Der erste „Telestreik“
Auch der Aufruf zur Unterstützung der italienischen IBM-Belegschaft im Kampf gegen Lohndumping richtete sich 2007 nicht nur an Gewerkschaftsmitglieder, sondern an alle SL-User:innen und darüber hinaus an alle User:innen sozialer Medien, die mit den Streikenden sympathisierten. Aber auch Redakteur:innen von Gewerkschaftszeitungen überwanden ihre manchmal noch sehr großen Berührungsängste gegenüber dem Web und riefen zur Teilnahme auf.
Der Auslöser für den Arbeitskampf: Als Antwort auf die Forderung nach einer Lohnerhöhung strich das IBM-Management die bisher üblichen Erfolgsprämien. Daher stand auf den T-Shirts, die Streikende und teilnehmende Unterstützer:innen ihren Avatar:innen anziehen konnten: „IBM ist gegenüber den Forderungen seiner Arbeitnehmer:innen taub.“ Auch Transparente mit den Forderungen und Protesten der Belegschaft von IBM Italien wurden auf „Union Island“ ausgegeben.
„In Solidarity with IBM Workers“
Das Experiment war in doppelter Hinsicht ein voller Erfolg. Erstens was die Beteiligung betrifft: Fast 2000 Menschen aus aller Welt schickten ihre Avantar:innen zur Besetzung der IBM-Konzernzentrale in „Second Life“, – in einer Zeit, in der sich die Menschen noch keineswegs so selbstverständlich im Internet bewegten wie heute. Zweitens, und das war entscheidend, hinsichtlich der gewerkschaftlichen Ziele: Das Management gab nach, der italienische Konzernbetriebsrat konnte sich beim Abschluss des neuen Tarifvertrags durchsetzen und der Geschäftsführer von IBM Italien musste zurücktreten.
In einer von UNI Europa Ende 2008 veröffentlichten Studie wertete der Autor, der Schriftsteller und Journalist Andrew Bibby, die Aktion im Web3D als Denk- und Handlungsanstoß für die internationale Gewerkschaftsbewegung: „Die Second-Life-Demonstration zeigt auf dramatische Weise das Potenzial neuer webbasierter Tools für die Gewerkschaften auf. Gleichzeitig kann aber das Ungewohnte der Aktion als Kritik an den Gewerkschaften aufgefasst werden, die sich nicht zügiger und aktiver mit dem im Internet stattfindenden Wandel befassen.“
Ein virtueller 1. Mai – lange vor Corona
In den etwa zweieinhalb Jahren ihrer Existenz war „Union Island“ ein sehr aktiver Hotspot gewerkschaftlicher Interessenvertretung. Unter anderem nutzten die IBM-Belegschaften „Second Life“ auch 2008 und 2009 für Protestaktionen. In Italien wurde die Aktion 2008 von Barillo Kohnke koordiniert, dem Vertreter Italiens im Europäischen Betriebsrat von IBM. Der Protest richtete sich gegen die Auslagerung von tausenden Jobs in Subunternehmen ohne Einbindung des Betriebsrats. Bei IBM in der Türkei ging es um das Verhindern von Lohndumping während der Wirtschaftskrise um die Anerkennung der Gewerkschaft als Verhandlungspartnerin, die vom Management jahrelang verweigert wurde. Ein anderes Beispiel für die Nutzung von „Union Island“ für Gewerkschaftsaktionen ist die Teilnahme an der weltweiten Kampagne der ITF,der Internationalen Transportarbeiterföderation, und von Amnesty International zur Befreiung des inhaftierten führenden iranischen Gewerkschafters Mansur Onsanloo.
Resignation darf kein Thema sein
Die Beteiligung an weltweiten Aktions- und Thementagen gehörte ebenfalls zum Profil der Gewerkschaftsinsel, zum Beispiel am „Welttag für menschenwürdige Arbeit“. Ein besonderes Event war ein sechs Tage dauerndes „Menschenrechtsfestival“ mit der polnischen Gewerkschaft Solidarnocs als Kooperationspartnerin aus Anlass des 60jährigen Jubiläums der UNO-Menschenrechtserklärung, di erstmals das Recht auf Gewerkschaften als Menschenrecht anerkannte. Auftritte von in SL aktiven Musiker:innen, Zusammentreffen und das Forcieren neuer Verbindungen zwischen Gewerkschafter:innen und Menschenrechtsaktivist:innen gehörten zum Programm. Deren Abschluss bildete eine große Diskussion mit UNI-Generalsekretär Philipp Jennings und Zuzanna Gorska, der Sozialpolitik-Expertin von Soldarnocs. Die Schlussfolgerung der Teilnehmer:innen am SL-„Menschenrechtsfestival“: Resignation dürfe kein Thema sein, denn es mache sehr wohl einen Unterschied, ob Gewerkschaften und gesellschaftliche Basisgruppen gemeinsam etwas gegen die Nachteile der Globalisierung und die vielfache staatliche Unterdrückung von Grundfreiheiten unternehmen oder nicht.
Die Second-Life-Demonstration zeigt auf dramatische Weise das Potenzial neuer webbasierter Tools für die Gewerkschaften auf. Gleichzeitig kann aber das Ungewohnte der Aktion als Kritik an den Gewerkschaften aufgefasst werden, die sich nicht zügiger und aktiver mit dem im Internet stattfindenden Wandel befassen.
Andrew Bibby 2008 in der von UNI Europa beauftragten Studie „Die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern und der soziale Dialog in der Welt des Web2.0
Die größte Aktion, die abgesehen von den IBM-Protesten auf „Union Island“ staatfand, war – wie bei einer Gewerkschaftsinitiative nicht anders zu erwarten – der virtuelle 1. Mai 2008. In der Einladung dazu hieß es: „Union Island wird Gastgeberin des allerersten virtuellen Mai-Tages sein, ein Tag des Lernens, des Netzwerkens und des Feierns, um Aktivist:innen der globalen Gewerkschaftsbewegung zusammenzubringen, wie es niemals zuvor möglich gewesen ist.“ Ein besonderes Anliegen war es, Gewerkschafter:innen die Bedeutung der Internet-Revolution zu vermitteln, ihnen Know-How für Aktivitäten im digitalen Raum mitzugeben und dazu Best-Practice-Beispiele aus aller Welt zur Verfügung zu stellen. Live-Musik mit einem SL-DJ durfte aber auch nicht fehlen.