Die Frage, ob man einen Schlafsack mithabe, hört man gerne von Freund:innen, wenn der Abend lang und die Heimfahrt weit ist. Weniger gern hört man ihn um neun Uhr morgens auf 1.483 Meter Seehöhe von Baumanagern in einem Container, während draußen der Sturm tost und man noch einen halben Tag Recherchearbeit vor Ort vor sich hat. Der Container wurde von den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) aufgestellt. Wir sitzen an einem riesigen Besprechungstisch und sehen eine Powerpoint-Präsentation zum Pumpspeicherkraftwerk Tauernmoos, das die ÖBB hier errichten, um grünen Strom für den Zugbetrieb künftig speichern zu können. Nach der Präsentation ist die Besichtigung der unterirdischen Baustelle und der Speicherseen geplant. Ob Zweiteres möglich sein wird, bleibt noch offen.
Peter Herzog, Baumanager des Projekts und „Dreh- und Angelpunkt auf der Baustelle“, sagt: „Wir haben einen Föhnsturm, also es wird heute spannend. Wir haben auch den Bau teilweise eingestellt, weil da oben haben wir eine extreme Windschneise und erwarten heute über 150 km/h Windgeschwindigkeit.“ Eine Übernachtung wäre hier gar nicht so schlimm. Der Werksgruppenleiter Werner Maier schafft gleich eine vertraute Atmosphäre: „Ich glaub, wir können eh per Du sein, wenn’s okay ist? Auf 2.000 Metern sind wir sowieso per Du.“ Auf 2.000 Metern liegt der untere der beiden Stauseen.
Strom speichern für den Bahnbetrieb
Seit 2020 wird an dem Pumpspeicherkraftwerk Tauernmoos gebaut, 2025 soll es fertig sein. „Dann können die ÖBB die bestehenden Speicherseen noch umfangreicher nutzen und Strom nicht nur produzieren, sondern auch speichern“, erläutert Maier. Das funktioniert, indem zwei Stauseen, die auf unterschiedlicher Seehöhe liegen, unterirdisch verbunden werden. Mit überschüssiger Energie wird das Wasser des unteren, des Tauernmoossees, in den oberen, den Weißsee, gepumpt. Zusätzlicher Strom wird gewonnen, indem das Wasser durch die unterirdischen Rohre zurück in den Tauernmoossee fließt.
Wir haben keinen Schlafsack mit. Wir haben in einer rustikalen Pension in Uttendorf übernachtet. Die Fahrt zum Enzingerboden, wo der Container steht, war nicht besonders windig. Man erreicht den Enzingerboden über eine kurvige asphaltierte Gebirgsstraße, an deren Rand Rundholz gestapelt ist. Kurz vor einer engen Kurve mit Felswand rechts und Abhang links kommt uns ein Holztransporter entgegen. Nach einer Schrecksekunde schieben wir zurück, und der Transporter kann passieren.
Kletternd oder mit Tourenskiern
Beim Frühstück erzählte uns der Pensionsbetreiber, die Serpentinenstraße zum Enzingerboden bestehe schon seit 100 Jahren. Er ist jetzt in Pension, aber hat selbst in den Kraftwerken gearbeitet. Dementsprechend viel kann er über die Gegend und ihre Geschichte erzählen. Tatsächlich kommen alle Mitglieder der sogenannten Werksgruppe Mitte aus Uttendorf oder benachbarten Dörfern. Eine Anfahrt von maximal einer Stunde ist wichtig, vor allem im Fall von Störungen. Die Werksgruppe besteht aus rund 50 Mann – Männer, die sich im alpinen Gebirge mit dem Auto, zu Fuß, kletternd oder mit Tourenskiern fortbewegen können. Sie sind zuständig für den Betrieb und die Instandhaltung von vier Kraftwerken im Stubachtal sowie den Kraftwerken in Kärnten, wo gerade das Kraftwerk Obervellach neu gebaut und 2024 fertiggestellt wird. Ab 2025 kommt das Pumpspeicherkraftwerk Tauernmoos dazu.
Alpinist:innen kennen diese Gegend im Salzburger Pinzgau und verweisen beim Namen Uttendorf auf die Rudolfshütte, eine vom Alpenverein erbaute Berghütte, die mittlerweile zum Drei-Sterne-Superior-Berghotel avanciert ist. Wir befinden uns im Nationalpark Hohe Tauern, konkret im Stubachtal – im Marketingsprech „Weißsee Gletscherwelt“ genannt. Auf der Website des Nationalparks Hohe Tauern heißt es, die Weißsee Gletscherwelt sei ein „Wander- und Aussichtseldorado“. Doch bei den heutigen Windgeschwindigkeiten wandert heute niemand. Auch wir blasen die für den Anschluss an unseren Termin geplante Tour wieder ab, bei der imposante Panoramafotos des „Aussichtseldorados“ entstehen hätten sollen.
Sicherheit im Berg
Nach der Präsentation bekommen wir eine kurze Sicherheitseinschulung. Wer die Baustelle betritt, hat Sicherheitskleidung zu tragen, sich ein „Piepserl“ umzuhängen und sich in eine Liste einzutragen – um ein paar Vorschriften zu nennen. Ich lege eine gelb leuchtende Sicherheitsweste, den sonnengelben ÖBB-gebrandeten Helm und die ebenfalls gelben Sicherheits-Gummistiefel an.
Mit einem Kleinbus geht es dann durch lange Tunnel, die an einer Seite mit Leuchtstoffröhren ausgeleuchtet sind. Inklusive der Wasserwege wurden hier seit 2020 elf Kilometer Stollen in den Berg gesprengt, 9,5 davon sind Erschließungstunnel. So sind die beiden Stauseen und die Kaverne als Herzstück im Pumpspeicherkraftwerk Tauernmoos sowohl für die Bauarbeiten als auch die späteren Wartungsarbeiten der Anlagen leichter erreichbar. Die neuen Tunnel verlängern das bestehende Stollensystem auf 60 Kilometer. Durch die Tunnel können 750 Höhenmeter in null Komma nichts überwunden werden. Sie sind groß genug, um die riesigen Maschinen und Bauteile in die Anlage zu transportieren. Vor dem Tunnelbau mussten die Mitglieder der Werksgruppe die ÖBB-eigene Seilbahn nehmen, die jetzt eingestellt wurde und an einem Tag wie heute nicht in Betrieb gehen hätte können. Oder sie wären zu Fuß oder mit Skiern zu den Anlagen gelangt.
Zurück zu den Wurzeln
Einer von ihnen ist Günter Blumthaler, der nach einer steilen Gewerkschafter-Karriere seit März wieder in der Werksgruppe Mitte arbeitet und Betriebsratsmitglied ist. Bis dahin pendelte er zehn Jahre zwischen seiner Heimat Uttendorf und Wien hin und her, wo er unter anderem Zentralbetriebsratsvorsitzender, stellvertretender Konzernbetriebsratsvorsitzender, Aufsichtsratsmitglied, Fachbereichsvorsitzender Eisenbahn und Fraktionsvorsitzender der Gewerkschaft vida war – eine aufregende und erfolgreiche, aber auch sehr einsame Zeit fern der Familie und Heimat, die „psychisch und physisch“ an ihm nagte: „Ich hab in Wahrheit wieder zu den Wurzeln zurückgefunden: Ich hab hier meine berufliche Laufbahn begonnen, und jetzt möchte ich sie in den letzten sieben Jahren meiner Tätigkeit hier wieder beenden.“
Blumthaler lacht, wenn er erzählt, dass er 1990 hierhergekommen ist, als das Kraftwerk Uttendorf II eröffnet wurde, und dass er jetzt wieder hier ist, wo das Pumpspeicherkraftwerk Tauernmoos gebaut wird. Er kam mit 14 Jahren zu den ÖBB, wo er Maschinenschlosser lernte und verschiedene Tätigkeiten durchlief, bis er zur Kraftwerksgruppe nach Uttendorf kam. Heuer feiert der 55-Jährige sein 40-jähriges Firmenjubiläum und meint, „ein ÖBBler ist eine eigene Spezies“, erst recht die „Kraftwerker“: „Wenn du da arbeitest, dann lebst du das Kraftwerk. Auch wenn du in Wien bist oder woanders, du bist immer ein Kraftwerker.“ Und obwohl er jetzt keine Funktion mehr hat, bleibt er auch „ein leidenschaftlicher Gewerkschafter“.
Diesel und Wasser schleppen
Wer bei so rauen Bedingungen im Hochgebirge unterwegs ist, ahnt, dass man als Team schnell zusammenwächst. Günter Blumthaler erzählt, wie vor einigen Jahren die Zufahrtsstraße verschüttet war. Lawinen- und Murenabgänge sind keine Seltenheit. Die Werksgruppen-Mitarbeiter mussten einen Monat lang täglich zu Fuß zur Arbeit gehen. „Wir haben Gott sei Dank heroben ein Auto stehen gehabt“, erinnert er sich, „aber was nutzt dir ein Auto, wenn du keinen Sprit hast?“ Deshalb mussten die Arbeiter Diesel und Wasser auf den Berg schleppen. Lawinen und Muren werden auch hier häufiger. Doch ohne die Kraftwerke und die Stauseen „wären wir schon zehnmal abgesoffen“. Die „Speicherkessel“ verhinderten Schlimmeres, denn sie sind auch ein Hochwasserschutz für die Region.
Unsere erste Tunnel-Station ist die Kaverne. Eine Kaverne ist, wie wir von Bauleiter Peter Herzog erfahren, nichts anderes als ein großes Loch im Berg. Aber was heißt groß? In diesem Fall sei das Loch zirka so groß wie ein zwölfstöckiges Haus, so Paul Kaufmann, der für die Projektkommunikation der ÖBB-Infrastruktur AG zuständig ist. Wer es lieber maßgenau hat: Die Kaverne ist 72 Meter lang, 25 Meter breit und 40 Meter hoch. Im Vortrag wurde uns ein Zeitraffer-Video der Sprengung, die Schritt für Schritt durchgeführt wurde, gezeigt. Doch es bricht frühzeitig ab, weil die Kamera Opfer der Sprengung wurde. Für Peter Herzog war es ein erhebendes Erlebnis, im ausgesprengten Loch zu stehen: „Das war wunderschön, fast wie in einem Dom. Ich bin fast ehrfürchtig geworden in dem Riesenloch.“
Pumpspeicherkraftwerk Tauernmoos: Geschweißt und gehämmert
In die Kaverne kommt der Großteil der Technik des Kraftwerks, wie Turbinen und Generatoren, Transformatoren und die Leittechnik. Entsprechend laut geht es hier zu, es wird geschweißt, gehämmert, Kräne bewegen Teile von einem zum anderen Ort. Unsere Gastgeber verlieren uns nicht aus den Augen und warnen uns vor jeder Gefahrenquelle. Die Kaverne wurde mit Beton ausgebaut und hat jetzt sieben durch Stiegenhäuser verbundene Etagen. Auf der obersten Ebene befindet sich der größte Raum. An der Decke ist ein Kran angebracht, der sich auf Schienen vor- und rückwärts bewegen kann. Er kann bis zu 160 Tonnen tragen und wird die Schwermaschinenteile, etwa Trafos und Generatoren, hereinheben.
Beim Runtergehen sehen wir Pfotenabdrücke am Boden – ein Fuchs soll hier herumstreunen und schon mal bei den Bauarbeitern um Wurstsemmel-Spenden bitten. Ganz unten wartet eine vorbetonierte Grube auf die Pumpturbine. Sie wird vom Wasser bewegt werden, das durch massive Stahlrohre mit fünf Meter Durchmesser vom Weißsee hierhergeleitet wird und zum Tauernmoossee weiterfließt. Über eine Welle, die ein Laufrad antreibt, wird der Generator darüber in Drehung versetzt und produziert so Strom. Wenn der Kraftwerksbetrieb umgedreht wird und Energie gespeichert werden soll, wird die Drehrichtung der Turbine verändert. Dann verwandelt sich die Turbine in eine Pumpe und der Generator in einen Elektromotor. Herzog: „Der Prozess des Umdrehens von der einen auf die andere Seite dauert selbst bei voller Leistung nur 90 Sekunden – und es sind immerhin 80 Kubikmeter Wasser, die da in der Sekunde fließen und komplett umgedreht werden müssen.“ 80 Kubikmeter, das sind 80.000 Liter bzw. 80 Tonnen Wasser.
Stemmen gegen Windböen
Unsere nächsten Stationen sind die Tunnelausgänge zu den beiden Stauseen – zum Tauernmoossee auf 2.000 und zum Weißsee auf 2.250 Meter Seehöhe. Dort werden wir, nachdem wir eine Zeit lang vom Gebirge verschluckt waren, mit der Realität der Naturgewalten unter freiem Himmel konfrontiert und können am eigenen Leib nachvollziehen, warum heute hier oben die Arbeiten eingestellt wurden. Wir stemmen uns mit aller Kraft gegen die Windböen, und ein Schutzhelm reicht seine Kündigung ein. Die alten Staumauern machen etwas her, vor allem wenn die Gischt auf sie trifft und Millionen von Wassertropfen durch die Luft wirbeln.
Warum das Pumpspeicherkraftwerk Tauernmoos eine besondere Bauaufgabe ist
Wir sind nicht die einzigen Besucher:innen. Eine grob geschätzt zwanzigköpfige Gruppe besichtigt das Kraftwerk ebenfalls. Jede Woche kommen im Schnitt zwei Gruppen hierher. Der Kraftwerksbau zieht viel Interesse auf sich. Das hat verschiedene Gründe: wegen seiner Größe, weil es das erste Pumpspeicherkraftwerk der ÖBB ist, die immerhin schon seit mehr als 100 Jahren Wasserkraftwerke betreiben, und schließlich, weil das Pumpspeicherkraftwerk Tauernmoos eine ganz besondere Bauaufgabe ist.
Peter Herzog erklärt die Herausforderung: „So ein Kraftwerk entspricht keinem Regelwerk, wie man es von Autobahn- oder Eisenbahntunneln kennt.“ Ständig und oft rasch sind neue technische Lösungen gefragt. Eine Spezialaufgabe war etwa der Bau der beiden Einlaufbauwerke in den Stauseen, die das Wasser ansaugen. Man konnte an diesen aufwendigen Bauwerken nur im Winter arbeiten, weil es nur dann keinen Zufluss zu den vorher ausgepumpten Stauseen gibt. Da klar war, dass ein Winter nicht ausreichen würde, musste eine Zwischenlösung her, damit danach, wenn die Seen wieder gefüllt sein würden, kein Wasser in den verbindenden Stollen gelangen konnte. Die Lösung war ein Betonstöpsel, der die Öffnung wie ein Sektkorken verschloss und vor dem nächsten Winter wieder herausgerissen wurde.
Umfassende Energiestrategie
Als wir, wieder unterirdisch, die Apparatekammer besichtigen, wo sich der Wasserzufluss abdrehen lässt, geht plötzlich das Licht aus. Die Notstromanlage schaltet sich ein und beleuchtet den Tunnel mit reduzierter Kraft. Peter Herzog vermutet, ein Baum könnte auf eine Leitung gefallen sein. Das würde unsere Übernachtungsoption, an die wir gar nicht mehr gedacht haben, wahrscheinlicher machen. Zum Glück erfahren wir jetzt, dass es hier auch komfortable Unterkünfte gibt, sogar mit Sauna.
Die ÖBB betreiben acht eigene Wasserkraftwerke in Österreich. In ihr erstes Pumpspeicherkraftwerk investieren sie vorausvalorisiert 360 Millionen Euro. Das ist nur ein Baustein einer umfassenden Energiestrategie. Bis 2030 sollen selbst produzierte erneuerbare Energie und Partnerkraftwerke den Eigenversorgungsgrad mit grünem Bahnstrom zu 80 Prozent abdecken. Derzeit erzeugen die ÖBB zusammen mit Partnern zwei Drittel des Bahnstroms selbst – allein 20 Prozent des Gesamtbedarfs kommen von hier, von der Kraftwerksgruppe Stubachtal. Außerdem soll auch die Eigenversorgung der Betriebsanlagen von 11 auf 67 Prozent gesteigert und die Energie-Effizienz um 25 Prozent erhöht werden, unter anderem durch den Ausbau des Netzes.
Um die Ziele zu erreichen, investieren die ÖBB bis 2030 insgesamt 1,6 Milliarden Euro in grünen Strom. Dazu gehören auch Windkraft- und Solarstromanlagen. 2015 nahm man das erste 16,7-Hertz-Bahnstrom-Solarkraftwerk der Welt in Betrieb. Die Züge in Österreich, der Schweiz und Deutschland fahren mit 16,7 Hertz, was einem Drittel des üblichen 50-Hertz-Stroms entspricht und besondere Anforderungen an die Stromproduktion stellt. Mittlerweile erzeugen 68 eigene Photovoltaik-Anlagen Strom für die Bahn. Besonders stolz ist man auf das weltweit erste Bahnstrom-Windkraftwerk, das 2022 den Betrieb aufnahm.
„Unbezahlbare“ Eigenstromstrategie
Günter Blumthaler hält die Eigenstromerzeugung für extrem wichtig – ökologisch, für den Hochwasserschutz und die Unabhängigkeit: „Es ist zwar nicht einfach, Wasserrechte zu kriegen und Windanlagen aufzustellen, aber wir müssen so unabhängig wie möglich sein. Dann werden wir weder von Gaslieferungen noch von etwas anderem abhängig sein.“ Er erinnert an die Begehrlichkeiten der schwarz-blauen Regierung Anfang der 2000er-Jahre, die die Kraftwerke gern verkauft hätte: „Heutzutage will das Gott sei Dank keiner mehr.“ Die letzten Jahre mit stark steigenden Strompreisen haben gezeigt, dass der Nutzen der Eigenstromstrategie „unbezahlbar“ und „extrem langfristig“ ist.
Der Stromausfall hält noch immer an, als wir mit der Besichtigung fertig sind. Das macht die These vom umgefallenen Baum wahrscheinlicher. Doch wir haben Glück. Unser Rückweg ist frei. Einige Tage später erfahren wir, dass die Ursache ein gröberer Stromausfall in ganz Uttendorf war. Auch wenn so eine ungeplante Übernachtung im Hochgebirge – mit Sauna statt Schlafsack – etwas für sich gehabt hätte: Ich denke, wir haben auch so schon genug Spannendes zu erzählen.