- Wird der neue Sozialbericht für dringende Reformen genutzt werden?
- Wird Nicht-Handeln abgelöst durch nachhaltige Investitionen?
- Können wir toxische Solidaritätsmuster in der Gesellschaft beseitigen?
Im Rückblick würde ich sagen, dass uns in vielen Bereichen beides gefehlt hat. Sowohl die sozialpolitische Lösungskompetenz der handelnden Akteur:innen als auch der politische Wille, den Sozialstaat – mit seinen Institutionen, seinen Stärken und Schwächen, – im Sinne der Vielen weiterzuentwickeln.
Vorsichtiger Optimismus – berechtigt?
Ich möchte trotzdem einen vorsichtig optimistischen, sozialpolitischen Ausblick auf das Jahr 2024 wagen, den ich aber an fünf Bedingungen knüpfen möchte:
- Die soziale Peilung wird wieder gefunden.
- Die Politikgestaltung erfolgt im Sinne der Lenkung statt Ablenkung.
- Die Solidaritätsbänder in der Gesellschaft werden wieder breiter und robuster.
- Frauen werden aus der „Doppelmühle“ geholt.
- Europa bleibt „stabil“.
Soziale Peilung
Dass es zum Wiederfinden der sozialen Peilung beides gibt – einerseits sehr gute institutionelle Fundamente, einen klaren „Kompass“, eine „Landkarte“ und andererseits beachtliche Hürden –, ist bekannt. Mit dem AK-Projekt „So muss Sozialstaat“ wurden in Zusammenarbeit mit Wissenschaft und Stakeholder:innen für Österreich kurz- und mittelfristig machbare Optionen für einen besseren Sozialstaat zusammengetragen. Das bestärkt meinen Glauben, dass sozialer Fortschritt nicht nur notwendig, sondern auch „einfach“ machbar ist – selbst unter den gegebenen, nicht leichten ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen.
Ob die aktuelle Bundesregierung diese Hilfestellungen – auch aus der kritischen Wissenschaft – annimmt, bleibt aber fraglich. Die politisch Verantwortlichen werden jedenfalls mit dem (späten) Erscheinen des neuen „Sozialberichts“ – nach 2019 wird dieser im Laufe des Jahres 2024 hoffentlich veröffentlicht – noch klarere Evidenz als bisher für die bestehenden Stärken und Schwächender heimischen Sozial-, Bildungs-, Wirtschaftspolitik und Arbeitswelt zur Verfügung haben.
Lenkung statt Ablenkung in der Sozialpolitik
Gerade in sozialpolitischen Debatten geht es mitunter nicht um das konstruktive Bearbeiten der sozialen Ungleichheiten, die sich mannigfaltig und hartnäckig manifestieren – von Bildungsvererbung, Lohngefälle zwischen Frauen und Männern bis hin zur Verteilungsschieflage bei den Vermögen. Ständig verlieren wir Zeit und Nerven mit reinen Ablenkungsdebatten!
Lücken und Versorgungsengpässe werden nicht selten mit vorgeschobenen Budgetknappheiten oder einer vermeintlichen „Überversorgung“ von Gruppen „argumentiert“, die es sich angeblich „leicht machen“. Insbesondere gilt das für Asylwerber:innen, Arbeitslose, Migrant:innen, Sozialhilfeempfänger:innen, und Niedrigqualifizierte – sie werden oft von Populist:innen sogar mit faktisch und empirisch unhaltbaren Angriffen übel zu Projektionsflächen gemacht. Für sie ist die Erfahrung der strukturellen Abwertung Alltagsrealität.
Echte Lösungen bleiben somit vielfach auf der Strecke oder zumindest Mangelware – Ablenkung und Placebo-Politik hingegen bestimmen dann das politische Momentum. Ein Beispiel: Die Fachkräftedebatte mit höheren Rot-weiß-Rot-Card-Kontingenten angehen zu wollen, zeigt eindrücklich, dass die politische Kultur und Lösungskompetenz im Sinkflug sind.
Weder im Bildungssystem, beim AMS oder in der betrieblichen Weiterbildung gibt es substanzielle Fortschritte, noch gibt es kohärente Szenarienanalysen zu den künftigen Entwicklungen und Bedarfen in verschiedenen Branchen. Weitblick und Strategie wären gefragt – beides noch klare Leerstellen, die hoffentlich 2024 geschlossen werden!
Selbstbetrug der Mittelschicht
Ich glaube seit jeher daran, dass eine kohärente, nachhaltige Politik nur auf soliden empirischen Grundlagen aufbauen kann. Da diese zum einen bereits vorhanden sind, zum anderen aber mit dem neuen Sozialbericht wohl auch neue „Standards“ für die notwendigen Debatten geschaffen werden, hege ich die Hoffnung auf einen realistischeren, faktenbasierten Blick der Bevölkerung auf die wahren „Abstände“ in der Gesellschaft: von der enormen Vermögenskonzentration bis zu anderen Machtasymmetrien in Wirtschaft und Gesellschaft. Meine Hoffnung ist schließlich jene auf eine – davon abgeleitete – viel inklusivere Form der „Solidarität“ als wir sie in der Gegenwart in Österreich und in Europa sehen.
Ich frage mich laufend, ob und wie der Selbstbetrug der Mittelschicht endlich sein Ende findet. Was meine ich damit? Er drückt aus, dass es viel zu oft – sei es in Debatten, sei es in eigenartigen politischen „Allianzen“, die sozialen Fortschritt verhindern – zu einer toxischen, teilweise übermächtigen (Ver-)Bindung zwischen der „Mitte“ und den „Oberen“ bzw. besonders Vermögenden auf Kosten der „unteren“ kommt. Denn: Diese absichtliche „Abgrenzung“ von „unten“ bleibt realpolitisch natürlich nicht ohne Folgen. Vorschnell gesinnen sich zu den gegenüber materiell schlechtergestellten Bevölkerungsgruppen unvorteilhaften Zuschreibungen – zum Beispiel sozial schwach, bildungsfern, etc. – folgenschwer auch Forderungen nach Leistungskürzungen gerade bei diesen Menschen und Haushalten, die es ohnedies schwer haben.
Asylwerber:innen, Arbeitslose, Migrant:innen, Sozialhilfeempfänger:innen, und Niedrigqualifizierte werden oft von Populist:innen sogar mit faktisch und empirisch unhaltbaren Angriffen übel zu Projektionsflächen gemacht.
Adi Buxbaum
Dass man diesen „Klassenkampf von oben“ auch aus der Position der „Mitte“ führt, ist für mich besonders irritierend. Warum bezieht man solche unsozialen Positionen überhaupt, wenn die eigene materielle Position ebenso „ungesichert“ ist? Naheliegender wäre doch, bei den „Bessergestellten“ und „Oberen“ anzusetzen und einen im Verhältnis fairen Teil für das Gemeinwohl zu verlangen. Eigentlich logisch, gesellschaftlich konsensfähig vielleicht dann erst 2024?
Der bittere Status Quo in sozialpolitischen Debatten sollte dann hoffentlich überwunden sein und die Lösungskultur wäre endlich konstruktiv: empathisch statt zynisch, partizipativ statt elitär, strukturell statt individuell!
Breitere und dickere Solidaritätsbänder geboten!
Diese neue Debattenkultur müsste konsequent in alle Verteilungsfragen einfließen. Denn: Auffällig in Verteilungsdebatten war zuletzt, dass die sozialstaatliche „Umverteilung“ nicht als Erfordernis, sondern als Schimpfwort verunglimpft wurde. Dabei ist und bleibt sie der effektivste Schlüssel für sozialen Ausgleich, eine gerechtere und zufriedenere Gesellschaft. So sind doch 90 Prozent der Gesellschaft, also die Vielen, materiell „verwundbar“ und, über das Leben betrachtet, vom Angebot an verschiedenen öffentlich bereitgestellten Geld- und Sachleistungen „abhängig“.
Für mich ist gerade das Verschleppen sozialer Schieflagen jedenfalls gesellschaftlich bedrohlich und insofern demokratiegefährdend, als die materielle Aussichtslosigkeit von Menschen in Nichtwählen oder im Zulauf zu eindeutig destabilisierenden, (rechts-) populistischen Kräften mündet! Nur der Sozialstaat mit seiner solidarischen Grundarchitektur ermöglicht erst eine „breite Mitte“, die stabilisierend auf die Gesellschaft und das Wirtschaftsleben wirkt. Eine weitere Polarisierung wäre hingegen eine unsoziale Vision, die auch die ökonomischen Unsicherheiten noch weiter erhöhen würde. Offen bleibt also, ob man meine – nicht unbescheidene – Hoffnung nach tragfähigeren Solidaritätsbändern erfüllt. Das wird auch stark von der veröffentlichten Meinung abhängen, nicht allein von den Zahlen und Daten.
Empathie- und solidaritätsförderlich war diese in Vergangenheit nicht, ich gehe auch nicht davon aus, dass sich das zum Positiven ändert – im Gegenteil! Hier ist der Verweis auf die Eigentümer:innen-Struktur der heimischen Medienlandschaft und wie sie demokratiepolitisch wahrgenommen wird alles andere als trivial!
Endlich glaubhafte feministische Akzente in der Sozialpolitik!?
Wie beim Bruch nachteiliger Solidaritätsmuster, wird es bestimmt 2024 auch nicht leichter werden, sich glaubwürdig von neokonservativen Rückschritten vergangener Jahre entschieden zu emanzipieren. Üblicherweise kommen zu offensichtlichen und entsprechend kritischen Befunden zu den vorhandenen Gleichstellungsdefiziten in Österreich reflexartige Gegenfragen: „Gibt es gar keinen Fortschritt? Haben wir nicht genug an Frauenförderung unternommen? Reicht es nicht, wenn wir geschlechtersensibler als früher reden und schreiben?“
Der Blick auf den Gender-Pay-Gap gibt die glasklare Antwort: Nein. In fast allen EU-Ländern ist dieser Einkommensunterschied geringer – in Luxemburg sind die Stundenverdienste der Frauen sogar höher als jene der Männer.
Analysiert man die Regierungsprogramme der vergangenen Jahr(zehnt)e, so bestätigt sich der Eindruck. Da gibt es keinen großen Wunsch der „mächtigen“ Männer nach Veränderung. Sie beschwören vielmehr den „Familienbonus“ – konstruiert als steuerlicher Absetzbetrag, der eher Männern durch ihr höheres Einkommen als deren Familien zugutekommt – oder „Pflege-daheim-Bonus“ als scheinbaren Fortschritt. Tatsächlich steckt hinter dem vermeintlichen Wohlfühlbegriff „Bonus“ der frauenpolitische Rückschritt und die sprachliche Verschleierung einer „Frauen-zurück-an-den-Herd“-Politik. Auch der Zynismus gegenüber teilzeitbeschäftigten Frauen und unnötige Anreizdiskurse sind entbehrlich und tragen nichts zu frauenpolitischen Aufholschritten bei.
Ungedankte, unbezahlte Sorgearbeit
Wird 2024 also endlich eine Trendwende bringen? Mitnichten. Die „Doppelmühle“ – oft ungedankte, unbezahlte Sorgearbeit und zu oft offensichtliche Hürden am heimischen Arbeitsmarkt und das trotz bester Qualifikation – wird wohl noch länger ihr Unwesen treiben. Viel zu schleppend geht der Ausbau der sozialen Infrastruktur voran. Völlig unverständlich, zumal seine Wirkungen mehrfach positiv wären: von der Entlastung für Familien/Eltern und Beschäftigungsmotor, neuen Wertschöpfungsketten bis zum hohen Selbstfinanzierunggrad.
Österreich bleibt gesamtgesellschaftlich wohl weiter zu „traditionell“, darauf deuten schlicht die gängigen Rollenzuschreibungen für Frauen in Familien und Unternehmen hin. Ob es erste Fortschritte Richtung mehr Lohntransparenz geben wird (siehe Umsetzung der Lohntransparenzrichtlinie), bleibt abzuwarten.
Die Daten der jüngsten #Zeitverwendung zeigen klar, wie es um die #Frauenpolitik in Österreich steht. @EvaMariaBurger, Leiterin der #AK Abteilung Frauen und Familie, zeigt auf, welche Maßnahmen es jetzt braucht 👇👁️ https://t.co/EdqZom7oH0
— AK Österreich (@Arbeiterkammer) December 18, 2023
Klar hingegen ist, dass das gesetzliche Pensionsalter von Frauen ab 2024 schrittweise steigt. Das ist alles andere als eine Randnotiz, sondern bringt die Frage nach altersgerechten Arbeitsplätzen vielleicht wieder verstärkt in den Polit-Diskurs – das ist wohl eine Chance für Verbesserungen in der Arbeitswelt. Denn: Heute geht nämlich jede dritte Frau nicht (!) aus Erwerbstätigkeit in Pension, da die Arbeitsbedingungen und die beruflichen Perspektiven oft nicht den berechtigten Bedürfnissen der Beschäftigten entsprechen. Zu hart sind die Verhältnisse von den Gesundheitsberufen, Pflege bis zum Handel.
Europa bleibt „stabil“
Selbst wenn es bedrohliche Vorboten zu politischen Erfolgen (rechts-) populistischer Parteien gibt – zum Beispiel Italien oder Niederlande – bleibt die vielleicht naive Hoffnung, dass man in den nächsten Wochen und Monaten auf europäischer Ebene doch noch „richtige“ Weichenstellungen bis zu den EU-Parlamentswahlen trifft, die den erwarteten Zulauf zu destabilisierenden und fortschrittsfeindlichen Konstellationen in der Institutionslandschaft verhindern.
Hoffentlich gewinnen Debatten mit wohlfahrtschauvinistischer Grundnote und fiskalpolitischem Masochismus – Austerität, Leugnung des Investitionsbedarfs für den sozial-ökologischen Umbau oder für soziale Antworten auf die soziale Frage – nicht gegen eine vorausschauende, nachhaltige und soziale Politikgestaltung.
Zentral dabei sind u.a. sicherlich die neuen „Fiskalregeln“, die konzeptiven Antworten im Bereich der „Twin-Transition“ und die Grundsatzfrage, ob man die – guten – proklamierten Ziele im Rahmen der Europäischen Säule Sozialer Rechte im Ansatz überhaupt glaubwürdig verfolgt.
Erschreckend ist neben dem eher Nicht-Handeln in der Frage sozialer Schieflagen und Ungerechtigkeiten jedenfalls der Befund, dass es in den meisten Mitgliedstaaten im Grunde noch keinen glaubwürdigen „Masterplan“ für die Twin Transition gibt – also den sozial-ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft und die fortschreitende Digitalisierung breiter Lebensbereiche.
Das hängt sicher mit den unsicheren ökonomischen Rahmenbedingungen, aber auch mit der mangelnden sozialen Peilung und sozialen Tradition in einigen Mitgliedstaaten bzw. deren „Lenker:innen“ zusammen. Hoffentlich gelingt europaweit rechtzeitig ein schrittweiser Paradigmenwechsel in Richtung einer „Renaissance“ der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die nicht nur am Papier „niemanden zurücklässt“.
Fazit: Soziale Haltung und Gestaltungsoptimismus wahren!
Trotz aller Hürden und Herausforderungen kann ich nur den Appell dahingehend richten:
- Erhalten wir bitte gemeinsam auch 2024 unseren – noch immer weitgehend funktionierenden – Sozialstaat und unsere solidarischen Grundfesten in der Gesellschaft!
- Orientieren wir uns bei der Weiterentwicklung des Sozialstaats an den nordischen Vorzeigeländern und setzen wir uns für mehr Feminismus ein!
- Bauen wir gemeinsam und konsequent an einem sozialen Österreich und Europa weiter – dafür ist jedenfalls Gestaltungsoptimismus unumgänglich, ebenso wie die gebotenen Budgetmittel.
- Limitieren wir uns bitte nicht unnötig selbst und nutzen wir die bestehenden Umverteilungsspielräume im Sinne der Vielen!