Hoher Bedarf an Nachhilfe
Die Chancenungleichheit belegt aber auch das seit mittlerweile 13 Jahren von der Arbeiterkammer durchgeführte Nachhilfebarometer. Demnach wurden im abgelaufenen Schuljahr 2022/23 78 Prozent der Kinder zumindest hin und wieder beim Aufgabenmachen, Lernen und Üben beaufsichtigt, knapp ein Viertel benötigte jeden Tag elterliche Hilfe, und fast ein Drittel der Schüler:innen bekam zusätzlich Nachhilfeunterricht. Am höchsten ist der Bedarf in der AHS-Oberstufe: Hier erhielten 44 Prozent der Jugendlichen Nachhilfe. Und in den Neuen Mittelschulen liegt die Nachhilfequote bei 39 Prozent.
Schulsozialarbeit ist super,
wenn man sie hat. Aber im momentanen
System sind alle überlastet.
Martina Prinz, Schuldirektorin
Tifernin Pletzer ist Schulsprecherin am BG/BRG Sillgasse in Innsbruck und stellvertretende AHS-Landesschulsprecherin in Tirol. Sie beklagt, dass das Machtverhältnis zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen immer noch riesig sei, „daher trauen sich viele auch nicht nachzufragen“. Nicht allen, aber einigen Lehrer:innen sei es offenbar ziemlich egal, ob Schüler:innen den Stoff verstehen. Die Folge: „Viele Jugendliche sind auf Nachhilfe angewiesen. Aber das kann sich nicht jede Familie leisten. Jugendliche brechen also die Schule ab, weil sie es alleine nicht schaffen.“
Elke Larcher, Bildungsexpertin in der AK Wien, kennt das Problem aus Sicht der Arbeitnehmer:innen. „Viele Eltern lernen nach der Arbeit noch mit ihren Kindern, das ist absurd. Weder bekommen die Familien so die Freizeit, die sie zur Erholung brauchen, noch haben die meisten Eltern die Kompetenz, Lernstoff zu vermitteln – sie haben eben keine Ausbildung zur Lehrkraft.“ Viele Mütter und Väter würden sich dennoch bemühen, das Lernen mit den Kindern irgendwie hinzubekommen. Jenen, die selbst nur eine kurze Schulzeit hatten, sei es aber schlichtweg nicht möglich, das zu leisten. „Sinnvoll ist es in beiden Fällen nicht“, betont Larcher. Jene Kinder allerdings, deren Eltern gar nicht helfen können, hätten schon „einen riesigen Startnachteil“.
Differenzierung schon bei Schuleintritt nötig
Wie groß dieser sein kann, weiß der Lehrer:innengewerkschafter Thomas Bulant. „Das pädagogisch größte Problem ist der Einstieg der Schüler:innen in die Schullaufbahn rund um den sechsten Geburtstag. Wir haben hier eine enorme Entwicklungsbandbreite – sie reicht vom Stand von Drei- bis zum Stand von Neunjährigen. Manche Kinder kommen schon mit einem Zahlenraumverständnis bis 100 in die Schule und können lesen, andere hinken motorisch um Jahre hinterher“, so der Personalvertreter für die Wiener Pflichtschullehrer:innen sowie Bundesvorsitzender der sozialdemokratischen Lehrer:innenvertretungen.
Die hier nötige Differenzierung könne von einem:einer Lehrer:in, der:die 25 Kinder zu unterrichten habe, nicht bewerkstelligt werden. Das unterstreicht auch die Bildungsexpertin Heidi Schrodt im Interview. „Die Volksschule hat in der Art, wie sie organisiert ist, keine Möglichkeit, die Defizite aufzuholen.“
Immer noch: Herkunft entscheidet
Dieser Entwicklungs- und Lernrückstandsrucksack wird mit den Jahren größer statt kleiner. Martina Prinz leitet in Leonding eine Mittelschule mit Musikschwerpunkt. Durch diesen Schwerpunkt habe sie an ihrer Schule noch eine gewisse Durchmischung der Schüler:innen. Das sei an vielen Mittelschulen, vor allem in den Städten, heute nicht mehr der Fall. „Die Trennlinie nach der Volksschule bildet nicht die Leistungsstärke, sondern die sozioökonomische Herkunft.“ Die Folge seien „Brennpunktschulen“, an denen Schüler:innen wenig voneinander lernen könnten und Pädagog:innen viel mit sozialen Problemen konfrontiert seien, wofür es aber wenig Unterstützung gebe. „Schulsozialarbeit ist super, wenn man sie hat. Aber im momentanen System sind alle überlastet.“
Das führt auch zur Überlastung von Lehrer:innen. Zusätzlich zur aktuellen Pensionierungswelle verlassen, ähnlich den Elementarpädagog:innen, immer mehr Lehrer:innen den Schuldienst. Das schwächt die Möglichkeiten der verbleibenden Pädagog:innen, den Bedürfnissen der Schüler:innen gerecht zu werden. Martina Prinz hat immerhin – dank zweier Quereinsteiger:innen – alle Lehrer:innenstellen an ihrer Schule für den nächsten Herbst besetzt. Andere Schulleiter:innen wissen dagegen noch nicht einmal, ob ihr Team komplett sein wird.
„Lernen muss positiv besetzt sein“
Stichwort Arbeitswelt: Die Herausforderungen für Arbeitnehmer:innen werden in den kommenden Jahrzehnten andere sein als für vergangene Generationen. Elke Larcher nennt hier als Beispiele den Einsatz künstlicher Intelligenz, den Klimawandel, die Digitalisierung, „und all das können wir uns heute nur so ein bisschen vorstellen“. Entwicklungen schritten immer rasanter voran, hier reiche das in der Schule erworbene Wissen nicht aus. Schule von heute sei also nicht nur ungerecht in Bezug auf die Chancengleichheit von Kindern, indem sie so tue, als seien alle Kinder gleich und bräuchten das Gleiche, sie bereite alle Kinder schlecht auf die Herausforderungen vor, mit denen sie als Erwachsene konfrontiert werden.
„Wir brauchen einen anderen Lernzugang: weg vom Faktenwissen, hin zu Problemlösungskompetenz. Außerdem ist es wichtig, den Selbstwert von Schüler:innen zu stärken“, so die AK-Expertin. Junge Menschen müssten verinnerlicht haben, dass sie Probleme lösen können. Dazu müsse Lernen auch positiv besetzt sein, damit auch später Weiterbildung in Anspruch genommen werde. Schulangst, wie sie heute immer noch oft bestehe, sei da ein schlechter Berater.
Vorbild Schweden
Der Blick nach Skandinavien zeigt, wie all das gelingen könnte. Die Bildungswissenschafterin Barbara Schulte von der Universität Wien hat viele Jahre in Schweden gelebt und geforscht. Sie hält das Schulsystem dort sogar für das bessere Vorbild als von Finnland, das durch gute PISA-Ergebnisse – eine weitere internationale Bildungsvergleichsstudie – seit Jahren von sich reden macht. In Finnland gebe es aber weniger migrantische Schüler:innen und vor allem sehr wenig Kinderarmut. Schweden dagegen habe ähnliche Voraussetzungen wie Österreich.
Was macht Schweden in seinem Bildungssystem anders als Österreich? Schule beginnt mit dem Kindergarten, der Vorschule genannt wird. Alle Pädagog:innen werden universitär ausgebildet. Bildungsrückstände zum Zeitpunkt der Einschulung sind daher nicht so stark ausgeprägt wie hierzulande, die Betreuungsverhältnisse sind besser, und: Schule kostet nichts. „Theoretisch kann ein Kind ohne Stift in die Schule gehen. Keine Aktivität darf etwas kosten“, so Schulte.
Lebensnah und aktuell
Auch der Zugang zum Unterrichten sei ein anderer. „Österreich fokussiert noch immer zu stark auf das stoffbasierte Lernen. Das gibt auch den Lehrkräften wenig Spielraum. In Skandinavien steht das problem- und projektbasierte Lernen im Vordergrund.“ Letzteres sei aber auch das nachhaltigere. Das betont auch AK-Bildungsexpertin Elke Larcher: „Wir wissen aus der Forschung, dass ein individualisiertes und interessengeleitetes Lernen stärker und effizienter ist als ein von oben aufgesetztes Lernen.“ Wichtig wäre auch, lebensnah und aktuell zu unterrichten. Derzeit würde das etwa heißen: Themen wie der Krieg in der Ukraine, die Inflation, die Energiekrise oder der Klimawandel müssten in der Schule behandelt werden.
Österreich fokussiert zu stark auf das stoffbasierte Lernen. Das gibt Lehrkräften wenig Spielraum. In Skandinavien steht das problem- und projektbasierte Lernen im Vordergrund.
Barbara Schulte, Bildungswissenschafterin
In Österreich kommen auch der soziale Aspekt und das Wohlbefinden der Kinder zu kurz, kritisiert Schulte. Der Zugang zu psychologischen und psychotherapeutischen Angeboten sei grundsätzlich – also auch außerhalb der Schule – schlecht. Schule braucht hier eine Struktur, die unterstützt. In Schweden etwa gibt es an jeder Schule eine:n Kurator:in. Diese:r ist meistens Sozialarbeiter:in und die erste Ansprechperson bei Problemen. Das sei, so Schulte, natürlich eine Ressource, die man bezahlen muss. „Aber es lohnt sich, weil man dann schon sehr früh reagieren kann.“
Gemeinsame und ganztägige Schule
Schule, wie sie heute in Österreich gelebt wird, funktioniert nicht mehr, sind sich die Bildungsexpert:innen einig. Was es nun dringend brauche, sei ein Kassasturz, sagt die Bildungsexpertin Heidi Schrodt. „Wir müssen schauen: Woran mangelt es? Wo müssen wir prioritär ansetzen?“ Schrodt definiert hier folgende Eckpunkte: Erstens beginnt Bildung bereits im Kindergarten, deshalb sollten Elementarpädagog:innen auch an der Uni oder einer Fachhochschule ausgebildet werden. Zweitens ist die Trennung im Alter von zehn Jahren kontraproduktiv. Diese frühe Trennung gibt es in keinem anderen OECD-Land. Die gemeinsame und ganztägig geführte Schule muss das Gebot der Stunde sein. Und drittens benötigt Schule viel mehr zusätzliches Personal unterschiedlichster Berufsbilder – Sozialarbeiter:innen, Psycholog:innen, aber auch verschiedenste Therapeut:innen und Förderpädagog:innen.
„Wir brauchen einen individualisierten Unterricht, der auf das einzelne Kind zugeschnitten ist, sodass kein Kind aufgrund seiner Herkunft zurückgelassen wird“, betont Schrodt. All das bedinge einen viel höheren Personalbedarf. Und je größer die Herausforderungen einer Bildungseinrichtung seien, desto mehr Ressourcen müsse es geben. Die AK hat hier mit dem Chancenindex auch ein Modell vorgelegt, mit welchem die Mittel besser verteilt würden – eben hin zu den Schulen, in denen es viele Kinder gibt, die Förderung brauchen.
Hier hakt auch die Direktorin Martina Prinz ein: Derzeit seien die Mittel für die Unterstützung von Schüler:innen mit besonderen Bedürfnissen gedeckelt. Inklusion sei so nur für einen Teil der Betroffenen möglich – denn die Anzahl der Kinder mit Beeinträchtigungen richte sich eben nicht nach der vorgegebenen Quote von 2,7 Prozent. Tatsächlich gebe es rund doppelt so viele Schüler:innen, die Förderung bräuchten.
Größere und kleinere Lernräume schaffen
Prinz fordert auch, sich dem Thema Schulbauten zu widmen. „Wir sollten die Kinder aufs Leben vorbereiten und sie nicht frontal beschallen. Aber in einer Gangschule aus der Zeit Maria Theresias ist das nicht möglich.“ Gerade in den Städten gebe es noch viele solcher Schulgebäude.
Es brauche an einer Schule größere und kleinere Lernräume. Das würde auch das ermöglichen, was der Lehrer:innengewerkschafter Thomas Bulant als wichtig erachtet: dass Kinder, die Defizite aufweisen, rasch unterstützt werden. „In Skandinavien wird dann in Kleingruppen daran gearbeitet, dass das rasch aufgeholt und das Kind schnell wieder in die Klasse integriert wird. Bei uns werden zuerst lange Belastungsberge aufgebaut, und wenn sie dann langsam abgebaut werden, entstehen schon die nächsten Belastungsberge.“ Bulants Fazit: „Das ganze System ist weder kinder- noch lehrer:innenfreundlich.“
Die AK hat viele Ideen, wie die Schule verbessert werden kann, hier ein kleiner Ausschnitt. #bessereSchule #bessereChancen #SomussSozialstaat pic.twitter.com/qrB6EuFmZG
— AK Österreich (@Arbeiterkammer) September 5, 2022
Auch er sieht die Lösung in einem früheren Kindergartenstart für alle Kinder sowie in der gemeinsamen Schule bis zum Pflichtschulabschluss. Und es brauche Förderung nicht nur bei Schwächen, sondern auch bei Stärken. Das könne nur bewerkstelligt werden, wenn Lehrer:innen jeweils weniger Kinder zu unterrichten hätten, als dies heute der Fall sei. „Vor allem in der Volksschule braucht es mehr Betreuung, um sich jedem einzelnen Kind widmen zu können. Das ist das Wesentliche. Das werden wir auch nicht durch irgendeinen digitalen Schmonzes ersetzen können. Hier zählt der Mensch.“
Und was wünschen sich die Schüler:innen? „Wir wollen mitentscheiden können, was wir lernen“, sagt die Schüler:innenvertreterin Pletzer. „Wir wollen mehr fächerübergreifenden Unterricht, offenes Lernen und auch einfach mal hinausgehen aus dem Klassenzimmer.“ Pletzer weiß, dass auch Lehrer:innen unter Druck stehen, da sie im derzeitigen System den Stoff durchbringen müssten. Mehr Freiräume für Lehrpersonen würden daher auch den Schüler:innen zugutekommen, ist sie überzeugt. „Es geht ja darum, dass wir alle verstehen, was wir lernen.“