Arbeit & Wirtschaft: Es gibt eine große Streikwelle in Großbritannien. Warum genau jetzt?
Simon Dubbins: Das sind die größten Proteste seit vier Jahrzehnten. Der offensichtlichste Grund war die hohe Inflation mit über zehn Prozent. Wie überall ist diese bei Lebensmittel und Energie viel höher, das betrifft die „arbeitenden Leute“ gleich mehr. Doch die Gründe gehen tiefer, 30, 40 Jahre zurück. Das beginnt bei Jahrzehnten der De-Industrialisierung mit dem Aufkommen von schlecht bezahlten Dienstleistungsberufen. Hinzu kommt, dass wir im Nachhall der Finanzkrise von 2008 einen beispiellosen Verfall der Reallöhne erleben. Dabei handelt es sich um die längste Periode seit der Industrialisierung. Und ganz obendrauf kommt noch eine Austeritätspolitik, die nur mit Griechenland, Portugal oder Spanien vergleichbar ist. Als nun die Inflation massiv stieg, hat sie unerbittlicher zugeschlagen als in anderen Ländern. Der Spielraum der Menschen war schon vor der aktuellen Teuerungskrise klein, da schlagen auch geringste Preissteigerungen voll durch. Jedes Land hat Covid erlebt, jedes Land spürt die Energiekrise und die höheren Preise. Hierzulande kommt zu allem noch der Brexit dazu, der die Wirtschaft sehr hart trifft. Es geht bei weitem nicht nur um einen etwas höheren Monatslohn, die Menschen sind schlichtweg verzweifelt.
Was ist Ihrer Ansicht nach der Kipppunkt? In Deutschland und Österreich ging es nun in erster Linie um Tariflohnrunden, allerdings auch eine stärkere Vertretung von Arbeitnehmer:innenrechten, auch hinsichtlich politischer Parteien.
Wir müssen wie erwähnt bis in die Ära Thatcher zurückgehen, um an die Wurzel des Übels zu kommen und all diese Punkte mitbedenken, die ich angesprochen habe. Die Wirtschaft schrumpft, es gibt weniger Investments, es gibt Probleme mit den Grenzen, Logistik, Handel und Lieferketten. Die Arbeitgeber verdienen sich dennoch eine goldene Nase und verspüren oftmals überhaupt keinen Druck, mehr zu zahlen. Der wird zudem von der Regierung nicht ausgeübt. Die fährt einen harten Kurs und sagt: 4,5 Prozent Plus und keinen Penny mehr. Die Menschen können ihre Rechnungen nicht mehr zahlen, sie können gar nicht anders als zu streiken und zu protestieren.
Wäre ein politischer Wechsel ein Ausweg oder ist Sparpolitik zu tief im Mindset aller Politiker:innen verankert?
Ich wünschte, es wäre so einfach, aber das ist es nicht. Das Vereinigte Königreich ist da hinsichtlich freier, deregulierter Marktwirtschaft eher mit den USA zu vergleichen. Das ist mit Kontinentaleuropa nicht zu vergleichen. Zentraleuropa oder Skandinavien setzen viel mehr auf Regulierung, obwohl es auch dort etwa in Deutschland mit Gerhard Schröder die sogenannte „Neue Mitte“ gab. Aber man ist nie so weit gegangen wie bei uns, die Privatisierungen haben uns amerikanisiert. Das hat Auswirkungen. Als Thatcher an die Macht kam, hatten 70 Prozent der Beschäftigten einen Kollektivvertrag. Jetzt sind es 23. Flächenverträge wurden zerstört, es gibt nur noch „Hausverträge“. Das Verhandlungssystem ist sehr fragmentiert. Wir sehen derzeit übrigens Streiks in der Gesundheit, Erziehung, im Verkehr. Obwohl hier viel privatisiert ist, gibt die Regierung noch viel vor, gestreikt wird im öffentlichen Sektor, aber auch im privaten – die sind aber eher auf Fabriksebene und nicht so sichtbar. Ich bin seit 25 Jahren bei der Gewerkschaft und habe noch nie so viele Streiks gesehen wie derzeit. Sie sind überall, aber eben nicht so groß. Es gibt einige Situationen, in denen der Arbeitgeber letztlich einlenkt und in letzter Minute noch die Arbeitsniederlegung verhindert. Die Streikwelle ist also eher nur ein Teil des Bildes. Wenn man diese Politik über 30 Jahre durchzieht, dann knallt es eben so wie jetzt.
Die Arbeitgeber verdienen sich dennoch
eine goldene Nase und verspüren oftmals
überhaupt keinen Druck, mehr zu zahlen.
Simon Dubbins
Konkret: Würde eine Labour-geführte Regierung zu einer Verbesserung der Situation beitragen?
Ob die Labour-Partei das ändern würde? Wir hofften es, aber auch schon als Tony Blair an die Macht kam. Ja, er gab mehr Geld für Gesundheit und Bildung, es gab kleine Änderungen bei Mindestlohn oder Gewerkschaften. Aber er war immer ein Anhänger des Marktes und der Ansicht, der Staat könne nicht alles regeln. Jeremy Corbyn hatte da schon einen sozialdemokratischeren Ansatz, Keir Starmer ist eher dem Blair-Lager zuzurechnen. Generell gibt es bei ihm wohl mehr Verständnis für unsere Anliegen, aber er möchte sich nicht zu sehr von den Konservativen entfernen. Es ist wie eine Zwangsjacke, weil wenn er an die Macht kommt, hat er wenig Spielraum.
Welchen Einfluss haben Gewerkschaften nach jahrzehntelanger Rechtebeschneidung?
Der Organisationsgrad beträgt rund 22 Prozent, das entspricht ungefähr der Abdeckung durch Tarifverträge. Im letzten Jahr nahm er etwas zu. Ich möchte aber noch eine persönliche Geschichte anbringen. Ich komme aus einer Gewerkschafterfamilie und habe viel Arbeitskampf miterlebt, auch den Bergarbeiterstreik 1984/85: Es ist eigentlich beachtenswert, wie die Gewerkschaften diese Zeiten überlebt haben, mit all den Thatcher’schen Angriffen auf unsere Rechte – die Blair nie rückgängig gemacht hat. Diese Attacken waren heftiger als in anderen Ländern, man wollte uns nicht nur attackieren, sondern zerstören. Der Umstand, dass nach wie vor rund ein Viertel der Beschäftigten in Gewerkschaften organisiert ist, ist ein ziemlicher Erfolg, wenn man sich Länder wie die USA oder Frankreich ansieht.
Und welche Auswirkungen haben die Streiks?
Es ist wichtig zu wissen, dass die Mitgliedschaften in einigen strategischen Sektoren konzentriert sind; etwa im Transport- oder Gesundheitswesen. Wenn diese Sektoren Kampfmaßnahmen ergreifen, hat das nach wie vor einen großen Effekt. Ich weiß nicht, ob die letzten und kommenden Monate die Menschen wieder mehr politisieren, aber im Normalfall stellen sich die Menschen in solchen Situationen die Frage: Warum zum Teufel bin ich in dieser Situation? Warum werde ich so behandelt? Warum machen Unternehmen derartige Gewinne und ich bekomme bei elf, zwölf Prozent Inflation nur 4,5 Prozent Lohnerhöhung? Die Unternehmen machen Milliardengewinne und ich kann meine Rechnung nicht mehr zahlen – es ist wirklich ein Momentum. Im Gegensatz zu früheren Streiks ist die öffentliche Unterstützung heute groß – selbst wenn die Schulen geschlossen sind und Pfleger:innen und Ärzt:innen streiken. Die Menschen sehen, dass Beschäftigte im Gesundheitswesen während Corona alles gegeben haben und noch immer sehr schlecht bezahlt werden. Die Menschen da draußen sehen, dass die Beschäftigten ihre Arbeit nicht niederlegen wollen, sie müssen also verzweifelt sein. Ich bin zumindest optimistisch, dass wir zurückkämpfen können.
Kurzfristig geht es der Protestbewegung aber dennoch um fairere Löhne?
Es ist momentan sehr fluide und dynamisch. Ich habe so etwas noch nicht erlebt. Der Brexit mit den Problemen in Nordirland, Schottland, der Situation bei der Regierungspartei mit dem dritten Premierminister – es ist sehr unruhig. Natürlich lebt der Rest der Welt in einer schwierigen Situation, aber der Brexit verkompliziert eben noch einmal alles. Jetzt ist der Wille, für die eigenen Rechte einzustehen, so hoch wie lange nicht mehr. Kurzfristig stimme ich zu, dass es um fairere Löhne und gute Lebensbedingungen geht. Langfristig müssen wir den Fokus wirklich darauf legen, dass das ganze Streikrecht nicht noch weiter ausgehöhlt wird. Wir haben eines der am meisten restriktiven Streikrechte der Welt. Sie wollten nicht nur nicht mit uns verhandeln, sie erlassen Gesetze gegen Kampfmaßnahmen. Und dann brauchen wir eine Labour-Partei, die nicht neutral ist. Der historische Auftrag ist es, auf der Seite der Arbeitnehmer:innen zu stehen. Die Gewerkschaften haben die Partei gegründet – sie müssen die Streiks unterstützen und eine andere Vision des Vereinigten Königreich präsentieren. Man hat den Menschen eine schöne neue Welt versprochen, wenn wir die EU verlassen. Es ist ein Desaster und niemand spricht darüber. Es gibt eine Menge Arbeit.
Es ist absolut klar, dass die Regierung
die Menschen nur dazu zwingen will,
wieder an die Arbeit zu gehen
und diejenigen zu „besiegen“, die streiken
Simon Dubbins,
Nun hat die Regierung das Streikrecht noch einmal eingeschränkt.
Das Gesetz ist ein weiterer Angriff einer Regierung auf die arbeitende Bevölkerung, die sich nicht um sie kümmert und ihre Rechte nicht respektiert. Wir haben wie erwähnt bereits die restriktivste Arbeitnehmerrechtsgesetzgebung in Westeuropa und jetzt führt die Regierung weitere Einschränkungen ein. Diese gelten für die Sektoren Verkehr, Gesundheit, Bildung, Brand- und Rettungswesen, Grenzkontrolle und Stilllegung von Kernkraftwerken. Es ist absolut klar, dass die Regierung – anstatt mit den Gewerkschaften zusammenzuarbeiten und nach Lösungen zu suchen – die Menschen nur dazu zwingen will, wieder an die Arbeit zu gehen und diejenigen zu „besiegen“, die streiken. Nach dem neuen Gesetz verfügt der Minister über einen großen Ermessensspielraum, das Streikrecht einzuschränken, und unter dieser Regierung wird er diesen Ermessensspielraum zweifellos in vollem Umfang nutzen.
Sie lehnen es also ab?
Die gesamte Gewerkschaftsbewegung ist strikt gegen diese neuen Einschränkungen. Die Regierung sagt, dass die Gesetze dazu dienen, die Öffentlichkeit vor Störungen und die Bildung von Kindern usw. zu schützen. Doch die Realität ist, dass sich die Gesundheits- und Bildungssysteme aufgrund der Ausgabenkürzungen der Regierung und des erschreckenden Personalmangels aufgrund niedriger Löhne und der Schwierigkeit, Personal zu rekrutieren in einer der schlimmsten Krisen befindet. Auch wegen der Ausgabenkürzungen der Regierung und des Personalmangels wegen der niedrigen Löhne. Und das jetzt, wo Menschen aus der EU nicht mehr die Möglichkeit haben, nach Großbritannien kommen und dort arbeiten. Die Dreistigkeit der Regierung ist absolut schockierend.