Als in Second Life gestreikt wurde

Ein Avatar hält ein Schild und trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift "IBM is deaf to its employees demands". Symbolbild für den digitalem Streik in Second Life.
„IBM is deaf to its employees demands“: Der Streik in Second Life war Pionier:innenarbeit. | © UNI Global Union, IBM

Inhalt

  1. Seite 1 - Das Internet darf keine gewerkschaftsfreie Zone sein.
  2. Seite 2 - „In Solidarity with IBM Workers“
  3. Seite 3 - Und heute?
  4. Auf einer Seite lesen >
Virtuelle Demonstration, echter Arbeitskampf: Vor vierzehn Jahren lieferte sich die Gewerkschaftsbewegung in Second Life einen Schlagabtausch mit IBM. Was wurde aus diesem Testlauf gelernt?
Es war der internationalen Presse Schlagzeilen wert, als die Belegschaft von IBM Italien in der Kunstwelt „Second Life (SL) einen Lohnstreik zum Erfolg führte. Das deutsche Magazin „Stern“ schrieb: „Die Demonstration ist virtuell, der Arbeitskampf echt“. Die französische „Le Monde“ titelte „Das ist der virtuelle Kampf“. Der Redakteur der italienischen „La Stampa“ war überzeugt, der „Telestreik“ sei die logische Konsequenz aus der zunehmenden „Telearbeit“. Medien von Großbritannien bis Kanada, von Schweden bis Portugal, von der Schweiz bis Spanien brachten die Nachricht an prominenter Stelle. Wie kam es dazu? Warum ging die Gewerkschaftsbewegung diesen Weg nicht weiter? Und welche Erkenntnis lässt sich aus einem solchen Testlauf für neue Aktions- und Durchsetzungsmöglichkeiten im Interesse der Arbeitnehmer:innen ziehen?

Die Gewerkschaftsinternationale UNI und das Web3D

Im Juni 2009 veranstaltete die Gewerkschaftsinternationale „UNI Global Union“ in Zypern ein Kommunikator:innen-Forum. UNI ist das globale Netzwerk der Angestelltenorganisationen und der Organisationen der Medienbranchen. Die Beschäftigten in ihrem Aktionsbereich waren die ersten Arbeitnehmer:innen, die vom großen Sprung in der digitalen Revolution Anfang der 2000er Jahre betroffen waren und ihn zum Teil aktiv mitgestalteten.

Was ist UNI?
UNI ist das globale Netzwerk der Angestelltenorganisationen und der Organisationen der Medienbranchen. Die Beschäftigten in ihrem Aktionsbereich waren die ersten Arbeitnehmer:innen, die vom großen Sprung in der digitalen Revolution Anfang der 2000er Jahre betroffen waren und ihn zum Teil aktiv mitgestalteten.

Es war die Zeit, in der Facebook, YouTube, Twitter und Co. gerade erst ihre Weltkarriere begannen. Neben den sozialen Medien galt am Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends das Web3D, die dreidimensionale Kunstwelt im Internet, unter Expert:innen als prägend für die Zukunft. Als Davide Barillari, der engagierte Betriebsrat von IBM Italien und Software-Spezialist, die Kolleg:innen in Zypern in die Welt des Web3D einführte, merkte er an: „In den kommenden Jahren werden immer mehr Menschen als Avatare in das Internet einsteigen … Die Arbeitnehmer:innen der Generation 2000plus und Hacker-Aktivist:innen werden neue online-Kämpfe organisieren.“

Das Internet darf keine gewerkschaftsfreie Zone sein

Für Barillari stand schnell fest: Die 3D-Welten seien weitaus mehr als Computerspiele, weil sie von den Usern mit Hilfe von Avatar:innen, ihren selbst gestalteten Repräsentant:innen, in der virtuellen Welt vertreten werden. Während die Gamer:innen bei den meisten Computerspielen in eine fremde Rolle schlüpfen, sind sie hier durch ihre:n Avatar:in sie selbst und so mit dem wirklichen Leben verknüpft.

Zielsetzungen des UNI-Forum
  • Digitale Rechte für Arbeitnehmer:innen, die über ihre Avatar:innen in virtuellen Welten eingesetzt werden.
  • Eine neue Rechtsgrundlage für virtuelle Streiks und Online-Proteste.
  • Unklarheiten hinsichtlich Verschwiegenheitspflicht und Arbeitszeiten der virtuellen Netzarbeiter:innen müssen beseitigt werden.
  • Klärung der Rechte, des Eigentums und des Identitätseigentums der Avatar:innen.

Die 3D-Welten seien zunächst ein neues Umfeld für wirtschaftliche Aktivitäten, für den Verkauf und Online-Dienste wie Amazon oder eBay, für Konsument:innen-Kontakte und die Entwicklung neuer Wirtschaftsformen  Das würde auch immer mehr Arbeitnehmer:innen betreffen, die via Avatar:innen als „virtuelle Webarbeiter:innen“ eingesetzt würden, etwa in einem virtuellen Rechenzentrum. Eine weitere Funktion der 3D-Welten bestehe als Umfeld für gemeinsame Aktivitäten und Zusammenarbeit, für Meetings, Diskussionen und eben auch Spiele als eine von vielen Möglichkeiten. Sie hätten aber auch Bedeutung als neues Lernumfeld und zur Gestaltung von Modellen und Simulationen für Architektur, Kunst und Wissenschaft.

Diese neuen Welten und die neuen sozialen Netzwerke würden für die Gewerkschaften neue Chancen, aber auch neue Herausforderungen bringen. Die Gewerkschaftsforderungen: Die neuen Wirtschafts-, Arbeits- und Lebenswelten des Internet dürfen keine gewerkschaftsfreie Zone sein.

Unternehmen und Gewerkschaft in „Second Life“

Eine gar nicht so kleine Zahl an Unternehmen nutzten „Second Life“ als Marketing-Plattform, aber auch als besondere Form des Internethandels – es existiert eine eigene SL-Währung, die in Dollars tauschbar ist. Der Elektronikriese IBM, der an der Entwicklung der virtuellen Welt federführend beteiligt gewesen war, nutzte sie außerdem intensiv als Experimentierfeld. Zur SL-Residenz von IBM gehörte neben der Konzernzentrale, einem Konferenz- und einem Schulungszentrum ein Rechenzentrummit mit einer – funktionierenden – Adaptierung des aus den 1960er Jahren stammenden „Systems/360“. In all diesen Einrichtungen arbeiteten von IBM-Mitarbeiter:innen aktivierte Avatar:innen, – daher die Gewerkschaftsforderung nach digitalen Rechten.

  • Die IBM-Firmenzentrale in der „Second Life“-Welt. | (C) Foto Archivo

Als 2007 Lohnverhandlungen mit dem Management von IBM Italien scheiterten und die Arbeitnehmer:innen den folgenden Arbeitskampf auch in „Second Life“ führten, richtete UNI zusammen mit den Expert:innen von IBM als Stützpunkt für die Streikenden und ihre Sympathisant:innen die Gewerkschaftsinsel „Union Island“ ein. Kooperationspartner:innen bei dem Projekt, das 2008 voll aktiviert wurde, waren der britische Gewerkschaftsdachverband TUC (Trades Union Congress) und „New Unionism Network“, ein informeller Zusammenschluss von Gewerkschaftern aus Großbritannien, Deutschland und Italien. Das „New Unionism Network“ wollte „Themenführerschaft setzten, nicht nur auf sie reagieren“. Es ist vier Prinzipien verpflichtet: aktives Organisieren, Demokratie am Arbeitsplatz, Internationalismus und Kreativität. Das Netzwerk existiert auf Twitter und Facebook auch noch 2023, allerdings mit geringem Einfluss.

Ein Schild mit der Aufschrift "A virtual home for all UNI Unions: Launch of Union Island in Second Life." Symbolbild für einen Streiaufruf in Second Life.
Die Gründungsinformation zu „Union Island“: „Ein virtuelles Heim für alle UNI-Gewerkschaften – Start von Union Island in Second Life. | © UNI Global Union

Nach dem Passieren der Anmeldung fand man in „Union Island“ viele Möglichkeiten, um gewerkschaftliche Aktionen und Veranstaltungen vorzubereiten, einschließlich einer gut ausgestatteten Bibliothek, einer Arena für Großveranstaltungen, Konferenzräumen und Ausstellungsmöglichkeiten. Die virtuelle Gewerkschaftswelt stand weltweit allen UNI-Mitgliedsorganisationen offen, es war aber auch ausdrücklich erwünscht, nicht organisierte Arbeitnehmer:innen zu Diskussionen und Workshops einzuladen.

  • (C) UNI Global Union

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Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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