Der Sozialstaat erlebte eine Renaissance. „Die Bedeutung des Sozialstaats hat sich in der Krise erhöht, weil viele gesehen haben, dass der Staat stark geholfen hat, um die Folgen der Krise abzufedern. Für Familien wie auch für Unternehmen“, erläutert Nadia Steiber, Professorin für Sozialstrukturforschung und Quantitative Methoden an der Universität Wien. Sie hat gemeinsam mit Bernd Liedl und Philipp Molitor die Studie „Einstellungen zum Sozialstaat in der COVID-19 Gesundheits- und Arbeitsmarktkrise“ verfasst.
Ängste und Sorgen der Bevölkerung
Doch eine einmalige Hilfe reicht nicht. Viele Menschen sind nach wie vor verunsichert. Die Pandemie und die Erfahrung, wie dünn die Decke des wirtschaftlichen Erfolgs sein kann, wirkt nach. „Derzeit machen sich sehr viele Menschen Sorgen, dass sie doch noch finanzielle Probleme bekommen werden im Laufe der Krise. Und sie erwarten in dieser Situation, dass sie der Staat dann auffängt. Und sie erwarten von der Politik, dass Jobs geschaffen werden. Das ist eigentlich der Fokus der Erwartungen“, fasst Steiber die Sorgen zusammen.
Die wichtigste Botschaft ist, dass die Menschen dafür sind, dass es umverteilende Maßnahmen gibt, die dazu führen, dass niemand in Österreich arm sein muss.
Nadia Steiber, Universität Wien
Eigentlich ein Aufruf an den Staat, soziale Ängste zu zerstreuen, Sorgen ernst zu nehmen und mit einem gemeinsamen Wir-Gefühl an der Bewältigung der Krise zu arbeiten. Aktuell ist jedoch eher das Gegenteil zu sehen. Während die Arbeitslosigkeit stetig zurückgeht, lässt die ÖVP in Person von Arbeitsminister Martin Kocher eine Arbeitsmarktreform diskutieren. Deren Kern ist es, mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit die Leistungen zu kürzen, Menschen auch fern ihrer eigentlichen Qualifikation in Jobs zu bringen und ihnen die Zuverdienstmöglichkeiten zu kürzen.
Es geht also darum, den Druck auf Arbeitslose zu erhöhen. „Das wollte die ÖVP schon lange verstärkt auf die Agenda setzen. Dieser Punkt eignet sich auch sehr gut, um sozialpolitischen Debatten einen gewissen Spin zu geben“, erklärt Marcel Fink, Politologe am Institut für Höhere Studien (IHS) und Experte für Sozialpolitik, gegenüber Arbeit&Wirtschaft. „Spin“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass ausschließlich Ideen diskutiert werden, die vom Wirtschaftsbund kommen, der seine Vorschläge „Beschäftigungsanreize“ nennt.
Die Kurzarbeit als Ad-hoc-Maßnahme
Einen Widerspruch zwischen dem generösen Modell der Kurzarbeit und der jetzigen Diskussion rund um die Arbeitsmarktreform sieht Fink nicht, verweist aber darauf, dass es sich letztlich um eine politische Strategie handeln würde. Von der Kurzarbeit sei eben die Kernbelegschaft betroffen gewesen – eine größere Wähler:innengruppe. „Das war im Interesse der Arbeitgeber und nicht nur der Arbeitnehmer:innen. Deswegen hat man rasch einen kostenintensiven Konsens gefunden.“
Zumal es sich bei der Corona-Kurzarbeit nicht um eine strukturelle Reform gehandelt habe, sondern eben nur um eine Ad-hoc-Maßnahme. Genauso die Erhöhung der Notstandshilfe und eine mögliche Anhebung der Nettoersatzrate. Dahingehend war die Pandemie vielleicht sogar hilfreich. Sie hat Schwächen aufgedeckt, die vorher für viele Menschen unsichtbar waren. „Das sind Punkte, von denen wir schon immer gesagt haben, dass sie problematisch sind. Aber durch die stärkere Betroffenheit ist das niedrige Leistungsniveau zunehmend sichtbar geworden“, betont Fink.
Wobei das in diesem Zusammenhang fast schon beschönigend klingt. Steiber macht es konkreter: „Die Familien mussten, sofern sie Ersparnisse hatten, auf diese zugreifen. Und viele Familien haben keine Ersparnisse. Familien, die vorher schon stark armutsgefährdet waren, mussten Schulden machen oder sich eben in puncto Ausgaben sehr stark einschränken.“ Dazu kämen, wie Fink weiter ausführt, die Probleme im Alltag. Also die Doppelbelastung der Eltern, die sowohl arbeiten als auch Vollzeit ihre Kinder betreuen mussten.
Das hat die Sorgen der Menschen massiv verstärkt. Ihre Studie sei zu folgendem Ergebnis gekommen, erklärt Steiber: „Vor der Krise haben ungefähr acht Prozent der Familien gesagt, dass sie nur schwer mit dem Haushaltseinkommen auskommen. Dieser Anteil ist auf mehr als ein Fünftel gestiegen. Das heißt, jede fünfte Familie ist subjektiv armutsgefährdet.“ Das verändere den Blick auf den Sozialstaat, so Steiber weiter: „Das ist ein sehr hoher Prozentsatz in der Bevölkerung, den es zu bedenken gilt, wenn man die Bevölkerung fragt, wie sie aktuell zum Sozialstaat steht.“
Was die Bevölkerung nicht will: Kürzungen im Sozialstaat
Unter dem Eindruck der Corona-Pandemie haben die Bürger:innen einen zentralen Wunsch an die Regierung und den Sozialstaat: „Die wichtigste Botschaft ist, dass die Menschen dafür sind, dass es umverteilende Maßnahmen gibt, die dazu führen, dass niemand in Österreich arm sein muss. Dass der Sozialstaat ein Sicherheitsnetz bietet – vor der Krise, in der Krise, nach der Krise“, fasst Steiber eine Erkenntnis ihrer Studie zusammen. Kürzungen bei den Pensionen oder im Gesundheitswesen seien nicht gefragt. „Wenn es um die Fragen geht: Wie werden wir aus der Krise rauskommen? Wie finanzieren wir all diese unglaublich riesigen Ausgaben, die der Staat jetzt tätigt? Dann sind die Menschen eher dafür, große Unternehmen und hohe Einkommen stärker zu besteuern und nicht die Leistungen des Sozialstaats zu kürzen. Die Mehrheit der Bevölkerung hat aber auch keine großen Einkommen oder Unternehmen“, erklärt Steiber.
Fink schätzt die Situation ähnlich ein wie die von Steiber befragten Österreicher:innen: „So etwas wie eine weitere Senkung der Körperschaftsteuer ist kontraproduktiv. Was auf die Agenda gehört, ist die Frage der Besteuerung des Vermögens oder das österreichische Stiftungsrecht.“ Doch sei dies in seinen Augen eine Diskussion, die gar nicht geführt werden müsste: „Wir haben die Debatte über die Finanzierbarkeit des Sozialstaats nicht nur in Österreich, sondern international seit den 1970ern. Wir sehen empirisch, dass er finanzierbar ist. Die Frage ist in dem Zusammenhang, wie man die Mittel am effizientesten einsetzt.“
Eine zweite Debatte sei die Frage der Herkunft der Mittel, so Fink. Ein Totschlagargument sei stets, dass zu hohe Steuern und Sozialabgaben die internationale Wettbewerbsfähigkeit Österreichs einschränken würden. Doch Unternehmen würden langfristige Entscheidungen eben nicht allein von diesen Facetten eines Staates abhängig machen. Jedes Land ist schließlich mehr, als sich auf einer Steuererklärung ablesen lässt. „Wenn parallel das Ausbildungsniveau der Arbeitskräfte hoch ist und sozialer Frieden und finanzielle Planbarkeit herrschen, zeigt sich, dass auch hohe Sozialabgaben mit internationalen Investitionsentscheidungen großer Unternehmen kompatibel sind.“
Wer weniger einzahlt, der bekommt auch weniger raus. Und wer mehr einzahlt, der kriegt mehr raus. Das reproduziert aber Ungleichheit.
Marcel Fink, Politologe IHS
Immer mehr atypisch Beschäftigte
Doch für die Zukunft werde die Regierung nicht um eine wirkliche Strukturreform des Sozialstaates herumkommen. Hintergrund ist der Wandel in der Arbeitswelt. Die Zahl der atypisch Beschäftigten steigt. Gab es in Österreich davon im Jahr 2004 rund 338.000, waren es im Jahr 2019 schon 474.000, wie die Statistik Austria angibt. Zwar gibt es deutlich weniger freie Mitarbeiter:innen, doch die Zahl der Arbeitsverträge mit weniger als zwölf Wochenstunden, befristete Dienstverträge und Leiharbeit haben sich verdoppelt.
Aus Sicht des Staatshaushaltes und vor allem mit Blick auf den Sozialstaat ist das bedenklich. Denn dort ist in Österreich das Äquivalenzprinzip stark verankert, wie Fink erklärt. „Ganz vereinfacht gesagt: Wer weniger einzahlt, der bekommt auch weniger raus. Und wer mehr einzahlt, der kriegt mehr raus. Das reproduziert aber Ungleichheit.“ Vor allem aber kann es dazu kommen, dass der Lohnersatz nicht ausreicht, um Menschen vor Armut zu bewahren. Genau das ist aber eine zentrale Forderung der Bürger:innen an den Sozialstaat, wie Steiber betont.
Doch den Wandel auf dem Arbeitsmarkt wird die österreichische Regierung nur schwer aufhalten können. Weil der sich aber auf das Arbeitslosengeld genauso auswirkt wie auf die spätere Pension, sind Lösungen gefragt. Und die hat Fink: „Für gewisse Leistungen würde ein universeller Basissockel Sinn ergeben. Am leichtesten umsetz- und argumentierbar wäre der bei der Altersabsicherung. Wie in Dänemark könnte man eine wohnzeitabhängige Grundpension einführen. Unabhängig vom Erwerbs- und Versicherungsverlauf wäre dann niemand im Alter armutsgefährdet.“
Dänische Grundrente
In Dänemark (und Holland) bekommen alle Einwohner:innen eine Grundrente. Deren Höhe ist an die Dauer des Wohnsitzes gekoppelt. Wer seit vierzig Jahren (fünfzig in Holland) im Land lebt, bekommt sie in voller Höhe. Wer auf weniger Jahre kommt, kriegt seine Grundrente proportional gekürzt.
Aktuell wollen die Bürger:innen eine solche tiefgreifende Reform allerdings nicht, hat Steiber herausgefunden. Den Menschen sei aktuell weniger daran gelegen, das System umzubauen. Das ginge an der Lebensrealität vorbei. Aktuell wünschen sie sich vor allem, dass der Staat sie in einer Notlage auffängt. Mehr nicht. Ob das so bleiben wird, sei unklar. „Es ist noch ein bisschen früh zu prognostizieren, ob es tatsächlich zu einem politischen Wandel kommen wird. Unabhängig von der eigenen Position im politischen Spektrum ist jetzt jeder dafür, dass der Staat eine starke Rolle einnimmt – das wird sich natürlich wieder ändern.“
Diese Zurückhaltung in der Bevölkerung sei aber genauso schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen sei. „Es ist in einer Krise immer so, dass die Bevölkerung den handelnden Akteur:innen mehr Vertrauen entgegenbringt. Das ist ein temporärer Effekt.“
Acht Erwartungen an den Sozialstaat
Im Juni 2020 hat das Institut für Höhere Studien (IHS) 2.000 Personen zu ihrer Einstellung zum Sozialstaat befragt. Die Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik der AK hat die repräsentative Studie herausgegeben. Grundsätzlich zeigt sie eine breite Unterstützung des Sozialstaates. Acht Meinungen der Österreicher:innen sind hier in Zahlen gegossen:
- Über 60 Prozent der Befragten gaben an, dass der Sozialstaat in der Corona-Krise an Bedeutung gewonnen habe.
- 75 Prozent fordern vom Staat, dass mehr dafür getan wird, Armut zu verringern. Vor allem die bedarfsorientierte Mindestsicherung wird als zu niedrig empfunden.
- 60 Prozent empfinden die Vermögensunterschiede in Österreich als ungerecht groß. Jedoch ist der Wert im Vergleich zur Zeit vor Corona nahezu gleich geblieben. Er ist in Österreich traditionell sehr hoch.
- Ebenfalls 75 Prozent finden, dass der Staat Maßnahmen ergreifen sollte, um die Einkommensunterschiede zu reduzieren. Während der Corona-Pandemie wurde dieser Wunsch zwar stärker, aber auch er ist in Österreich traditionell stark ausgeprägt.
- 50 Prozent der Befragten stimmten einer stärkeren Besteuerung von Vermögen und hoher Einkommen zur Finanzierung der Corona-Pandemie zu.
- 64 Prozent wollen eine stärkere Besteuerung großer Unternehmen. Es ist die Maßnahme mit der höchsten Zustimmung.
- Lediglich 20 Prozent würden einer Einschränkung der Sozialleistungen zustimmen, um die Folgen der Corona-Pandemie zu finanzieren.
- Nur 50 Prozent unterstützen Maßnahmen, die Erwerbsarbeitslosen einen angemessenen Lebensstandard sichern sollen. Hier gibt es allerdings innerhalb der Altersgruppen große Unterschiede. Bei den 20- bis 29-Jährigen sind 52 Prozent dafür, bei den 60- bis 64-Jährigen sogar 57 Prozent. Nur bei den 40- bis 49-Jährigen stürzt der Wert auf 40 Prozent ab.