Tatsächlich sehen sich die Kollektivverträge in Österreich zunehmenden Angriffen ausgesetzt. Sie werden juristisch untergraben oder umgangen. Zwar kommt es nur selten zu offenen Kündigungen seitens der Arbeitgeber. Die braucht es aber oft gar nicht, um Löhne zu senken oder Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Es gibt genug Möglichkeiten zum Tricksen.
Ein prominentes Beispiel ist die über Jahre andauernde Auseinandersetzung der Gewerkschaften PRO-GE und GPA-djp über die richtige Einstufung der Beschäftigten der Wiener Bäckereikonzerne Ströck und Mann. Für Großbäckereien gibt es einen Industrie-Kollektivvertrag. Er wird aber nur von relativ wenigen Betrieben angewendet, sehr prominent darunter Anker und Ölz.
Ströck, ein Konzern mit immerhin 1.800 Beschäftigten, legt in seiner Außendarstellung großen Wert darauf, ein Familienbetrieb zu sein, und bezahlt deshalb nach dem Gewerbe-Kollektivvertrag. Für die Beschäftigten bedeutet das Lohneinbußen. Für die Gewerkschaften gibt es keine rechtliche Möglichkeit, sich dagegen zu wehren (siehe Kasten).
Scheinselbstständigkeit
Verstärkter Druck auf Kollektivverträge entsteht auch dadurch, dass es heute zunehmend Formen von Lohnarbeit gibt, welche buchstäblich aus dem „klassischen“ kollektivvertraglichen Rahmen fallen. Beispiele dafür sind Fahrradbotendienste und das Kleintransportgewerbe. In Letzterem seien 80 Prozent der Beschäftigten Scheinselbstständige, sagt Karl Delfs von der Gewerkschaft vida. Diese arbeiten per Gewerbeschein und werden pro ausgeliefertem Paket bezahlt. „Ich bin gegen Akkordarbeit. Da steckt eine hohe Selbstausbeutung dahinter“, so Delfs. „Es wird auch die Situation von Asylsuchenden ausgebeutet. Sie dürfen nicht lohnabhängig arbeiten, aber ein Gewerbe anmelden. Also landen sie in solchen Jobs.“
Im Kleintransportgewerbe sind 80 Prozent
der Beschäftigten Scheinselbstständige.
Sie arbeiten per Gewerbeschein und werden
pro ausgeliefertem Paket bezahlt.
Karl Delfs, Gewerkschaft vida
Seit 1. Jänner 2020 gibt es einen neuen Kollektivvertrag für FahrradbotInnen, der von der Gewerkschaft vida mit dem Fachverband für das Güterbeförderungsgewerbe ausgehandelt wurde. Laut Gewerkschaft handelt es sich um den ersten Kollektivvertrag dieser Art weltweit – ein Verhandlungserfolg. Fraglich ist aber derzeit, wie viele FahrradbotInnen von dem neuen Kollektivvertrag erfasst werden. Er gilt nämlich nur für FahrradbotInnen, die als „ArbeiterInnen“ angestellt sind.
In einem am 17. September 2019 auf der Webseite des ORF veröffentlichten Artikel findet sich diesbezüglich folgende Aussage des Lieferserviceunternehmens „Mjam“: „Ungefähr zehn Prozent unserer 1.200 Fahrradkuriere in Österreich, die fallweise oder regelmäßig für uns arbeiten, haben eine fixe Anstellung, und für sie gilt der neue KV.“ Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass der Kollektivvertrag für 90 Prozent der Beschäftigten nicht gilt. „Als Gewerkschaft haben wir da noch kein Datenmaterial“, sagt Karl Delf. „Wir wollen aber bis März daran arbeiten.“
Baustelle Umstrukturierungen
Eine weitere Baustelle ist der Bereich der Umstrukturierungen. „Umstrukturierung bedeutet, dass zum Beispiel eine Bank ihre Reinigungskräfte in ein separates Unternehmen ausgliedert“, erklärt ÖGB-Experte Martin Müller. „Die werden dann nicht mehr nach Banken-Kollektivvertrag, sondern einem wesentlich niedrigeren bezahlt. Oder nehmen wir die Betriebskantinen: Viele Unternehmen haben ihre Kantinen in eine eigene Unternehmensstruktur ausgegliedert, damit sie für die Kantinen-MitarbeiterInnen nicht ihren eigenen, sondern nur den niedrigeren Gastro-Kollektivvertrag zahlen müssen.“
Eine Umfrage der Arbeiterkammer unter 350 BetriebsrätInnen aus dem Jahr 2016 bestätigt dieses Bild. So geben 92 Prozent der Befragten an, dass das Ziel von Umstrukturierungen die Einsparung von Kosten gewesen sei. 82 Prozent gaben an, dass es den Unternehmen um Personaleinsparungen gegangen sei. Ebenfalls 82 Prozent halten die „Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit“ bei der Entscheidung für eine Umstrukturierung für bedeutend. 85 Prozent berichten, dass Umstrukturierungen in ihrem Unternehmen mit der Erhöhung des Arbeitsdrucks einhergegangen seien. Hier zeigt sich, wie jede durch Auslagerungen erfolgte Schwächung von Kollektivverträgen letztlich auf die ArbeitnehmerInnen zurückfällt.
Auch die europäische Rechtsprechung wirkt auf die österreichischen Kollektivverträge ein. Ein Beispiel ist die Firma „Henry am Zug“, welche für die ÖBB das Catering auf der Bahnstrecke Budapest–München durchführt. „Henry am Zug“ wurde im Jahr 2016 mit einer Strafe belegt, weil deren Beschäftigte nicht nach österreichischem Recht entlohnt wurden. Der Europäische Gerichtshof hat diese Strafe nun aufgehoben, weil die Beschäftigten ihre Arbeit in Ungarn antreten und beenden würden und somit keine „hinreichende Verbindung“ zur Tätigkeit in Österreich bestehe. Somit legalisierte der Gerichtshof Lohndumping in Österreich.
Drei Fragen zum Thema
Wie umgehen Unternehmen den Kollektivvertrag?
Unternehmen wie Ströck und Mann zahlen nicht nach Industrie-KV für Großbäckereien, sondern nach Gewerbe-KV. Für die Gewerkschaften ist dies eine falsche Zuordnung – mit enormen Nachteilen für die Beschäftigten. Denn der Industrie-KV würde für sie ein um 15 Prozent höheres Gehalt bringen.
Warum kommen die Unternehmen damit durch?
Weil Schlupflöcher im Kollektivvertragssystem geschickt ausgenutzt wurden. Der Konflikt schwelt seit 2013. Damals legten die Gewerkschaften GPA-djp und PRO-GE eine Beschwerde gegen Ströck und Mann bei der Wirtschaftskammer Wien ein. Eine Einigung scheiterte auch deshalb, weil die Gewerbe- und Industriesparte innerhalb der Wirtschaftskammer unterschiedliche Auffassungen vertraten. Für die Industriesparte handelte es sich bei Ströck und Mann um Industriebetriebe, die Gewerbesparte sah in den beiden Unternehmen aber Handwerksbetriebe. Der Vorteil für die Konzerne: Sie mussten ihr Verhalten nicht ändern.
Wie wurde der Konflikt gelöst?
2014 landete der Fall beim Wirtschaftsministerium. Dieses schlug sich auf die Seite von Ströck und Mann. Seitdem gilt für beide Unternehmen der Gewerbe-KV. Der Industrie-KV ist damit bei den Großbäckereien zu einem großen Teil entwertet worden. Die Gewerkschaften konnten dem Schauspiel weitgehend nur von der Seitenlinie aus zuschauen. Fraglich bleibt, inwieweit staatliche Ministerien geeignete Entscheidungsträger bei Einstufungskonflikten dieser Art sind. Faktisch ist der Gewerbe-KV zu einem Flucht-Kollektivvertrag geworden.
Christian Bunke
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 2/20.
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