Täglich zahlt uns der Sozialstaat eine Dividende aus, nämlich in Form eines friedlichen Miteinanders, weil es keine bewachten Viertel (Gated Communities) braucht, oder durch trinkbares Leitungswasser. Unternehmen können sich – trotz aller Probleme im Bildungssystem – über gut ausgebildete Fachkräfte freuen. Menschen entspannen in einem Park oder gehen zum Arzt. Berühmt mag der Sozialstaat vor allem dafür sein, dass er Risiken wie Arbeitslosigkeit und Krankheit absichert, doch er ist sehr viel mehr: Ein Sozialstaat ermöglicht einen friedlichen und bequemen Alltag. Das ist die Rendite, die gezahlte Steuern und Abgaben für uns erzielen. Sozialausgaben sind nicht umsonst.
Die Dividende der Sozialausgaben
Norman Wagner, Referent für Sozialstaatsfragen in der Abteilung Sozialpolitik in der Arbeiterkammer Wien, fasst diese unscheinbare, aber eminent wichtige Aufgabe so zusammen: „Sozialausgaben haben einen positiven Einfluss auf viele Dinge – nicht nur auf das Leben der Menschen, sondern auch auf den Staat als Ganzes. Er trägt zum Wohle der Gesellschaft bei.“ Eine Aufgabe, die sich auch an den bereits erzielten Erfolgen ablesen lasse. „Es geht beim Sozialstaat auch darum, wie sich der Staat eine Gesellschaft vorstellt. Mit der Umverteilung durch den Sozialstaat haben wir viel Elend entfernt, das es vor 100 Jahren noch gegeben hat.“
Die Frage ist, wer die Investitionen tätigt. Kanzler Karl Nehammer hat sie vor Kurzem beantwortet. Weil er das in der Rede tat, in der er armen Kindern riet, Hamburger essen zu gehen, ging die Antwort unter. Zunächst stellte er die rhetorische Frage „Und wer zahlt das alles?“ und gab anschließend die Antwort: „Wir! Wir zahlen das.“ Das Problem dabei: Es stimmt nicht.
Reiche Menschen profitieren enorm vom Steuersystem in Österreich. Die Gründe dafür sind kompliziert. So ist beispielsweise die Höchstbeitragsgrundlage für die Sozialversicherung aktuell bei 5.850 Euro monatlich gedeckelt. Eine Anhebung ist schwer, da es sich um eine Versicherung handelt. Wer die Beiträge anhebt, muss auch die Leistungen anheben. Das ist aber nur begrenzt möglich. Auch die Umsatzsteuer wirkt regressiv. Das bedeutet, dass wohlhabende Menschen anteilig weniger bezahlen und sie so leichter Vermögen ansparen können. Wer wenig Geld hat, muss viel davon verkonsumieren und einen höheren Anteil an Umsatzsteuer abführen. Eine Lösung für dieses Problem wäre extrem komplex.
Teilweise sind die Gründe aber auch politisch gewollt. „Wer mehr hat, der kann und soll mehr beitragen. Das ist in der Praxis aber ein Problem, denn dafür bräuchte es eine Erbschaft- und Vermögensteuer und eine faire Besteuerung der Unternehmensgewinne. Diese ist zuletzt aber sogar gesunken“, fasst es Miriam Fuhrmann, Fachreferentin im Volkswirtschaftlichen Referat des Österreichischen Gewerkschaftsbunds, zusammen.
Verwöhnte Vermögende
Und tatsächlich gingen die Investitionen von Unternehmen in den Sozialstaat, der ihnen so viel Rendite auszahlt, massiv zurück. Die Senkungen der Lohnnebenkosten seit dem Jahr 2016 belaufen sich mittlerweile auf beinahe 1,7 Milliarden Euro pro Jahr – vom Familienlastenausgleich über die Unfallversicherung bis zum Insolvenz-Entgeltsicherungsgesetz.
Auch vermögenden Menschen kommt die Politik der vergangenen Jahrzehnte entgegen. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) rechnet vor, dass die Industrieländer im Durchschnitt 1,9 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung aus Steuern auf Vermögen beziehen. Österreich landet hier mit gerade einmal 0,6 Prozent im hinteren Drittel. Geld, das der Regierung fehlt, um es in Form von Sozialausgaben für die Bürgerinnen und Bürgern zu verwenden.
Wie Vermögende mehr zu den Sozialausgaben beitragen könnten
Entsprechend hoch ist hier das Potenzial. Die Gewerkschaft GPA beispielsweise hat ein Modell vorgelegt, das pro Jahr vier bis fünf Milliarden Euro in Österreichs Staatskasse spülen würde. Hier würde die Besteuerung ab einer Million Euro beginnen – nämlich mit 0,5 Prozent auf das Vermögen oberhalb dieser Grenze. Bei zwei Millionen würde der Satz auf 1 Prozent steigen, bei drei Millionen auf 1,5 Prozent.
So sinnvoll eine Einführung wäre: Wagner zweifelt an der Durchführbarkeit. „Mit der Erbschaft- und Vermögensteuer liegt zwar ein ganz großer Bereich brach, ich sehe jedoch enorme Schwierigkeiten, diesen Schatz zu heben.“ Zwar spricht sich in Umfragen und Studien eine Mehrheit der Bevölkerung für eine Erbschaft- und Vermögensteuer aus, sie genießt bei den Parteien jedoch keine hohe Priorität. „In den letzten Jahrzehnten hat sich das neoliberale Narrativ durchgesetzt, dass Steuern und Abgaben eine Belastung seien, die reduziert werden müsse. Dieses Bild muss sich ändern. Es ist wichtig, den Diskurs zu verschieben, damit die Menschen die Leistungen hinter den Abgaben sehen und jede:r einen gerechten Beitrag leistet“, so Fuhrmann.
Umverteilung als zentrales Ziel
Ohne Erbschaft- und Vermögensteuer tut sich der Sozialstaat jedoch zunehmend schwer, einer wichtigen Aufgabe nachzugehen: der Umverteilung. „Ohne umverteilende Wirkung steigen das Konfliktpotenzial und die Perspektivlosigkeit, gerade bei Jugendlichen und Menschen ohne Arbeit“, warnt Fuhrmann. Die größte Chance, hier regulierend einzugreifen, hat der Staat bei den Einnahmen. Denn hier schafft es unser System aktuell nicht, diesen Effekt zu erzielen, weiß Wagner. „In Österreich wirkt der Sozialstaat primär über die Ausgaben umverteilend. Die Einnahmen, also unser Steuer- und Abgabensystem, haben diesen Effekt nicht. Sozialversicherungsbeiträge und Umsatzsteuer wirken regressiv. Fast alles, was in Österreich umverteilend ist, passiert auf der Ausgabenseite.“
Gefährlich für die Demokratie
Ein Sozialstaat müsse dafür da sein, dass es der Gesellschaft gut geht, erklärt Wagner. „Das Fundament des Sozialstaats ist die ausreichende Finanzierung durch Steuern und Abgaben. Damit kann gewährleistet werden, dass Risiken, wie Krankheit oder Erwerbslosigkeit, die im Laufe des Lebens entstehen, abgesichert sind“, ergänzt Fuhrmann. Das bedeutet, dass sich der Rückbau des Sozialstaates schlicht verbietet.
Denn nur weil es weniger Staatsausgaben gibt, werden die Aufgaben nicht weniger. Bildung, Gesundheit, Infrastruktur oder Sicherheit wollen und müssen finanziert werden, und wenn nicht solidarisch, dann von jeder und jedem privat. „In manchen anderen Ländern ist die Abgabenquote niedriger, dafür werden aber auch die Leistungen aufs Individuum ausgelagert. Was an Steuern und Abgaben weniger eingezogen wird, muss jede Person über den eigenen Nettolohn finanzieren, um sich für den Krankheitsfall, die Pension oder die Arbeitslosigkeit abzusichern oder um die Bildung zu bezahlen“, fasst es Fuhrmann zusammen.
In der Praxis funktioniere das nur bedingt – mit katastrophalen Folgen für die Gesellschaft als Ganzes, mahnt Wagner: „Was der Staat nicht leistet, muss die Privatperson zahlen. Wer dann wenig Geld hat, aber trotzdem Gesundheitsversorgung und Bildung für seine Kinder finanzieren muss, ist in einer schwierigen Situation. Das hat auch Einfluss auf die Partizipation an der Gesellschaft und der Demokratie. Gibt es keine sozialen Leistungen, ziehen sich die Menschen aus dem politischen Diskurs zurück, weil es an Zeit und Energie fehlt.“ Dann fällt die Dividendenzahlung aus. Was 2024 in der Sozialpolitik auf Österreich zukommen könnte, versucht Adi Buxbaum zu prognostizieren.