Dass sich im Bereich Soziales in den vergangenen Jahren auf EU-Ebene vergleichsweise viel bewegt hat, meint Reisecker. Man habe einerseits aus den Folgen der Finanzkrise gelernt und sich dadurch von der zuvor gepflegten Austeritätspolitik abgekehrt. „Mit der Covidkrise ist man dann schon ganz anders umgegangen, Stichwort Kurzarbeit.“ Auch Hafner, Leiter des ÖGB-Europabüros in Brüssel, betont: Man könne hier nicht mehr nur von „sozialer Kosmetik“ sprechen. „In dieser Legislaturperiode geht es mit der Mindestlohnrichtlinie und nun der Lohntransparenzrichtlinie schon in die richtige Richtung.“ Während die Mindestlohnrichtlinie für eine Kollektivvertragsabdeckung von 80 Prozent sorgen soll, schließt die Lohntransparenzrichtlinie die Lohnschere. Einmal pro Jahr hat künftig jede:r Arbeitnehmer:in das Recht, zu erfahren, wie viel er oder sie im Vergleich zu anderen Arbeitnehmer:innen im Unternehmen mit gleicher Tätigkeit verdient – die Gehaltsunterschiede zwischen Frauen und Männern werden so offen gelegt.
In dieser Legislaturperiode geht
es mit der Mindestlohnrichtlinie
und nun der Lohntransparenzrichtlinie
schon in die richtige Richtung.
David Hafner, ÖGB-Europabüro
Bohren harter Bretter für ein soziales Europa
Wünschenswert wäre aber ein noch sozialeres Europa, meint Judith Vorbach, Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss. Sie leistet für die AK in Brüssel im Sinn der Arbeitnehmer:innen Lobb-Arbeit. Die AK-Vertreterin würde sich hier die Umsetzung des 2008 vom EGB formulierten Sozialen Fortschrittsprotokolls wünschen. „Dadurch würden Gewerkschafts- und soziale Rechte gegenüber wirtschaftlichen Freiheiten abgesichert.“ Nötig wäre dafür allerdings eine Änderung des EU-Vertrags, wozu es die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten benötigt. Das ist das Bohren sehr harter Bretter. Auf EU-Ebene braucht vieles lange Jahre des Ins-Gespräch-Bringens und Argumentierens. Wichtig ist dabei einerseits, vor Ort in Brüssel zu sein und sich mit möglichst vielen anderen Playern abzustimmen, wie Hafner betont.
Wichtig ist aber auch, unterstreicht Evelyn Regner, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, das Timing. „Wenn du gestalten möchtest, musst du möglichst früh dran sein“, so Regner. „Wir haben beispielsweise Ursula von der Leyen, als sie Kommissionspräsidentin werden wollte, gesagt, wir möchten, dass sie etwas für das Schließen der Lohnschere zwischen Männern und Frauen tut. Das war dann auch eine der Bedingungen, damit wir für sie abstimmen. Und deshalb hat sie dann auch diesen Kommissionsvorschlag für die Lohntransparenzrichtlinie gemacht.“ Regner betont zudem: „Man muss sich bereits in das Erstellen der Kommissionsvorlage einbringen. Liegt der Richtlinienentwurf bereits vor, kann man nur mehr das Ärgste abfedern.“
Wir haben die Wahl
Ein sozialeres Europa kann aber auch von jedem Wähler und jeder Wählerin unterstützt werden. Viele Menschen würden, so Vorbach, die EU bis heute „mit der vorgeschriebenen Gurkenkrümmung“ verbinden. Dabei würden heute die EU-Richtlinien unser aller Alltag viel stärker beeinflussen, als das vielen bewusst sei. „Es ist daher nicht egal, wie sich das EU-Parlament zusammensetzt. EU-Wahlen sollten nicht als Ventil für Frust auf der nationalen Ebene fungieren“, appelliert die AK-Vertreterin. Stichwort Frust: In jenen Ländern, wo Rechtspopulist:innen das Sagen haben, werden tendenziell auch Arbeitnehmer:innenrechte beschnitten. Hafner sieht hier als mögliche Gegenstrategie das Denken der EU auch als Sozialunion. „Die Menschen müssen merken, dass sich durch die EU das eigene Leben verbessert.“