind aber nicht nur Gewerkschaften beteiligt.
Das ist auf jeden Fall so. Man muss schon 55 Jahre in die Vergangenheit schauen, um so viel Beteiligung zu finden. Neben Demonstrationen sind es Streiks, etwa in der chemischen Industrie, in der Logistik, der Erziehung, dem Gesundheitswesen bis hin zur Müllabfuhr.
In anderen Ländern ist das Pensionsalter höher. Warum entzündet sich die Wut an diesen Regierungsplänen?
Natürlich benutzt die Regierung das höhere Antrittsalter in anderen Ländern als Argument. Aber man kann die Systeme nicht vergleichen. In anderen Ländern können Menschen früher in Pension gehen. Diese Wahlmöglichkeit gibt es in Frankreich nicht, wir müssen sowohl ein bestimmtes Alter als auch Beitragsjahre leisten. Wir können nicht früher gehen, nicht einmal mit weniger Geld. Das ist alles soziale Gewalt, der sich die Menschen nicht mehr länger aussetzen wollen. Es gibt zudem einige verborgene Gründe. In den letzten 30 Jahren mussten die Französ:innen eine lange Liste an Maßnahmen schlucken, die das Sozialsystem zersetzt haben. Diese Reform zerschlägt den nächsten Teil des Sozialsystems. Nun reicht es. Auch die Vorgänger von Präsident Macron tragen große Schuld.
Menschen lehnen also nicht nur diese Pensionsreform ab, sie wollen auch all ihre Rechte zurück, die ihnen in den vergangenen Jahren genommen wurden?
Wir verteidigen unsere Idee einer modernen Gesellschaft. Das ist eine fundamentale Frage, wie Leben und Arbeit in Zukunft verbunden werden können. Es sind sehr viele junge Menschen, die dafür eintreten – für sie ist die Pensionsfrage ja weit weg und wenig konkret. Sie wollen dieses Gesellschaftsmodell ändern, es geht um ein neues Verhältnis der Arbeitswelt zum Menschen.
Die Regierung geht dabei sehr hart gegen die Demonstrierenden und Streikenden vor, oder?
Das Verhalten der Regierung und der Ordnungskräfte ist ein direkter Angriff auf die Demokratie. Diese Elite interessiert sich nicht für die Wünsche der Menschen. 94 Prozent der arbeitenden Menschen wollen diese Reform nicht, in der Gesamtgesellschaft sind es 74 Prozent. Präsident Macron hat nicht einmal die notwendige Anzahl an Abgeordneten auf seiner Seite. Er nutzte eine Möglichkeit der Verfassung aus, die es ihm erlaubt, den Willen des Parlaments zu ignorieren. Aus einer sozialen Krise wird so eine Demokratiekrise. Sein Verhalten führt uns direkt in den Wahlsieg der extremen Rechten. Und die Polizeigewalt bei den vergangenen Kundgebungen ist schon jetzt entsetzlich. Wer die Gewerkschaft als Säule der Demokratie missachtet, ist faschistisch.