Ende 1921 stand Österreich kurz vor dem Staatsbankrott und um ihn abzuwenden, musste die Regierung ausländische Hilfe in Anspruch nehmen. Sie akzeptierte die Bedingungen der Kapitalgeber für die sogenannte „Völkerbundanleihe“, ohne dabei das Parlament voll einzubinden. Die „Genfer Sanierung“, benannt nach dem Sitz des Völkerbunds, erreichte auch tatsächlich ein konsolidiertes Budget und den „harten Schilling“. Die Auflagen der Geldgeber waren ganz ähnlich wie sie vor wenigen Jahren Griechenland akzeptieren musste: möglichst wenig Staatsausgaben und Zurückfahren des Sozialstaats. Den ab Herbst 1920 amtierenden rechts-konservativen Regierungen kamen diese Auflagen entgegen, sie setzten auf Marktfreiheit und hatten das Ziel, die sozialstaatlichen Regelungen wieder abzubauen. Dass dadurch die gerade anspringende Konjunktur erstickt wurde und die Arbeitslosenzahlen wieder in die Höhe schnellten, nahmen sie in Kauf.
Von der „Sanierungskrise“, die 1922 einsetzte, erholte sich die Erste Republik nie wieder vollständig. Die Gewerkschaften und die neugegründeten Arbeiterkammern, versuchten alles, um die Folgen für die von Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit betroffenen ArbeitnehmerInnen zu mildern. Bis zur Mitte der 1920er Jahre gelang dies trotz des härteren Verhandlungsklimas doch immer wieder.
Wie während der Weltwirtschaftskrise nach 2008 und jetzt wieder während der Pandemie-Krise ging es darum, Arbeitslosen und KurzarbeiterInnen eine möglichst erträgliche Existenzgrundlage zu sichern und zu verhindern. Es ging aber auch darum, zu verhindern, dass sich der Staat ganz aus der Co-Finanzierung der Arbeitslosenversicherung zurückzog.
Gefordert: höhere Arbeitslosenunterstützung
Der Arbeiterkammer in Wien war nach den ersten AK-Wahlen 1921/22 durch den Österreichischen Arbeiterkammertag die Interessenvertretung gegenüber dem Bund übertragen worden. In einer Vollversammlung der AK in Wien im März 1922, gleich am Beginn der Sanierungskrise, forderte AK-Präsident Franz Domes ein deutliches Aufstocken der Arbeitslosenunterstützung. Nach dem Arbeitslosenversicherungsgesetz entsprach sie für FamilienerhalterInnen der Höhe des Krankengelds und damit etwa der Hälfte des Lohns für alle übrigen Betroffenen 75 Prozent davon.
Die Forderung nach einem Anspruch auf 150 beziehungsweise 120 Prozent des Krankengelds war zwar nicht durchzusetzen, aber immerhin erreichten die Verhandler von AK und Gewerkschaft 1923 für beide Gruppen ein Plus von etwa 10 Prozent, einen Kinderzuschlag und die Verlängerung der Unterstützungsdauer auf 12 Wochen. Im fraktionellen AK-Tätigkeitsbericht wurde auf die schwierige Verhandlungssituation verwiesen: „In dem Ringen um die Höhe der Arbeitslosenunterstützung konzentrierte sich die ganze Gewalt der Klassengegensätze.“
In dem Ringen um die Höhe der Arbeitslosenunterstützung konzentrierte sich die ganze Gewalt der Klassengegensätze.
Fraktioneller AK-Tätigkeitsbericht 1921 bis 1926
Eine andere Forderung konnte dagegen 1923 ohne Abstriche verwirklicht werden, die Forderung, dass Arbeitslose weiter krankenversichert blieben. In diesem Jahr gelang auch noch eine grundlegende Verbesserung für Langzeitarbeitslose: die Einführung der Notstandshilfe.
Bildnachweis: Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung (vga)
Franz Domes, der Vorsitzende der Union der Metallarbeiter und der Reichskommission der Freien Gewerkschaften, war ab den ersten AK-Wahlen 1921 Präsident der Arbeiterkammer für Wien und Niederösterreich. Noch kurz vor seinem Tod 1920 versuchte er noch – vergeblich – einen sozialstaatlichen Weg im Kampf gegen die Folgen der großen Weltwirtschaftskrise zu erreichen.
Kurzarbeit anno 1922: kein Vergleich zu heute
Eine weitere Erhöhung des Arbeitslosengeldes war nicht durchzusetzen. Es konnte schon als Erfolg gewertet werden, wenn seine Reduktion verhindert und das Weiterbestehen der Notstandshilfe wenigstens für die nächsten Jahre gesichert wurde. Die provisorische Regelung für Kurzarbeit, die vollen Lohnausgleich vorgesehen hatte, wurde schon im Frühjahr 1920 durch das Arbeitslosenversicherungsgesetz gekippt. Der Lohn entsprach bei Kurzarbeit von mindestens 36 Stunden nur mehr dem Arbeitslosengeld, bei weniger Arbeitsstunden lag er darunter. Von einer Regelung, wie sie der ÖGB 2020 ausverhandelt hat, konnten die Betroffenen 1920 nur träumen.
Die Finanzierung der Kurzarbeit erfolgte wie beim Arbeitslosengeld durch Beiträge der ArbeitnehmerInnen, der Unternehmen und aus dem Staatsbudget. Für die Unternehmen hätte eine finanzielle Verbesserung eine Erhöhung der Lohnnebenkosten bedeutet und sie lehnten sie deshalb kategorisch ab. Die Interessenvertretungen der ArbeitnehmerInnen forderten dagegen einen Kurzarbeitslohn in der vollen Höhe des Arbeitslosengeldes für alle, unabhängig vom Ausmaß der Kurzarbeit und obwohl das die Erhöhung des Versicherungsbeitrags bedeutet hätte. Deshalb meinte AK-Direktor Ferdinand Hanusch in einem Referat vor der Vollversammlung in Wien Anfang 1923, die Kurzarbeit sei „einer der größten Solidaritätsakte der Arbeiterschaft“.
Die Kurzarbeit ist einer der größten Solidaritätsakte der Arbeiterschaft.
Ferdinand Hanusch, Direktor der Arbeiterkammer in Wien, am 13. Jänner 1923
Bildnachweis: ÖGB-Bildarchiv
Der Gewerkschafter Ferdinand Hanusch war bis zum Ausscheiden der Sozialdemokratie aus der Regierung im Herbst 1920 Staatssekretär für Soziales. Die Basisgesetz des österreichischen Sozialstaats wurden während seiner Amtszeit beschlossen. Bis kurz vor seinem Tod im Herbst 1923 leitete er als Direktor der Kammer für Wien und Niederösterreich den organisatorischen Aufbau der Arbeiterkammern.
Der Gewerkschafter Ferdinand Hanusch war bis zum Ausscheiden der Sozialdemokratie aus der Regierung im Herbst 1920 Staatssekretär für Soziales. Die Basisgesetz des österreichischen Sozialstaats wurden während seiner Amtszeit beschlossen. Bis kurz vor seinem Tod im Herbst 1923 leitete er als Direktor der Kammer für Wien und Niederösterreich den organisatorischen Aufbau der Arbeiterkammern.
Ausblick
Die Rationalisierungswelle, die von den USA ausgehend, auch die europäische Produktion revolutionierte, belastete den Arbeitsmarkt zusätzlich. Die Unternehmen nutzten diese neue Möglichkeit der Kostenersparnis in hohem Maß, zumal die Regierungen ihnen großen Freiraum ließen. Bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 entwickelte sich unter diesen Bedingungen ein kleines Wirtschaftshoch, von dem die ArbeitnehmerInnen aber nicht mehr profitierten. Die weiter zunehmende Arbeitslosigkeit und der teilweise Rückbau des Sozialstaats machten Armut zum Dauerproblem.
Kurzarbeit wandelte sich von einem Instrument solidarischer Krisenbewältigungsstrategie zu einem den Profit fördernden Managementinstrument. Im Gegensatz zu anderen Ländern wiederholte sich diese Entwicklung in Österreich nach 1945 allerdings nicht, im Gegenteil: im Rahmen der Sozialpartnerschaft wurden von der Gewerkschaft ausverhandelte sozial faire Kurzarbeitsmodelle gerade auch 2008 und in der aktuellen Krise zu wichtigen Instrumenten, um die Folgen für die ArbeitnehmerInnen abzumildern.
Ein Beitrag von
Brigitte Pellar
Historikerin