Was das Rückschrauben auf Mindeststandards bedeutet

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Inhalt

  1. Seite 1 - Arbeits- und Sozialrecht
  2. Seite 2 - VerbraucherInnenschutz
  3. Seite 3 - Umweltschutz
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Eine Dystopie, die Wirklichkeit werden könnte, wenn es nach der Wirtschaftslobby geht. Denn im Zuge der Gold-Plating-Debatte sollen österreichische Standards angegriffen werden, die über den EU-Mindeststandards liegen. Wir zeigen, was das bedeuten würde.
Österreich hat in vielen Bereichen bessere Standards als von der EU vorgeschrieben. Und das ist auch gut so, denn im Endeffekt kommen diese rechtlichen Bestimmungen uns allen zugute. Fährt man diese Gesetze jedoch auf die EU-Mindeststandards zurück, bedeutet das Verschlechterungen für ArbeitnehmerInnen, KonsumentInnen und auch die Umwelt. Soll es wirklich zum Ziel werden, sich an den Schlechtesten zu orientieren? Immerhin geht es dabei um „über Jahrzehnte entwickelte Schutzstandards“, betont Wolfgang Greif, Leiter der Bildungsabteilung der Fachgewerkschaft GPA-djp und Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss.

Welche Bereiche trifft das im Speziellen?

Arbeits- und Sozialrecht

Dass Beschäftigte von der Wirtschaft oft nur als Kostenfaktor gesehen werden, zeigen jene Punkte der Gold-Plating-Liste, die in den Bereich des Arbeits- und Sozialrechts sowie in den ArbeitnehmerInnenschutz fallen:

Urlaubsrecht

Die 5. Urlaubswoche steht zur Diskussion.
So betrifft beispielsweise Punkt 71 das Urlaubsrecht. Geregelt ist der Urlaubsanspruch in § 2 Abs. 1 UrlG: Dem Arbeitnehmer gebührt für jedes Arbeitsjahr ein ununterbrochener bezahlter Urlaub. Das Urlaubsausmaß beträgt bei einer Dienstzeit von weniger als 25 Jahren 30 Werktage und erhöht sich nach Vollendung des 25. Jahres auf 36 Werktage. Der EU-Mindeststandard sieht jedoch nur vier Wochen Jahresurlaub zwingend vor. Der Wirtschaftslobby scheint dies ein Dorn im Auge zu sein: „Die im österreichischen Arbeitszeitgesetz vorgesehene fünfte Woche, so merkt die Wirtschaftsorganisation an, bedeute Mehrkosten, denn die Unternehmen seien verpflichtet, die DienstnehmerInnen trotz Abwesenheit zu bezahlen“, so Frank Ey, Referent in der Abteilung EU & Internationales der AK Wien.

Überstundenzuschläge

Auch die Zuschläge für Überstunden und Mehrarbeit stehen laut Punkt 69 der Liste zur Diskussion. Diese sind in Österreich im Arbeitszeitgesetz geregelt. „Die EU-Arbeitszeit-Richtlinie sieht laut den WirtschaftsvertreterInnen keine Zuschläge für Überstunden und Mehrarbeit vor“, fasst Ey die Überlegungen zusammen. Auch hier gäbe es also „Einsparungspotenzial“, das auf dem Rücken der Beschäftigten ausgeschöpft werden würde.

Mutterschutz

Den Kündigungsschutz für Schwangere aufweichen?
Debattiert wurde in der Liste mit Punkt 15 auch der Kündigungsschutz für Schwangere. Die EU-Richtlinie ermögliche nämlich eine Kündigung durch den Arbeitgeber in „Ausnahmefällen“, die in keinem kausalen Zusammenhang mit der Schwangerschaft stehen. Im Rahmen einer Massenentlassung wäre demzufolge auch die Kündigung einer Schwangeren möglich. Das österreichische Mutterschutzgesetz beschränkt dies jedoch auf Kündigungen des Dienstverhältnisses, die aufgrund einer Einschränkung oder Stilllegung des Betriebes oder der Stilllegung einzelner Betriebsabteilungen erfolgen. Frank Ey kritisiert die Motivation hinter den Überlegungen: „Das nationale Mutterschutzgesetz stellt laut den WirtschaftsvertreterInnen eine unnötige Einschränkung des Kündigungsrechts dar und bedeutet eine Erhöhung der Personalkosten.“

Kündigungsschutz für Menschen mit Behinderung

Aber nicht nur der Kündigungsschutz für Schwangere steht auf der Agenda. Auch Menschen mit Behinderung haben einen höheren Kündigungsschutz, der über die Minimalregelung auf EU-Ebene hinausgeht (Punkt 36), was von der Wirtschaftskammer kritisiert wird.

Lohn- und Sozialdumping

Gravierende Folgen hätte auch die Umsetzung der Ideen, die zum österreichischen Gesetz gegen Lohn- und Sozialdumping angestellt wurden. Dieses ist nämlich für ArbeitnehmerInnen besser ausgestaltet als die Minimalvorschriften aus der europäischen Entsende-Richtlinie. „Die Wirtschaftskammer macht darauf aufmerksam, dass gemäß der EU-Entsende-Richtlinie Mindestlöhne nicht angewendet werden müssen, wenn die Entsendung ein Monat nicht übersteigt. Das nationale Recht sieht die Mindestlohnsätze hingegen schon ab dem ersten Monat vor. Sollten die nationalen Bestimmungen gestrichen werden, würde das dem Lohndumping Tür und Tor öffnen. Aus Nachbarländern entsandte Beschäftigte würden schlicht behaupten, weniger als ein Monat in Österreich beschäftigt zu sein. Der Schaden für die heimische Wirtschaft und ihre Beschäftigten wäre enorm“, so Frank Ey.

ArbeitnehmerInnenschutz

Ist die Sicherheit der Beschäftigten nichts wert?
Ein großer Bereich der infrage gestellten Standards betrifft das ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (ASchG) sowie seine Durchführungsverordnungen (wie beispielsweise Punkt 5 oder 9 der Liste). Dabei geht es um Nachweise für die Fachkenntnis bei bestimmten Arbeiten, aber auch um Meldepflichten bei bestimmten Bauarbeiten sowie die Meldepflicht von Sicherheitsvertrauenspersonen oder die Begehungsintervalle in Unternehmen. Frank Ey gibt jedoch zu bedenken: „Die Sicherheit der Beschäftigten wird dadurch negativ beeinflusst. Negative Auswirkungen durch den Ausfall von ArbeiterInnen könnten auch nachteilige Effekte für die Unternehmen haben, was aber offensichtlich von den WirtschaftslobbyistInnen übersehen wird.“

Was das alles für die Beschäftigten dieses Landes bedeutet würde? Weniger Erholungsurlaub, mehr Arbeit ohne entsprechende Entlohnung im Sinne von Überstundenzuschlägen und dazu noch ein größeres Gesundheitsrisiko, wenn Arbeitsschutzbestimmungen gelockert werden. Ist die Sichtweise der Wirtschaftslobby wirklich so kurzsichtig, dass lediglich die Gewinnmaximierung im Vordergrund steht und das Wohl der arbeitenden Bevölkerung nicht berücksichtigt wird? Immerhin gibt es diese Schutzstandards nicht ohne Grund, besonders auch bei schutzbedürftigen Menschen. Sich davon wieder abzuwenden ist jedenfalls der falsche Weg, bei dem Kapital über den Menschen gestellt wird.

VerbraucherInnenschutz

Über 70 der zusammengetragenen Änderungswünsche betreffen VerbraucherInnenschutzbestimmungen, die auf dem Spiel stehen könnten.

Verbraucherverträge

Was soll künftig mit missbräuchlichen Klauseln passieren?
Mit Punkt 15 der Gold-Plating-Liste wird die europäische Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen thematisiert. Diese sieht nämlich vor, dass solche missbräuchlichen Klauseln für den/die VerbraucherIn unverbindlich sind und enthält lediglich die Vorgabe, sie klar und verständlich zu formulieren. Diesbezüglich sieht das österreichische Konsumentenschutzgesetz in § 6 Abs. 3 KSchG jedoch eine für die Konsumentin bzw. den Konsumenten günstigere Regelung vor: Die unklar oder unverständlich abgefasste Vertragsbestimmung ist hierzulande nichtig, also komplett unwirksam. „Für KonsumentInnen würde eine derartige Regelung vor allem eines bringen, nämlich Unsicherheit über den Inhalt des Vertrags“, so Ey.

Zusätzliche Gebühren für KonsumentInnen

Für Bargeldabhebungen oder Papierrechnungen bezahlen?
Mehr Umsatz lässt sich für Banken und Firmen zudem auch mit Gebühren machen, die sie KonsumentInnen aufbrummen möchten. Mehrere Punkte betreffen daher die Möglichkeit, (zusätzliche) Gebühren einzuheben – so zum Beispiel für Bargeldabhebungen (Punkt 460) oder für Papierrechnungen (Punkt 57).

Fahrgastrechte

Einige der Punkte beziehen sich zudem auf die Rechte von Fahrgästen. Laut Frank Ey kritisiert die Wirtschaftskammer, „dass nationale Gesetze strengere Bestimmungen enthalten, als im EU-Recht vorgesehen. Damit dürften Entschädigungen bei Verspätungen für Fahrgäste gemeint sein, die im Besitz von Zeitkarten (Jahreskarte o. Ä.) sind. Ohne die nationale Zusatzregelung gäbe es für diese Gruppe (bis zu 80 Prozent der Fahrgäste, z. B. PendlerInnen) keine Entschädigungen.“

Fakt ist: Die Regelungen des Verbraucherschutzes betreffen uns alle. Auch wenn hier exemplarisch nur drei der rund 70 Punkte herausgehoben wurden, wird deutlich, in welche Richtung die Wirtschaftslobby gehen möchte. Überall werden Schlupflöcher gesucht, um Unternehmenskosten auf die KonsumentInnen umzuwälzen. Und wieder dieselbe Motivation: Gewinne maximieren.

Umweltschutz

Was den Umweltschutz betrifft, hat Österreich bisher mit guten Standards gepunktet, etwa was die Errichtung und den Betrieb von Deponien betrifft, aber auch bei Regelungen bezüglich Abwasser. Bei Kläranlagen hat die Stadt Wien die höchste Reinigungsstufe. Vieles davon wird in der Gold-Plating-Liste nun wieder hinterfragt. „Ein Land wie Österreich muss sich gerade im Natur- und Umweltschutz an den besten EU-Ländern orientieren, nicht an den schlechtesten. Denn EU-Richtlinien sind oft nur Kompromisse, die den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Mitgliedstaaten abbilden. Wer hier nur noch ein Minimalprogramm fährt, landet rasch in der Durchschnittsfalle und gibt noch dazu viel eigenen Gestaltungsspielraum auf“, sagt Hanna Simons, Leiterin der Natur- und Umweltschutzabteilung des WWF Österreich. Eine Debatte, die in die völlig falsche Richtung geht, wie Simons zusammenfasst: „Bei Natur und Umwelt brauchen wir deutlich höhere Standards, aber sicher kein Wettrennen um den letzten Platz.“

Hanna Simons, Leiterin der Natur- und Umweltschutzabteilung des WWF Österreich, übt Kritik an der Gold-Plating-Debatte: „Ein Land wie Österreich muss sich gerade im Natur- und Umweltschutz an den besten EU-Ländern orientieren, nicht an den schlechtesten.“
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Gewiss lassen sich durch den Abbau von Umweltschutzmaßnahmen Unternehmensgewinne maximieren, aber zu welchem Preis? Letztlich leben wir alle im selben Land und es gibt nur eine Umwelt. Zugunsten von Einsparungen nachlässig mit ihr umzugehen, hat Auswirkungen auf uns alle, egal ob UnternehmerInnen oder ArbeitnehmerInnen, PensionistInnen, Kinder.

Mit nebulösen Hinweisen auf „Subsidiarität“ oder „Gold Plating“ werden Standards im Arbeits-, Sozial-, Umwelt- und Verbraucherrecht in der gesamten EU infrage gestellt. Diese Politik bedeutet das Gegenteil von sozialem Fortschritt.

Renate Anderl, AK-Präsidentin

Kommen wir also zurück zur anfänglichen Frage, was ein Rückschrauben auf Mindeststandards bedeutet. AK-Präsidentin Renate Anderl meint dazu: „Mit nebulösen Hinweisen auf ‚Subsidiarität‘ oder ‚Gold Plating‘ werden Standards im Arbeits-, Sozial-, Umwelt- und Verbraucherrecht in der gesamten EU infrage gestellt. Diese Politik bedeutet das Gegenteil von sozialem Fortschritt.“ Die in Österreich existierenden Standards gibt es nicht ohne Grund. Sie haben sich über einen sehr langen Zeitraum etabliert, um die Interessen aller unter einen Hut zu bringen. Jetzt daran zu rütteln macht nicht nur all die Bemühungen zunichte, die dem Aufbau dieses Systems gedient haben. Vielmehr müssen sich ArbeitnehmerInnen, KonsumentInnen und auch die Umwelt auf drastische Verschlechterungen einstellen. Und wofür? Damit Unternehmen noch mehr Profite anhäufen können?

Weiterführender Artikel auf dem A&W-Blog

Gold Plating: Koalitionäre Brandstifter der EU-Skepsis „Gold-Plating“-Liste: Wirtschaftslobby stellt Lebensqualitäts-Standards infrage EU-Ratsvorsitz: Sicher sind wir nur mit sozialen Goldstandards! Gold Plating: ein gefährliches Spiel um gesellschaftspolitische Standards

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Über den/die Autor:in

Beatrix Ferriman

Beatrix Ferriman hat internationale Betriebswirtschaft an der WU Wien, in Thailand, Montenegro und Frankreich studiert. Sie ist Autorin, Schreibcoach sowie freie Redakteurin für diverse Magazine und Blogs.

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