Schauplatz Frauenwohnraum

Eine Frau steht an einem Herd und kocht. Hinter ihr stehen zwei weitere Frauen. Symbolbild für das Frauenwohnprojekt im Kabelwerk.
Frauenwohnprojekt KalYpso: Im Gemeinschaftsraum wird gespielt, gekocht, gefeiert oder Yoga gemacht. | © Markus Zahradnik
Hilfsbereitschaft, Selbstbestimmung, Gemeinschaft, Partizipation: In Wien zeigen exemplarische Frauenprojekte des sozialen Wohnbaus vor, wie man eine hohe Wohnzufriedenheit schafft.
Das Gebäude mit der begrünten Fassade in der Oswaldgasse 35 im 12. Wiener Gemeindebezirk wirkt von außen wie ein durchschnittliches Wohnhaus. Doch im Inneren des Sozialbaus ist vieles in Frauenhand. Partizipation ist ein wichtiger Teil der Hausgemeinschaft, Hilfsbereitschaft und die kollektive Gestaltung von Freiflächen und Gemeinschaftsräumen werden hier großgeschrieben. Das Ergebnis ist ein neuartiges Wohn- und Lebenskonzept, bei dem eine hohe Zufriedenheit durch starke Selbstbestimmung Platz greift. Zwei Drittel der 43 Wohnungen im Kabelwerk wurden und werden direkt über den Verein [ro*sa] KalYpso vergeben. Wer hier einzieht, will Teil einer besonderen Gemeinschaft sein – ein innovatives Frauenwohnprojekt

Ingrid Shukri Farag, Bewohnerin der ersten Stunde, Mitinitiatorin und Verhandlerin, erklärt das Konzept des partizipativen Miteinanders im Haus: „Wir legen großen Wert auf Gemeinschaftsräumlichkeiten und kollektiv nutzbare Freiflächen. Wir helfen einander, und viele von uns verbringen auch gerne einen Teil ihrer Freizeit miteinander.“ Bewohnerin Regina schätzt vor allem den Zusammenhalt und die Möglichkeiten zur Mitbestimmung.

Gemeinschaft mit Gefühl im Frauenwohnprojekt

Die grundsätzliche Idee des Frauenwohnprojektes ist es, Frauen mit unterschiedlichstem Hintergrund (Wohn-)Raum zu geben und sich gegenseitig zu unterstützen. So leben in der Oswaldgasse alleinstehende Frauen mit oder ohne Haustier ebenso wie solche im klassischen Vater-Mutter-Kind-Verband oder Frauen in gleichgeschlechtlichen Beziehungen: „Wir sind eine große Gemeinschaft.“

Der zentrale Treffpunkt ist der etwa 80 Quadratmeter große Gemeinschaftsraum mit Küche im ersten Stock, an den eine weitläufige Dachterrasse anschließt. „Hier feiern wir gemeinsame Feste, es wird gespielt, gekocht, ferngesehen oder Yoga gemacht“, erzählt Farag. Über einen Tür-Kalender kann jederfrau den Raum kostenlos für individuelle Feste oder Aktivitäten reservieren. Wichtig sei es, den Raum so zu hinterlassen, wie man ihn vorgefunden habe.

„Wenn es darum geht, Lösungen zu finden, die für alle verträglich sind, können wir auch kreativ sein“, erklärt Farag. So entstand die Treppe von der Terrasse hinunter in den Garten aus dem Bedürfnis heraus, rasch vom Gemeinschaftsraum in die Freifläche zu gelangen: „Dort wachsen im Sommer Küchenkräuter und schöne Blumen, die für alle nutzbar sind. Es gibt auch eine Sandkiste und eine Schaukel für Kleinkinder.“ Gegenseitige Rücksichtnahme ist für alle wichtig: „Eine Bewohnerin hat einen aufhängbaren Türstopper aus Stoff genäht, damit das Zuschlagen der Tür nicht im ganzen Haus widerhallt.“

Gleichwertiges Zusammenleben

Neben Kinderwagen- und Fahrradraum gibt es in der freundlichen Anlage mit der begrünten Außenfassade zusätzlich einen Gemeinschaftskeller mit Tiefkühltruhe. Trotz der kollektiven Nutzung seien die allgemeinen Flächen limitiert: „Da wir die Betriebskosten für die Gemeinschaftsflächen über den Quadratmeterpreis mitbezahlen, mussten wir uns begrenzen, um die Mieten niedrig zu halten.“ Diese liegen aktuell bei 8,50 Euro pro Quadratmeter.

Farag ist stolz auf die einzigartige Struktur des Projektes und die Initiative des Vereins: „Die Frauenwohnprojekte sind von uns Frauen initiiert und umgesetzt worden.“ Unter dem Motto „Verträge in Frauenhand!“ wollen die Bewohnerinnen „in einer von und durch Frauen bestimmten Gemeinschaft unabhängig von ihrer sozialen oder kulturellen Herkunft gleichwertig zusammenleben. Natürlich sind auch Männer in der Hausgemeinschaft herzlich willkommen, die Mietverträge der Wohnungen, die über den Verein vergeben werden, werden jedoch ausschließlich mit Frauen abgeschlossen. Mit wem die Frau dann einzieht, ist ihre Privatsache.“

Gegenseitige Chemie

Das Frauenwohnprojekt in der Oswaldgasse entstand im August 2009 als erstes derartiges Wohnprojekt in Wien unter dem Namen „KalYpso“ – abgeleitet vom Standort im Meidlinger Kabelwerk und dem Bauteil Y.

Porträt Ingrid Shukri Farag, eine Bewohnerin der ersten Stunde des Frauenwohnprojekts.
Ingrid Shurki Farag stieß selbst durch reinen Zufall auf das Projekt: „Ich wollte meine Wohnsituation verändern und war auf der Suche. Ich wollte mehr Gemeinschaft als in einem gewöhnlichen Wohnumfeld und habe mich tatkräftig in die Entwicklung des Vereins und des gesamten Projektes eingebracht.“ | © Markus Zahradnik

Wer eine Wohnung im 12. Bezirk haben möchte, kann dem Verein schreiben. Der etablierten Hausgemeinschaft geht es laut Farag auch um ein persönliches Kennenlernen neuer Bewohnerinnen. „Wenn du magst, schreib uns doch auch bitte, wie du lebst und wie du liebst, was du beruflich machst und was dich überhaupt an unserem Frauenwohnprojekt interessiert. So können wir uns schon ein wenig ein Bild von dir machen!“, heißt es dazu auf der Homepage des Vereins. „Wir haben eine Liste von interessierten Frauen, wollen sie vor dem Einzug kennenlernen und beurteilen, ob sie zu uns passen“, präzisiert Farag. Stimmt die gegenseitige Chemie, kommen die Daten der neuen Bewohnerin an den Bauträger, der sodann den Mietvertrag erstellt.

Alles in [ro*sa]

Die Idee für ein von Frauen für Frauen geplantes Wohnprojekt kam 2003 von Sabine Pollak, einer Universitätsprofessorin, die zum Thema „Frauen und Wohnen“ geforscht hat: „Frauen verfügen häufig über weniger finanzielle Mittel, traditionell sind Miet- und Eigentumsverträge oft in Männerhand“, erklärt Farag. Allmählich formte sich eine Gruppe interessierter Frauen, die Idee vom selbstbestimmten Wohnen ließ sie nicht mehr los. „Wir haben uns regelmäßig getroffen und überlegt, wie wir es schaffen können, uns im eigenen Haus und im umliegenden Grätzl wohlzufühlen und unsere Umgebung nach unseren Vorstellungen und Bedürfnissen zu gestalten.“

Im Juni 2003 gründete die Frauengruppe den Verein [ro*sa], in unzähligen Workshops, Vereinstagen und Arbeitsgruppen wurden „Utopien und Träume entworfen, Vorstellungen und Wünsche konkretisiert“. Farag erinnert sich lebhaft daran, wie der Name entstanden ist: „Der Schriftzug in der Farbe Blau wird von einer eckigen Klammer zusammengehalten, weil die Lebensentwürfe von Frauen oft von Unterbrechungen bzw. Brüchen geprägt sind – beispielsweise durch Schwangerschaft, Kindererziehung oder auch durch die Pandemie.“ Das Gender-Sternchen steht für Personen jeglichen Geschlechts.

Eine Frau arbeitet im kleinen Garten des Frauenwohnprojekts.
„Wenn es darum geht, Lösungen zu finden, die für alle verträglich sind, können wir auch kreativ sein“, erklärt Ingrid Shukri Farag und weist auf die gemeinsame Nutzung der Freifläche hin. | © Markus Zahradnik

Langfristige Absicherung in prekären Lebenslagen

Als die größte Herausforderung beschreibt die quirlige Frau die Suche nach einem geeigneten Grundstück für das konkret gewordene Frauenwohnprojekt: „Ende 2006 zeichneten sich zwei erfolgversprechende Bauoptionen ab, und beide wurden verwirklicht. Der Verein teilte sich in zwei Nachfolge-Vereine, daraus entstanden das Frauenwohnprojekt [ro*sa] KalYpso im 12. Bezirk, das von der Kabelwerk GmbH errichtet wurde, sowie der Verein [ro*sa]²² für das Wohnprojekt in der Anton-Sattler-Gasse 100 in der Donaustadt.“

Die Planung für die 40 Wohnungen im 22. Bezirk bekam Sabine Pollak. Seit 2015 gibt es ein drittes Wohnprojekt mit 49 Wohneinheiten in der Mautner-Markhof-Gasse 28 in Simmering: [ro*sa] im Elften. Ein viertes Wohnprojekt mit 44 Wohnungen, die alle über den dortigen Verein vergeben werden können, wird aktuell in der Donaufelder Straße 200 im 22. Bezirk als [ro*sa] Vielfalt geplant. Jedes Wohnprojekt hat einen eigenen Verein, um die Vergabe der Wohnungen, die zwischen 35 und 120 Quadratmeter groß sind, abzuwickeln. Die Vereine sichern den Wohnraum für Frauen in prekären Lebenslagen langfristig ab.

Wenn Not an der Frau ist

Farag selbst stieß durch reinen Zufall auf das Projekt: „Ich wollte meine Wohnsituation verändern und war auf der Suche. Ich wollte mehr Gemeinschaft als in einem gewöhnlichen Wohnumfeld und habe mich tatkräftig in die Entwicklung des Vereins und des gesamten Projektes eingebracht.“ Angemeldete Frauen konnten sich aktiv an der Grundrissgestaltung beteiligen und so ihr künftiges Umfeld mitgestalten. „Wir haben mitbestimmt, welche Flächen gemeinschaftlich nutzbar sein sollen.“ Die Vorteile der engen Gemeinschaft liegen für Farag auf der Hand: „Jede ist hin und wieder krank. Wir helfen uns stärker als gewöhnliche Nachbar:innen. Da wird schon mal füreinander gekocht oder bei der Körperpflege geholfen, wenn Not an der Frau ist.“

Eine Frau hängt einen Schal auf einen Wäscheständer. Symbolbild für das Frauenwohnprojekt.
In der geräumigen Waschküche kann Regina ihre Kleidung waschen und trocknen. Auf einem Kalender ist ersichtlich, welche Bewohnerin wann waschen will. | © Markus Zahradnik

Seit August 2009 ist das Haus bewohnt, der Verein vergab bereits 30 der 43 Wohnungen. Die Gemeinschaft wächst und gedeiht, angesichts der krisenhaften Zeiten sei das Gold wert: „Wir Frauen unterstützen uns gegenseitig in vielfältiger Weise. Neben der Nachbarschaftshilfe, die teilweise zu freundschaftlichen Beziehungen gewachsen ist, können wir uns über den Verein auch finanziell auffangen.“ Im Haus gibt es einen Sozialfonds, der aus Vereinsbeiträgen gespeist wird: „Manche gemeinsamen Projekte im Haus werden vom Verein finanziert – jede Mitfrau zahlt monatlich einen selbst gewählten Betrag ein. 10 Prozent der Vereinsgelder sind für den Sozialfonds reserviert. Wenn eine Frau mit den Mietzahlungen in die Enge kommt, kann sie bei dem Fonds ein zinsloses Darlehen vereinbaren, das dann langfristig zurückgezahlt wird“, erklärt Farag. Hier wird eine Art kollektive Wohnraumsicherung gelebt, die in prekären Situationen unterstützt. Das verhindert, dass Bewohnerinnen möglicherweise obdachlos werden.

Ungezwungene Gemeinschaft

Trotz des Willens zur Harmonie gibt es auch im Frauenwohnprojekt hin und wieder Unstimmigkeiten und kleine Streitereien. Hier sind Farag, die selbst ausgebildete Psychotherapeutin ist, eine offene Kommunikation und die Aufarbeitung der Konflikte wichtig: „Wir reden viel miteinander und versuchen, unterschiedliche Standpunkte auszudiskutieren. Einmal im Jahr machen wir gemeinsam Supervision mit professioneller Begleitung, um Missverständnisse auszuräumen und Befindlichkeiten zu glätten.“ Bei Gemeinschaftsentscheidungen kann jede Wohnung eine Stimme abgeben, egal wie viele Bewohnerinnen darin leben.

Die Ankerpunkte des guten Zusammenlebens bleiben für Farag „unsere ungezwungene Gemeinschaft, die weit über Blumengießen und Postholen hinausgeht.“ Die Hilfsbereitschaft gehe so weit, dass manche anderen nach Verletzungen oder Operationen beim Haarewaschen oder im Haushalt helfen: „In solchen Fällen brauchen Betroffene dann keine professionelle Hilfe zu bezahlen, eine enge Freundschaft kann zeitweise auch derartige Bedürfnisse abdecken, wenn man sich nicht voreinander geniert. Gegenseitige Unterstützung und Austausch werden bei uns tatsächlich gelebt.“

Eine Frau steht mit einer Gießkanne auf einer Stiege. Symbolbild für das Frauenwohnprojekt.
Die Ankerpunkte des guten Zusammenlebens bleiben für Farag „unsere ungezwungene Gemeinschaft, die weit über Blumengießen und Postholen hinausgeht.“ | © Markus Zahradnik

Einzigartiges Gemeinschaftsgefühl, einzigartiges Frauenwohnprojekt

Natürlich seien nicht alle mit allen befreundet, das empfände Farag auch als unnatürlich: „Es gibt unterschiedliche Neigungsgruppen im Haus. Manche gehen gerne miteinander wandern, andere sind oft gemeinsam im Kino. Es gibt Grüppchen, die Karten spielen, manche kochen miteinander oder pflegen unseren schönen Garten.“ Frauen in ähnlichen Lebenssituationen und vergleichbarem Alter seien froh über gegenseitige Unterstützung „über das übliche Maß der Nachbarschaftshilfe hinaus“. Dazu gehörte auch die Organisation eines „Radldienstes“ für nächtliche Einsatzbereitschaft, als eine Frau nach einem Spitalsaufenthalt eine Zeit lang auf den Rollstuhl angewiesen war und im Bedarfsfall Unterstützung auch in der Nacht benötigte.

Für solch große Gefälligkeiten gibt es dann schon mal das eine oder andere Mitbringsel beim monatlichen Brunch, der im Gemeinschaftsraum stattfindet und allen Bewohnerinnen offensteht: „Da tauschen wir uns aus, da hört man auch, was andere in den letzten Wochen Gutes oder Schlechtes erlebt haben. Da entsteht dann unser einzigartiges Gemeinschaftsgefühl“, schwärmt Farag. Probleme bedeuten in der Oswaldgasse nicht wie andernorts automatisch auch Rückzug. „Wir leben hier nicht Wohnung an Wohnung alleine nebeneinander. Wer will, spricht auch über heikle Themen mit den anderen – etwa über die Leistbarkeit der aktuellen Energiekosten und Möglichkeiten, andere bei der Bewältigung der aktuellen Teuerungskrise zu unterstützen.“

Über den/die Autor:in

Andrea Rogy

Andrea Rogy schreibt unter anderem für die NÖN und arbeitet als Lektorin
im Studiengang Soziale Arbeit an der Fachhochschule St. Pölten.

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