„Es gab massive Änderungen in den Strukturen, was Armut und Ungleichheit angeht, vor allem nach 1945. Besonders weil Gruppen und Bewegungen wie zum Beispiel die sozialdemokratischen Parteien, die sozialistischen Parteien, die Gewerkschaften und so weiter schon im 19., manche bereits im 18. Jahrhundert begonnen hatten, diese Prozesse in Gang zu setzen. Ich nenne (…) Beispiele für eine ganze Reihe progressiver Steuerungssysteme, schon in der Französischen Revolution. Und diese progressiven Steuerungssysteme – wie Sozialversicherung und kostenlose Bildung für alle – waren Aktionsplattformen, die zum Beispiel von der Gewerkschaftsbewegung massiv genutzt und weitergetragen wurden. Es gab dann Veränderungsprozesse, die nicht nur mit den schweren Traumata zweier Weltkriege zu tun hatten, die Europa erlebte. Es gab enorme Ungleichheit, nicht nur innerhalb der europäischen Gesellschaften vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg, sondern es gab auch zwischen den einzelnen Ländern massive Unterschiede. Es war die internationale Dimension, die die Anhäufung von Besitz und Reichtum ins Zentrum der Debatte rückte.“
Der Sozialstaat konnte nach 1945 zum Erfolgsmodell werden, so Piketty, weil er nicht erst erfunden werden musste und weil die politische Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überdeutlich gezeigt hatte, dass er die einzige sichere Basis für eine stabile Demokratie ist.
„Das Marktsystem wurde mit der Hoffnung auf eine mögliche Selbstregulierung eingeführt. Und nach 1945 ging man dann hin und regulierte die Märkte wieder. Man verstaatlichte ganze Sektoren, implementierte ein Gesundheitssystem, ein Sozialversicherungssystem und ein Rentensystem. Es gab eine sehr hohe progressive Besteuerung auf Vermögen und Einkommen, zum Beispiel in den USA. Heute sehen wir die USA eher als Steuerparadies für Milliardäre. (…) Die amerikanische Sichtweise jener Zeit war Teil des Demokratisierungspaketes, das die USA nach Europa und, vor allen Dingen, nach Deutschland bringen wollten.
Die Idee war, einen Staat zu haben, der reich genug ist, und damit stark genug, die Demokratie zu wahren. Denken wir an Deutschland in den 1950er-Jahren, an die Mitbestimmungsgesetze, die damals verabschiedet wurden. (…) In Großbritannien und Frankreich ist das anders. Die Aktionäre dort wollen noch heute nichts von Mitbestimmung wissen. (…) Das heißt, wir haben hier auch ein ganz spezifisches Verständnis von Eigentum, das bis heute fortwirkt.
Die Idee war, einen Staat zu haben, der reich genug ist,
und damit stark genug, die Demokratie zu wahren. (…)
Diese Agenda müssen wir fortschreiben
Thomas Piketty über den Sozialstaat nach 1945
Gleichzeitig sind es die Erfahrungen der Vergangenheit, aus denen wir lernen können. Wir blicken zurück in das 20. Jahrhundert, wir sehen die Steuerprogression, öffentliche Bildung, Mitbestimmung und so weiter. Und diese Agenda müssen wir fortschreiben.“
Der politische Bruch mit dem Sozialstaat ab den 1980er-Jahren war nach Pikettys Einschätzung nur möglich, weil seine Befürworter:innen den Grundsatz der internationalen Solidarität bei seinem Aufbau missachteten, während sich das Kapital immer globaler vernetzte. Wenn das erkannt und die Konsequenz daraus gezogen werde, sei eine gerechtere Verteilung des Reichtums und damit des Einflusses auf die Politik aber durchaus erreichbar: „Wir müssen verstehen, warum sie zwischen 1980 und 1990 gestoppt wurde. Wenn uns klarer wird, warum es diesen Bruch gab, wird uns auch klarer werden, wie es weitergehen kann.
„(…) in dem System oder der Ordnung, die ich vorschlage (…) hätten wir eine spezifische Besteuerung und ein System, in dem Menschen, die heute null bekommen, (…) vielleicht 60 Prozent der Menschen, 120.000 Euro bekommen würden. (…) In jedem Fall hätten sie alle eine bessere, stärkere Verhandlungsposition. (…) Also: Zugang zu Bildung, Zugang zu Gesundheit – das ist ganz wichtig, das ist die Basis. Darüber hinaus muss es das geben, was wir gerade besprochen haben. Nur das allein macht eine Veränderung des Machtgleichgewichts möglich.“