Aschauer-Nagl engagiert sich für Chancengerechtigkeit – das österreichische Bildungssystem hält sie für sehr ungerecht. „Es hängt viel von Bildungsgrad, Herkunft und Einkommen der Eltern sowie vom Lernumfeld ab. Schulkinder, deren Eltern nur Pflichtschulabschluss haben, liegen gegenüber Akademikerkindern nach acht Jahren um 27 Lernmonate zurück.“ Die Expertin plädiert für den AK-Chancenindex als Basis zur Mittelverteilung: Schulen mit vielen Kindern aus bildungsfernen Familien sollen mehr gefördert werden. Zudem fordert sie ein stärkeres Angebot an verschränkten Ganztagsschulen mit Lern- und Freizeitblöcken.
Geprägt hat Melitta Aschauer-Nagl ihre Arbeit in Brüssel, wo sie 1991 das Büro der Arbeiterkammer aufgebaut hat. „Wir haben Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit erreicht und uns erfolgreich eingesetzt, dass höhere österreichische Standards etwa im Konsumentenschutz erhalten bleiben und nicht auf EU-Durchschnitt gesenkt werden.“ Genau diese Besserstellung stelle nun die Regierung infrage, kritisiert sie. Zurück in Wien leitete sie von 1997 bis 2010 die Abteilung EU & Internationales, seither den Bereich Bildung.
Viel beschäftigt
Aschauer-Nagls Bereich umfasst Bildungseinrichtungen bis zur Hochschule. Ihre MitarbeiterInnen führen Studien durch, begutachten Lehrpläne und organisieren Berufsorientierung für Jugendliche durch Seminare, Planspiele und Messen. „Bei einer Messe im Herbst können 14-Jährige in viele Berufe hineinschnuppern.“ Kürzlich lag eine Verordnung zur Feststellung der Schulreife auf Aschauer-Nagls Tisch, die sie erfreut zur Kenntnis nahm. „Wenn das Kind seine Muttersprache altersgemäß spricht und alle anderen Voraussetzungen erfüllt, dann ist es schulreif. Damit geht die Bundesregierung von Deutsch als Schulreifekriterium im Interesse der Kinder ab.“
Auch die berufliche Aus- und Weiterbildung von ArbeitnehmerInnen zählt zu den Schwerpunkten. Im Vorjahr wurden bundesweit fünf Millionen Euro in den Bildungsgutschein investiert. Eine Maßnahme der Regierung empört Aschauer-Nagl: dass berufstätige Studierende ab dem Wintersemester 2018 Studiengebühren zahlen müssen, wenn sie die Mindeststudienzeit und Toleranzsemester überschreiten. „Das benachteiligt jene, denen die Eltern kein Studium zahlen können.“ Auf Aschauer-Nagls Schreibtisch häufen sich Anliegen, denn ihr Bereich umfasst viele Themen. Beim KonsumentInnenschutz geht es um Ansprüche der Passagiere bei Flugverspätungen, in der Kommunalpolitik um den Erhalt von Grünraum in der Stadt, MitarbeiterInnen der Geschichtsforschung wiederum interviewen im Gedenkjahr Zeitzeugen zur Geschichte der ArbeiterInnenbewegung.
Während des Gesprächs auf der Terrasse nimmt Aschauer-Nagl das alte Buch zur Hand. Es ist ihr Lieblingsbuch aus der AK-Bibliothek, eine Erstausgabe der Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“. „Marie Jahodas Team thematisierte erstmals das sinnstiftende Element von Arbeit und die sozialen Folgen von Arbeitslosigkeit.“ Bis heute lässt sich daraus (leider) noch viel ableiten.
Käthe Leichters Erbin
Eine starke Frau prägt auch die Abteilung Frauen und Familie in der AK Wien. Die gebürtige Oberösterreicherin Ingrid Moritz leitet die Abteilung inzwischen seit 20 Jahren. Sie trat damit ein großes Erbe an. „Käthe Leichter hat das Frauenreferat 1925 begründet, zeigte die Lebenswelt von Arbeiterinnen und ließ diese selbst zu Wort kommen“, erzählt Moritz. Zurzeit arbeitet ihr Team mit der Stadt Wien an einer Studie über Lebens- und Arbeitsbedingungen heutiger Industriearbeiterinnen. „Das knüpft an den Fragebogen von Käthe Leichter an“, so Moritz. Die Abteilung Frauen und Familie beschäftigt heute sechs MitarbeiterInnen, eine Assistenz und einen Lehrling. Leiterin Moritz erinnert sich zurück, als sie 1991 in dieser Abteilung begann. Damals wurde zwar eine Juristin gesucht, aber die Politikwissenschafterin versuchte es dennoch. „Beim Vorstellungsgespräch ging es um Mutterschutz. Obwohl meine Expertise stärker in der Entwicklungspolitik lag, habe ich überzeugt.“ Anfangs arbeitete sie als Beraterin. Die Themen von damals sind heute noch aktuell: Mutterschutz, Väterkarenz und Kinderbetreuungsgeld. Die Beratungstätigkeit ist nun in der Abteilung Arbeitsrecht gebündelt, Moritz’ Abteilung forscht und analysiert. Der Fokus erweiterte sich über die Jahre um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, den Gender-Pay-Gap, Diversität und Pflege, wofür es nun eine eigene Abteilung gibt.
Wer eine Stimme hat
An der Frauenpolitik der Regierung hat Moritz einiges zu kritisieren, so etwa Einsparungen bei Frauen- und Antidiskriminierungsprojekten. „Für den Familienbonus gab es 1,5 Milliarden Euro und bei einigen Projekten kürzt man 200.000 Euro. Viele Organisationen können so ihre Arbeit trotz ihrer wichtigen gesellschaftlichen Funktion nicht fortsetzen“, ärgert sich Moritz. Sie kritisiert, dass Schulungen von PolizistInnen durch MitarbeiterInnen von Gewaltschutzzentren gestrichen wurden. Das habe Symbolcharakter: „Es geht darum, wer hierzulande eine Stimme hat und wer nicht.“ Das spielt auch beim Thema Einkommen eine große Rolle – immer noch verdienen Frauen im Schnitt um 35 Prozent weniger als Männer.
Männer kommen unter Druck, länger zu arbeiten, und Frauen müssen Stunden reduzieren.Ingrid Moritz über den 12-Stunden-Tag
Seit Anfang September sind 12-Stunden-Tage möglich. Das hält Moritz für kontraproduktiv. „Männer kommen unter Druck, länger zu arbeiten, und Frauen müssen Stunden reduzieren.“ Das begünstige das Zuverdienstmodell. „Frauen brauchen eine eigenständige Existenzsicherung“, so die Expertin. Doch bisher arbeiten bei Paaren mit Kindern unter 15 Jahren vor allem Frauen in Teilzeit. „Stundenlöhne sind bei Vollzeit höher als bei Teilzeit und es gibt kaum Aufstiegschancen.“ Moritz plädiert für eine ausgeglichenere Arbeitszeit von Paaren. In Deutschland werde über ein Familienarbeitszeitmodell diskutiert, bei dem Eltern 30 bis 32 Stunden pro Woche arbeiten, samt einer Ausgleichszahlung.
Einkommenstransparenz
Ein wichtiger Schritt, um den Gender-Pay-Gap zu schließen, ist die Einkommenstransparenz. Doch über Geld wird nicht gerne gesprochen. „Nur wenn ich weiß, wie ein Kollege mit ähnlicher Tätigkeit bezahlt wird, kann ich vergleichen.“ Im Jahr 2011 wurde die Einkommenstransparenz gesetzlich verankert. In Stellenausschreibungen muss ein Mindestgehalt angegeben werden und Betriebe mit mehr als 150 ArbeitnehmerInnen müssen Einkommensberichte erstellen. Doch diese Berichte müssen nicht öffentlich gemacht werden. „Wichtig wäre es, dass Betriebe die Lohnschere nicht nur offenlegen müssen, sondern auch Pläne zum Abbau vorlegen“, betont Moritz.
Stolz ist Moritz, dass bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie viele Verbesserungen gelungen sind, insbesondere beim Ausbau der Kinderbetreuung. Ein weiterer Erfolg ist ein Paradigmenwechsel: Sie und ihr Team haben erreicht, dass in der AK Kinderbetreuung und Pflege als wichtige Investitionen und weniger als Kosten gesehen werden. Damit der Traum von Ingrid Moritz und Melitta Aschauer-Nagl von der Chancengerechtigkeit in Erfüllung geht, bräuchte es also ein Bündel an Maßnahmen: gerechtere Arbeitszeitverteilung, Einkommenstransparenz, einen weiteren Ausbau von Kinderbetreuung, Ganztagsschulen und mehr Förderungen für jene SchülerInnen, die es brauchen.
Udo Seelhofer
Sandra Knopp
Freie JournalistInnen
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 7/18.
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