Die Gewerkschaftsinternationale UNI und das Web3D
Im Juni 2009 veranstaltete die Gewerkschaftsinternationale „UNI Global Union“ in Zypern ein Kommunikator:innen-Forum. UNI ist das globale Netzwerk der Angestelltenorganisationen und der Organisationen der Medienbranchen. Die Beschäftigten in ihrem Aktionsbereich waren die ersten Arbeitnehmer:innen, die vom großen Sprung in der digitalen Revolution Anfang der 2000er Jahre betroffen waren und ihn zum Teil aktiv mitgestalteten.
Es war die Zeit, in der Facebook, YouTube, Twitter und Co. gerade erst ihre Weltkarriere begannen. Neben den sozialen Medien galt am Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends das Web3D, die dreidimensionale Kunstwelt im Internet, unter Expert:innen als prägend für die Zukunft. Als Davide Barillari, der engagierte Betriebsrat von IBM Italien und Software-Spezialist, die Kolleg:innen in Zypern in die Welt des Web3D einführte, merkte er an: „In den kommenden Jahren werden immer mehr Menschen als Avatare in das Internet einsteigen … Die Arbeitnehmer:innen der Generation 2000plus und Hacker-Aktivist:innen werden neue online-Kämpfe organisieren.“
Das Internet darf keine gewerkschaftsfreie Zone sein
Für Barillari stand schnell fest: Die 3D-Welten seien weitaus mehr als Computerspiele, weil sie von den Usern mit Hilfe von Avatar:innen, ihren selbst gestalteten Repräsentant:innen, in der virtuellen Welt vertreten werden. Während die Gamer:innen bei den meisten Computerspielen in eine fremde Rolle schlüpfen, sind sie hier durch ihre:n Avatar:in sie selbst und so mit dem wirklichen Leben verknüpft.
- Digitale Rechte für Arbeitnehmer:innen, die über ihre Avatar:innen in virtuellen Welten eingesetzt werden.
- Eine neue Rechtsgrundlage für virtuelle Streiks und Online-Proteste.
- Unklarheiten hinsichtlich Verschwiegenheitspflicht und Arbeitszeiten der virtuellen Netzarbeiter:innen müssen beseitigt werden.
- Klärung der Rechte, des Eigentums und des Identitätseigentums der Avatar:innen.
Die 3D-Welten seien zunächst ein neues Umfeld für wirtschaftliche Aktivitäten, für den Verkauf und Online-Dienste wie Amazon oder eBay, für Konsument:innen-Kontakte und die Entwicklung neuer Wirtschaftsformen Das würde auch immer mehr Arbeitnehmer:innen betreffen, die via Avatar:innen als „virtuelle Webarbeiter:innen“ eingesetzt würden, etwa in einem virtuellen Rechenzentrum. Eine weitere Funktion der 3D-Welten bestehe als Umfeld für gemeinsame Aktivitäten und Zusammenarbeit, für Meetings, Diskussionen und eben auch Spiele als eine von vielen Möglichkeiten. Sie hätten aber auch Bedeutung als neues Lernumfeld und zur Gestaltung von Modellen und Simulationen für Architektur, Kunst und Wissenschaft.
Diese neuen Welten und die neuen sozialen Netzwerke würden für die Gewerkschaften neue Chancen, aber auch neue Herausforderungen bringen. Die Gewerkschaftsforderungen: Die neuen Wirtschafts-, Arbeits- und Lebenswelten des Internet dürfen keine gewerkschaftsfreie Zone sein.
Unternehmen und Gewerkschaft in „Second Life“
Eine gar nicht so kleine Zahl an Unternehmen nutzten „Second Life“ als Marketing-Plattform, aber auch als besondere Form des Internethandels – es existiert eine eigene SL-Währung, die in Dollars tauschbar ist. Der Elektronikriese IBM, der an der Entwicklung der virtuellen Welt federführend beteiligt gewesen war, nutzte sie außerdem intensiv als Experimentierfeld. Zur SL-Residenz von IBM gehörte neben der Konzernzentrale, einem Konferenz- und einem Schulungszentrum ein Rechenzentrummit mit einer – funktionierenden – Adaptierung des aus den 1960er Jahren stammenden „Systems/360“. In all diesen Einrichtungen arbeiteten von IBM-Mitarbeiter:innen aktivierte Avatar:innen, – daher die Gewerkschaftsforderung nach digitalen Rechten.
Als 2007 Lohnverhandlungen mit dem Management von IBM Italien scheiterten und die Arbeitnehmer:innen den folgenden Arbeitskampf auch in „Second Life“ führten, richtete UNI zusammen mit den Expert:innen von IBM als Stützpunkt für die Streikenden und ihre Sympathisant:innen die Gewerkschaftsinsel „Union Island“ ein. Kooperationspartner:innen bei dem Projekt, das 2008 voll aktiviert wurde, waren der britische Gewerkschaftsdachverband TUC (Trades Union Congress) und „New Unionism Network“, ein informeller Zusammenschluss von Gewerkschaftern aus Großbritannien, Deutschland und Italien. Das „New Unionism Network“ wollte „Themenführerschaft setzten, nicht nur auf sie reagieren“. Es ist vier Prinzipien verpflichtet: aktives Organisieren, Demokratie am Arbeitsplatz, Internationalismus und Kreativität. Das Netzwerk existiert auf Twitter und Facebook auch noch 2023, allerdings mit geringem Einfluss.
Nach dem Passieren der Anmeldung fand man in „Union Island“ viele Möglichkeiten, um gewerkschaftliche Aktionen und Veranstaltungen vorzubereiten, einschließlich einer gut ausgestatteten Bibliothek, einer Arena für Großveranstaltungen, Konferenzräumen und Ausstellungsmöglichkeiten. Die virtuelle Gewerkschaftswelt stand weltweit allen UNI-Mitgliedsorganisationen offen, es war aber auch ausdrücklich erwünscht, nicht organisierte Arbeitnehmer:innen zu Diskussionen und Workshops einzuladen.
Der erste „Telestreik“
Auch der Aufruf zur Unterstützung der italienischen IBM-Belegschaft im Kampf gegen Lohndumping richtete sich 2007 nicht nur an Gewerkschaftsmitglieder, sondern an alle SL-User:innen und darüber hinaus an alle User:innen sozialer Medien, die mit den Streikenden sympathisierten. Aber auch Redakteur:innen von Gewerkschaftszeitungen überwanden ihre manchmal noch sehr großen Berührungsängste gegenüber dem Web und riefen zur Teilnahme auf.
Der Auslöser für den Arbeitskampf: Als Antwort auf die Forderung nach einer Lohnerhöhung strich das IBM-Management die bisher üblichen Erfolgsprämien. Daher stand auf den T-Shirts, die Streikende und teilnehmende Unterstützer:innen ihren Avatar:innen anziehen konnten: „IBM ist gegenüber den Forderungen seiner Arbeitnehmer:innen taub.“ Auch Transparente mit den Forderungen und Protesten der Belegschaft von IBM Italien wurden auf „Union Island“ ausgegeben.
„In Solidarity with IBM Workers“
Das Experiment war in doppelter Hinsicht ein voller Erfolg. Erstens was die Beteiligung betrifft: Fast 2000 Menschen aus aller Welt schickten ihre Avantar:innen zur Besetzung der IBM-Konzernzentrale in „Second Life“, – in einer Zeit, in der sich die Menschen noch keineswegs so selbstverständlich im Internet bewegten wie heute. Zweitens, und das war entscheidend, hinsichtlich der gewerkschaftlichen Ziele: Das Management gab nach, der italienische Konzernbetriebsrat konnte sich beim Abschluss des neuen Tarifvertrags durchsetzen und der Geschäftsführer von IBM Italien musste zurücktreten.
In einer von UNI Europa Ende 2008 veröffentlichten Studie wertete der Autor, der Schriftsteller und Journalist Andrew Bibby, die Aktion im Web3D als Denk- und Handlungsanstoß für die internationale Gewerkschaftsbewegung: „Die Second-Life-Demonstration zeigt auf dramatische Weise das Potenzial neuer webbasierter Tools für die Gewerkschaften auf. Gleichzeitig kann aber das Ungewohnte der Aktion als Kritik an den Gewerkschaften aufgefasst werden, die sich nicht zügiger und aktiver mit dem im Internet stattfindenden Wandel befassen.“
Ein virtueller 1. Mai – lange vor Corona
In den etwa zweieinhalb Jahren ihrer Existenz war „Union Island“ ein sehr aktiver Hotspot gewerkschaftlicher Interessenvertretung. Unter anderem nutzten die IBM-Belegschaften „Second Life“ auch 2008 und 2009 für Protestaktionen. In Italien wurde die Aktion 2008 von Barillo Kohnke koordiniert, dem Vertreter Italiens im Europäischen Betriebsrat von IBM. Der Protest richtete sich gegen die Auslagerung von tausenden Jobs in Subunternehmen ohne Einbindung des Betriebsrats. Bei IBM in der Türkei ging es um das Verhindern von Lohndumping während der Wirtschaftskrise um die Anerkennung der Gewerkschaft als Verhandlungspartnerin, die vom Management jahrelang verweigert wurde. Ein anderes Beispiel für die Nutzung von „Union Island“ für Gewerkschaftsaktionen ist die Teilnahme an der weltweiten Kampagne der ITF,der Internationalen Transportarbeiterföderation, und von Amnesty International zur Befreiung des inhaftierten führenden iranischen Gewerkschafters Mansur Onsanloo.
Resignation darf kein Thema sein
Die Beteiligung an weltweiten Aktions- und Thementagen gehörte ebenfalls zum Profil der Gewerkschaftsinsel, zum Beispiel am „Welttag für menschenwürdige Arbeit“. Ein besonderes Event war ein sechs Tage dauerndes „Menschenrechtsfestival“ mit der polnischen Gewerkschaft Solidarnocs als Kooperationspartnerin aus Anlass des 60jährigen Jubiläums der UNO-Menschenrechtserklärung, di erstmals das Recht auf Gewerkschaften als Menschenrecht anerkannte. Auftritte von in SL aktiven Musiker:innen, Zusammentreffen und das Forcieren neuer Verbindungen zwischen Gewerkschafter:innen und Menschenrechtsaktivist:innen gehörten zum Programm. Deren Abschluss bildete eine große Diskussion mit UNI-Generalsekretär Philipp Jennings und Zuzanna Gorska, der Sozialpolitik-Expertin von Soldarnocs. Die Schlussfolgerung der Teilnehmer:innen am SL-„Menschenrechtsfestival“: Resignation dürfe kein Thema sein, denn es mache sehr wohl einen Unterschied, ob Gewerkschaften und gesellschaftliche Basisgruppen gemeinsam etwas gegen die Nachteile der Globalisierung und die vielfache staatliche Unterdrückung von Grundfreiheiten unternehmen oder nicht.
Die Second-Life-Demonstration zeigt auf dramatische Weise das Potenzial neuer webbasierter Tools für die Gewerkschaften auf. Gleichzeitig kann aber das Ungewohnte der Aktion als Kritik an den Gewerkschaften aufgefasst werden, die sich nicht zügiger und aktiver mit dem im Internet stattfindenden Wandel befassen.
Andrew Bibby 2008 in der von UNI Europa beauftragten Studie „Die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern und der soziale Dialog in der Welt des Web2.0
Die größte Aktion, die abgesehen von den IBM-Protesten auf „Union Island“ staatfand, war – wie bei einer Gewerkschaftsinitiative nicht anders zu erwarten – der virtuelle 1. Mai 2008. In der Einladung dazu hieß es: „Union Island wird Gastgeberin des allerersten virtuellen Mai-Tages sein, ein Tag des Lernens, des Netzwerkens und des Feierns, um Aktivist:innen der globalen Gewerkschaftsbewegung zusammenzubringen, wie es niemals zuvor möglich gewesen ist.“ Ein besonderes Anliegen war es, Gewerkschafter:innen die Bedeutung der Internet-Revolution zu vermitteln, ihnen Know-How für Aktivitäten im digitalen Raum mitzugeben und dazu Best-Practice-Beispiele aus aller Welt zur Verfügung zu stellen. Live-Musik mit einem SL-DJ durfte aber auch nicht fehlen.
Hausgemachte Probleme
2010, nach nur etwas mehr als zwei Jahren, war das Experiment „Union Island“ auch schon wieder zu Ende. Ein Grund lag darin, dass die die sozialen Netzwerke für die Interessenvertretung zunehmend mehr Bedeutung erlangten als die dreidimensionalen Welten. Avatar:innen wurden für Aktionen und Zusammenkünfte überflüssig, längst können ja Menschen ohne virtuelle Stellvertreter:innen im Web in Video-Konferenzen kommunizieren.
Ein zweiter Grund für das Schließen von „Union Island“ war allerdings nach der Erfahrung der Betreuer:innen des Projekts hausgemacht: Es sei, abgesehen von den paar Highlights, nie richtig vom Fleck gekommen Die Gewerkschaften hätten zu viel anderes zu tun gehabt und dazu sei die Personalknappheit gekommen, die eine intensive Betreuung der Chats und gemeinsame Aktivitäten blockiert hatte. Es war ja die Zeit der damals größten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren und sie erforderte die ganze Kraft der Gewerkschaftsbewegung, um den rauen Wind, der den Arbeitnehmer:innen entgegenblies, wenigstens abzuschwächen.
Wiederkehr der Avatar:innen?
Um 2010 ging der „Second Life“-Boom generell zu Ende und in den folgenden Jahren trennten sich immer mehr User:innen von ihrem „zweiten Leben“, nach 2015 überlegten die Betreiber die Einstellung. Allerdings blieb SL weiter vor allem für drei Bereiche von Interesse: für die Gamer:innen-Community, für das Testen neuer kommerzieller Möglichkeiten und für Forschung und Lehre an US-amerikanischen Universitäten mit Lehrprogrammen, Bibliotheken, Informationsangeboten usw. Auch etliche NGOs blieben weiter aktiv, den „Union Island“-User:innen wurde beim Close-Down empfohlen, auf deren „Inseln“ zu wechseln und sich dort weiter für Arbeitnehmer:inneninteressen einzusetzen.
Im Jahr der Corona-Pandemie mit seinen Kontaktverboten und Abstandsregeln war „Second Life“ wieder stärker gefragt. Viele Menschen schätzten die Möglichkeit, hier die soziale Distanz zu überwinden, sich ganz ohne Einschränkung mit Familienmitgliedern und Freund:innen zu treffen oder eine Veranstaltung zu besuchen, zumal die Avatar:innen weitaus „menschlicher“ und bei Wunsch dem:der jeweiligen User:in ähnlicher gestaltet werden konnten als zur Zeit von „Union Island“. Dazu kommt: das Instrument der Video-Konferenzen ist für weltweite Großveranstaltungen oder Aktionen und intensive Diskussionen zwischen einer großen Zahl an Teilnehmer:innen nicht besonders geeignet. Wenn US-Universitäten Teile ihrer E-Learning-Programme über SL durchführten, war das deshalb gut nachvollziehbar.
Daten-Gewerkschaften
Vielleicht wird die Arbeit mit Avatar:innen einmal auch für die Gewerkschaftsbewegung wieder eine brauchbare Aktionsmöglichkeit darstellen, etwa zur Interessenvertretung der Arbeitnehmer:innen entlang weltweiter Güterketten. Google-Chairman Eric Schmidt prophezeite, das Internet würde in absehbarer Zeit unser Leben so sehr durchdringen, dass wir es gar nicht mehr bemerken. Hier weitergedacht wäre auch eine Verschmelzung von realen Menschen und ihren Avantar:innen vielleicht nicht außerhalb des Möglichen.
Umso wichtiger ist es, dass die Interessenvertretungen der Arbeitnehmer:innen und aller anderen, die nicht zu den Nutznießer:innen der turbokapitalistischen Globalisierung zählen, die Warnungen hinsichtlich der Machtverhältnisse im Web und der damit verbundenen Datennutzung sehr ernst nehmen und Strategien zur Gegensteuerung entwickeln.
Alex Pentland, der als einer der sieben wichtigsten Computerwissenschaftler der Welt gilt, plädierte etwa am 2. September 2020 in einem „Standard“-Interview dafür, den Datenreichtum unter öffentliche Kontrolle zu stellen und im Interesse der Allgemeinheit, vor allem auch von wirtschaftlich benachteiligten Menschen einzusetzen. Um das durchzusetzen, müssten sich die Menschen in Daten-Gewerkschaften organisieren – wie es seit 150 Jahren die Gewerkschaften machen, um bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Die Gewerkschaften selbst, so wäre zu ergänzen, hätten hier im Bereich der Arbeitswelt eine Pionier:innenaufgabe.