Sonja Fercher
Chefredakteurin
Arbeit&Wirtschaft
Mehr soziale Risse
Mit einem lachenden und einem weinenden Auge: Das beschreibt wohl am besten, wie Arbeiterkammer und Gewerkschaften Europa wahrnehmen. Denn die EU ist zweifellos eine wichtige Errungenschaft und hat viel Positives gebracht: 70 Jahre Frieden, eine beispiellose wirtschaftliche Entwicklung und sozialen Ausgleich. Letzterer aber hat starke Risse bekommen – und die Europäische Union ist nicht im Stande, dies auszugleichen. Verantwortlich dafür ist die grundlegende marktliberale Ausrichtung der Union.
In diese Logik passen leider auch die aktuellen Entwicklungen – in Österreich wie in der EU. Es ist kein Zufall, dass das soziale Europa kaum mehr Thema ist. Vielmehr passt es zur ideologischen Ausrichtung vieler Regierungen in Europa, nicht zuletzt der österreichischen.
Das neoliberale Programm ist höchst problematisch. Es geht von der Vorstellung aus, dass der Mensch alles schaffen kann – und wer es nicht schafft, ist selbst schuld. Das ist nicht nur kurzsichtig, es ignoriert auch die gesellschaftlichen Gegebenheiten, die von unterschiedlichen Ungleichheiten geprägt sind. Schlimmer noch, denn manche Ungleichheiten etwa im Bildungssystem sind festgefahren – zulasten der zukünftigen Generationen. Andere Ungleichheiten wiederum nehmen sogar noch zu, Stichwort weiter aufgehende Schere zwischen Arm und Reich.
Hier muss endlich ein Ausgleich geschaffen werden, sei es über ein gutes Bildungssystem, die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik und vor allem über die längst fällige Wiedereinführung von Erbschaftssteuern. Auf EU-Ebene muss Lohn- und Sozialdumping – im Klartext: die Ausbeutung von Menschen – energisch bekämpft werden. Gleiches gilt für Steuerflucht, die den Staaten der Europäischen Union enorme Summen kostet. All das würde voraussetzen, dass man eine Vision davon hat, wie die Gesellschaft besser werden könnte. Davon ist aber bei der österreichischen Regierung nichts zu merken. Neben einer Vision braucht es auch den Willen, schwierige oder unangenehme Themen anzugehen – im Sinne der Menschen. Momentan scheint es aber vor allem um eines zu gehen: die Macht und wie diese gesichert werden kann. Ja, die österreichische Regierung schreckt nicht einmal davor zurück, als EU-Vorsitzland die eigene populistische Agenda auch Europa aufs Auge zu drücken.
Sozial statt neoliberal
Gewerkschaften und AK mögen allein nicht in der Lage sein, den längst überfälligen Kurswechsel der EU zu erreichen. Davon beeindrucken lassen sie sich aber nicht – und vor allem werden sie nicht aufhören, die Probleme vor der österreichischen und europäischen Haustür und im Hause Europa anzuprangern. Am schlimmsten finde ich persönlich, wie fahrlässig die Regierung unter Sebastian Kurz das Projekt der Europäischen Union selbst aufs Spiel setzt. Klar, viele Versprechungen kann die EU nicht einhalten, vielmehr hat sie eine äußerst problematische Richtung genommen. Und doch gibt es zu einer weiteren europäischen Integration keine sinnvolle Alternative. Die Frage ist nur, wie sie gestaltet ist: neoliberal oder sozial?
Sonja Fercher
Chefredakteurin
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/18.
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