Revolution light

Foto (C) Barbara Pflaum / Imagno / picturedesk.com

Inhalt

  1. Seite 1 - Reformen waren längst überfällig
  2. Seite 2 - Aufbruchstimmung hielt noch bis weit in die 1970er-Jahre an
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Zwar hat die 68er-Bewegung in Österreich nicht so große Wellen geschlagen, doch sie war Startschuss für viele Reformen und gesellschaftliche Veränderungen.
New York im April 1967: 300.000 Menschen protestieren gegen die amerikanischen Bombenangriffe auf Nordvietnam. Rund ein halbes Jahr später finden in der Hauptstadt Washington Großdemonstrationen statt. Im Frühling 1968 erreicht die Protestwelle auch in Europa ihren Höhepunkt. In Frankreich eskalieren die Studentenproteste, Barrikaden werden errichtet und Autos in Brand gesteckt. Die Polizei geht derart brutal gegen demonstrierende StudentInnen vor, dass sich die Bevölkerung und ArbeiterInnen mit ihnen solidarisieren. Ein Generalstreik, an dem sich zwei Millionen Menschen beteiligen, lähmt wochenlang das Land.

Unter den Talaren …

Während also in Frankreich bürgerkriegs­ähnliche Zustände herrschen, in Deutschland ein Student von einem Polizisten erschossen wird (der sich später als Stasi-Mitarbeiter entpuppt) und aus manchen protestierenden Studierenden später (RAF-)TerroristInnen werden, lauft in Österreich alles vergleichsweise friedlich ab. Proteste sind hauptsächlich auf Wien beschränkt. Für Aufregung (und Publicity) sorgt vor allem ein Teach-in an der Universität im Hörsaal 1 im Juni 68, das bis heute auch als „Uni-Ferkelei“ bekannt ist. Unter dem Titel „Kunst und Revolution“ zeigen Wiener Aktionisten, darunter Günter Brus, Otto Mühl und Peter Weibel, Nacktheit, Masturbation, „Verrichten der großen Notdurft“ und Auspeitschen – und dies alles auch noch unter Verwendung staatshoheitlicher Symbole wie der Nationalflagge und der Bundeshymne.

Fritz Keller, Jahrgang 1950, war damals im Verband Sozialistischer Mittelschüler (VSM) aktiv. „Happenings und ähnliche Aktionen hatte es in Wien ja auch vor 1968 schon einige gegeben“, erinnert er sich. „Für mich war das weniger politische Aktion als bloße Provokation. Doch vielleicht war es ja die einzige Möglichkeit, breite Aufmerksamkeit zu erregen und das österreichische Neurosenfeld zu sprengen.“

… der Mief von tausend Jahren

Tatsächlich waren die Unruhen im Mai 1968 nicht die ersten in Österreich, denn Reformen waren längst überfällig. Das Familienrecht stammte aus dem vorigen Jahrhundert, Ehebruch und Homosexualität waren strafbar, Wehrdienstverweigerung unmöglich, das Bildungssystem war veraltet. Die 1950er-Jahre waren eine politisch und gesellschaftlich bleierne Zeit. „Österreich war erstarrt, fast undemokratisch“, schreibt der Historiker Manfried Rauchensteiner in seinem aktuellen Buch. Vor allem junge Gebildete kritisierten die autoritären Strukturen und den repressiven Staat.

Die Jugendbewegung erwachte: Bereits 1965 kam es zu Demos gegen den Vietnamkrieg und gegen den WU-Professor Taras Borodajkewycz, der in seinen Vorlesungen Nazi-Sprüche lieferte und der Liebling der rechten Studentenverbindungen war, die damals die Studentenschaft dominierten. Vor allem an den Unis gärte es also auch hierzulande schon seit längerem. Beim Opernball 1968 warf die KPÖ-Jugend während der Eröffnungspolonaise Flugblätter auf die Tanzfläche. Doch man ließ sich damals die Stimmung (noch) nicht verderben. Ungerührt tanzten die Paare über Papiere mit dem Text: „Ein Abendkleid ist so viel wert wie zwei große Kisten hochwertiger Medikamente für napalmversengte Kinder“.

Repressionen

Das Attentat auf den StudentInnenführer Rudi Dutschke, die gewalttätigen Auseinandersetzungen in Paris, der Prager Frühling und der Vietnamkrieg – all das wollte die Jugend auch bei Großveranstaltungen thematisieren. Beim Fackelzug 1968 wurde ein Teil der Demonstran­tInnen wegen Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Rufen von Polizei und Parteifunktionären abgedrängt und umgeleitet. Am nächsten Tag beim Mai-Aufmarsch wurden die Transparente sehr genau kontrolliert. Nachmittags kam es zu Tumulten, als die TeilnehmerInnen einer Kundgebung ein Blasmusikkonzert der Gemeinde Wien störten. Sie verlangten von Bürgermeister Bruno Marek unter anderem eine Diskussion über den Beschäftigtenstand der Elektronikfirma Elin.

Trau keinem über 30

Die StudentInnenbewegung bewirkte eine massive Entfremdung zwischen Studierenden und Parteien. Um und nach 1968 entstanden immer wieder neue Splittergruppen, Aktionskomitees etc. Eine rege Szene links der SPÖ entstand. Der VSM, eigentlich als Kaderschmiede der SPÖ gedacht, stand immer häufiger im Gegensatz zur Mutterpartei. Neben dem gegenüber der SPÖ loyalen VSStÖ entstand der Sozialistische Österreichische Studentenbund SÖS (Organisator der „Uni-Orgie“). Stärker als etwa in Deutschland engagierte sich in Österreich auch die künstlerische Avantgarde. Robert Schindel, Schriftsteller und aktives KPÖ-Mitglied, war Mitbegründer der „Kommune Wien“, dem radikalsten Teil der Studentenbewegung.

Es brodelte allerorts: In Happenings, Teach-ins, Sit-ins etc. wurde gefeiert, diskutiert und provoziert. Slogans der neuen Jugendbewegung wie „Trau keinem über 30“ zeigten nicht nur allgemeine Unzufriedenheit, sondern auch, dass Respekt vor Älteren nicht mehr selbstverständlich war.

Die Aufbruchstimmung hielt noch bis weit in die 1970er-Jahre an. Obwohl die 68er Tabuthemen wie Sexualität öffentlich machten, waren die Frauenrechte damals noch kaum Thema. Die in Wien legendäre linke Buchhändlerin Brigitte Salanda war damals beim SÖS aktiv: „Zumindest dort war es nicht so, dass Frauen nur für Hilfsdienste wie Kochen und Tippen eingesetzt wurden. Da gab es durchaus Frauen, die sich immer wieder zu Wort gemeldet und weder gestrickt noch gekocht haben.“

Was von damals geblieben ist? „Es war eine schöne Zeit“, so Salanda, die vielen noch unter ihrem früheren Namen Herrmann bekannt ist. „Alle haben viel gelesen, was für mich als junge Buchhändlerin auch sehr positiv war. Das Gemeinschaftsgefühl war groß. Wir hatten fast täglich Kontakt und haben über alles diskutiert. Natürlich hatten wir auch viele Illusionen, was wir alles bewirken können, doch das ist normal. Ich gehöre nicht zu denen, die beklagen, dass wir kaum etwas erreicht hätten.“

Revolutionsharlekine

Auch Fritz Keller ist keiner, der mit nostalgisch-verklärtem Blick zurückschaut. Auch klagt er nicht über mangelnde Erfolge. Erfreulich ist für ihn, dass sich durch die 68er-Bewegung der Umgang mit der NS-Zeit verändert hat.

Und er findet sogar in der jüngeren Vergangenheit eine positive Spätfolge, denn für ihn waren die Studierendenproteste 2009 eine logische Fortsetzung von 1968. „Die Audimax-Besetzung 2009 mit 24-Stunden-Streaming und Berichten in internationalen Medien hat gezeigt, dass Wien nicht mehr Krähwinkel ist.“

Und er erwähnt ein weiteres Novum: „Damals ist Sabine Oberhauser im Audimax gewesen und hat dort ihre Solidarität bekundet. Ich kenne sonst kein studentisches Ereignis, bei dem ein Spitzenfunktionär des ÖGB anwesend war.“ Es hat ja eigentlich schon fast Tradition, dass studentische Anliegen und Proteste bei den etablierten Parteien, PolitikerInnen, Gewerkschaften und meist auch beim Rest der Bevölkerung nicht so gut ankommen. Bruno Kreisky, der an sich der Studierendenbewegung nicht negativ gegenüberstand, bezeichnete sie dann auch schon mal als Revolutionsharlekine.

Repressive Toleranz

Österreich sei, so Fritz Keller, schon immer ein Ort der ausgeprägten repressiven Toleranz gewesen. Und Bruno Kreisky war Großmeister darin, Revolutionä­rInnen in ReformistInnen zu verwandeln. Er habe damals „auffällige“ Personen zu sich nach Döbling eingeladen.

Dort hat er dann von seiner Bekanntschaft mit Che Guevara oder Ho Chi Minh erzählt. Und nach der Frage: „Und was machen wir jetzt mit dir?“, habe er eine Visitenkarte gezückt und gemeint: „Geh dorthin und sag, dass du von mir kommst“. Auf diese Weise wurden revolutionäre Wogen elegant geglättet. Immerhin folgten irgendwann tatsächlich Reformen, allerdings erst nach einigen Jahren: die Fristenlösung kam 1973, die Familienrechtsreform, das Zivildienst- und Universitätsorganisationsgesetz 1975.

Buchtipp: Fritz Keller: Wien, Mai 68 Eine heiße Viertelstunde
Von
Astrid Fadler
Freie Journalistin

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 9/18.

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