Wir erinnern uns: Es war Freitag, der 17. Mai 2019, Punkt 18 Uhr. Wenige Tage vor der EU-Wahl. Ein frühsommerlicher, lauer Abend. Und natürlich wissen Sie ganz genau, wo Sie zu dieser Zeit waren, ja sogar was Sie gemacht haben, alle in Österreich wissen das, als die „Süddeutsche Zeitung“ und das Magazin „Spiegel“ ein Video mit hochkarätiger österreichischer Besetzung aus Ibiza online stellten, eine sieben Minuten lange Kinovorstellung über irre Korruptionsträume und unlautere Postenbesetzungsvisionen. Innerhalb weniger Stunden schmeißt der Vizekanzler hin, innerhalb weniger Tage fällt die komplette Regierung. Chaos, möchte man meinen.
Jeder Schritt, der jetzt getan wird, ist vorgesehen und in der Verfassung verankert.
Alexander Van der Bellen, Bundespräsident
Einer aber tritt anders vor die Kameras, er lächelt, dieser ältere Herr, und mit heiserer Stimme raunt er dem Land zu: „Es gibt keinen Grund, besorgt zu sein.“ Und wirklich, viele Menschen atmeten in diesem Moment ein bisschen ruhiger. „Denn gerade in Zeiten wie diesen zeigt sich die Eleganz, ja die Schönheit unserer österreichischen Bundesverfassung.“ Nie klangen Gesetze so poetisch! „Jeder Schritt, der jetzt getan wird, ist vorgesehen und in der Verfassung verankert.“ Der Bundespräsident hatte gesprochen. Und dem Land seine manchmal in Vergessenheit geratene Verfassung wieder ins Gedächtnis gerufen. Da war sie wieder, und alle konnten sich gedanklich an ihr festhalten.
Dass die Österreicher*innen viel zu wenig über ihre eigenen Grundrechte Bescheid wissen, zeigt sich auch in einer aktuellen Studie der Sigmund-Freud-Privatuniversität. Nur vier Prozent (!) der Befragten ab 14 Jahren konnten überhaupt eine zumindest ansatzweise adäquate Antwort auf die Frage „Was ist ein Grundrecht?“ geben. Und darauf, welche Grundrechte sie denn im Detail so kennen, konnten die Befragten im Schnitt nur zwei bis maximal drei nennen. Zahlen, die aufrütteln sollten.
Red Carpet
Für die Verfassung gibt es viele Bilder: Anker, Fundament, Gerüst. Doch sie ist kein starres, unverrückbares, steifes Dokument, sie ist nicht in Beton gegossen, kein Klotz, sie ist biegbar, manchmal muss sie angepasst werden, manchmal muss sie nachlegen. Dass es dabei wirklich um etwas Gewichtiges geht, merkt man spätestens, wenn man die Prunkstiege – nach akkurat vorgenommener Corona-Fiebermessung, klar – im Inneren des Gebäudes nach oben steigt, die Stufen sind mit rotem, samtenem Teppich ausgelegt. Obwohl der Menschenandrang groß ist, haben aufgrund der Pandemie-Maßnahmen nur dreißig Journalist*innen und Besucher*innen einen Platz ergattert. Auf den Sesseln und unter einem zwölfarmigen Luster versammelt sich die komplette innenpolitische Medienszene des Landes, von Armin Wolf bis Peter Resetarits. Und dazwischen wir. Und doch müssen wir alle draußen bleiben.
Die Zuhörer*innen sitzen babyelefantös verteilt im Foyer vor dem eigentlichen Verhandlungssaal. Als Ersatz sind zwei – inmitten des rundum schicken Inventars fast deplatziert wirkende – XXL-Screens aufgestellt, über die das Geschehen aus dem Inneren des Saals nach außen übertragen wird. Die Verfahrensbeteiligten sprechen in Mikrofone, die das Gesagte an schmale Lautsprecher direkt vor uns senden. Plakatständer machen darauf aufmerksam, dass bei Husten sofort der Saal verlassen werden muss, angestrengt werden mancherorts Halspastillen gelutscht. Und kurz bevor es losgeht, verkündet der Präsident, dass die Corona-Pandemie leider eine weitere ungewohnt strenge Regel zur Folge habe, nämlich: keine Toilettengänge. Wer einmal aufs Klo geht, muss unwiderruflich raus. Ein leises, aber melodiös gemeinsam im Chor abgegebenes Seufzen weht für einen Moment durch die Stuhlreihen.
Und dann geht es los. Kein leichtes Thema: Es geht ums Sterben. Erst im Februar wurde im Nachbarland Deutschland das Verbot der Sterbehilfe gekippt. Vier Kläger*innen, davon zwei Schwerkranke, möchten sich dieses Recht auf einen würdigen und selbstbestimmten Tod vor den 14 Höchstrichter*innen, im Halbkreis auf der Richterbank platziert, erstreiten. Über ihnen thront der Bundesadler und in großen goldenen Lettern steht daneben „Österreich ist eine demokratische Republik“ und „Ihr Recht geht vom Volk aus“. Den Kläger*innen gegenüber steht die Regierung, vertreten in vorderster Front durch Strafrechts-Sektionschef Christian Pilnacek. Es ist der zweite Verhandlungstag. Und es wird nicht der letzte in dieser Causa sein. Als die Verhandlung beginnt, erheben sich alle.
Dehnbar – aber wie weit?
Was strapaziert die Verfassung eigentlich mehr: eine Regierung, der das Misstrauen ausgesprochen wird, wie wir das im Sommer 2019 erleben mussten, oder ein Virus, das wie im Moment die ganze Welt lahmlegt? Dass die Pandemie auch Auswirkungen auf den Gerichtsalltag hat, spürt man schon beim Eintreten in jedes Amtsgebäude, nicht nur im Verfassungsgerichtshof. Dass sie aber dermaßen radikal ausfallen würden wie an einem Montag im Oktober, das hatten wir nicht erwartet, als wir ein paar Tage später und nur ein paar hundert Meter weiter vor einem monströsen Gebäude im dritten Wiener Gemeindebezirk stehen.
Hinter der U-Bahn-Einkaufs-Mall, nahe der Universität für Angewandte Kunst und dem Redaktionsgebäude der Tageszeitung „Der Standard“, ragt rostrot ein mächtiger Bau über die umliegenden hinweg. Es ist der Sitz des größten Bezirksgerichts Österreichs, Department Innere Stadt. Neben den üblichen Zuständigkeiten – Zivilprozesse, Scheidungen, Obsorgeverfahren, Exekutionen, Grundbuchsachen oder kleinere Vergehen – hebt sich dieses Gericht – erwarten würde man es nicht, wissen tun es nur wenige – durch ein Special Gimmick von den anderen ab. Hier wird nämlich das Seeschiffsregister geführt, für ganz Österreich. Wir wollen an diesem Vormittag ganz schlicht einer Zivilverhandlung lauschen, ein ganz alltägliches Verkehrsdelikt wurde im Plan angekündigt.
Tritt man durch das Hauptportal ein, dauert es nicht einmal zehn Sekunden, ja im Grunde steht man noch auf der Türschwelle, und schon wird einem ein Fieberthermometer an die Stirn gehalten. Dann wird man weitergeschoben, ein bisschen hastend, direkt vor einen Glaskubus. Wie ein Aquarium steht dieses Empfangsbüro mitten in der Eingangshalle, die beiden darin arbeitenden Frauen investigieren jede*n Besucher*in genau. So streng wie ihre Blicke sind auch ihre Handlungen. „Wer sind Sie überhaupt?“, fragt sie in scharfem Tonfall. „Was wollen Sie hier?“
Vielleicht, so tröstet man sich, ist die Dame nur übermäßig erstaunt über das Interesse an einer Zivilverhandlung, noch dazu an einem Bezirksgericht. Denn tatsächlich: Die Medien betreiben unisono eine ziemlich einseitige Berichterstattung. So werden fast ausnahmslos Strafprozesse geschildert, überwiegend Fälle, die aufgrund ihres drohenden Strafmaßes in höheren Instanzen verhandelt werden, in Landesgerichten zum Beispiel. Dabei ist das eine massive Verzerrung: Nur ein Fünftel aller Prozesse bewegt sich im Strafrecht, während zwei Drittel Zivilverhandlungen ausmachen, vor allem im Familienrecht. Bei Scheidungen oder Obsorgeverfahren ist die Öffentlichkeit ausgeschlossen.
Doch wir wollen ja eine zivilrechtliche Handlung zu einem Verkehrsdelikt besuchen – eine solche ist öffentlich. Gelingen wird es uns nicht. Wer sich nicht, wie die Dame im gläsernen Infokubus erläutert, bereits Tage im Voraus persönlich beim Präsidium anmeldet, wird direkt verabschiedet, und da gibt es auch keinerlei Erbarmen. Diskutieren hilft nichts, auch Pressemitarbeiter*innen, quasi die Verkörperung der kritischen, breiten Öffentlichkeit, haben keine Chance. Mit Corona-Maßnahmen, so jedenfalls die hörbar genervt geäußerte Begründung, wird hier nicht gespaßt. Nach nur wenigen Minuten werden wir höflich, aber doch forsch vom Wachpersonal Richtung Ausgang geleitet, Tür auf, Tür zu, das war’s.
Gesundheit, Bildung, Recht,
das sind Eckpfeiler.
Oliver Scheiber, Gerichtsvorsteher und Richter
Also gut, wofür gibt es die Verfassung, wofür gibt es das Recht, her damit, werfen wir einen schnellen Blick hinein. Und siehe da, es findet sich schnell eine Handvoll allgemeiner Prinzipien, die bei Gerichtsverhandlungen eingehalten werden müssen – eines davon heißt „Öffentlichkeitsgrundsatz“. Das bedeutet so viel wie: Gerichtsverhandlungen sind öffentlich. Was jetzt?
Anruf beim Justizministerium. Hebeln Corona-Regeln den Öffentlichkeitsgrundsatz gänzlich aus? Erhebt jedes Gericht eigene Regeln? Und ist man im schlimmsten Fall womöglich der Willkür einer Empfangsperson ausgeliefert, wie diese Regeln schlussendlich ausgelegt werden? Die Justizsprecherin stellt klar: „Niemand darf kategorisch ausgeschlossen werden.“ Die Mitarbeiter*innen seien dazu angehalten, „machbare Lösungen“ zu finden. Besucher*innen unwirsch abzukanzeln gehöre aber nicht dazu.
Im U4 geign die Goldfisch’
Gut zu wissen. Also auf zum nächsten Stopp. In einem wenig attraktiven, monströsen Klotz versteckt sich nicht nur ganz unten der legendenumwobene Club U4 – verewigt übrigens in diversen Songs, in „Fürstenfeld“ von S.T.S. zum Beispiel oder in Falcos „Ganz Wien“ –, sondern ganz oben auch das Bezirksgericht Meidling. Apropos Falco, der war hier im Gericht auch schon. Nicht persönlich, aber immerhin als mannsgroße Papp-Attrappe und in allerlei Kunstwerken und Audiostücken. Vor ein paar Jahren kamen die Gerichtsbesucher*innen nämlich in den Genuss einer Falco-Ausstellung, gratis, sogar Fans aus den Nachbarländern sind angereist, um durch das kleine Bezirksgericht zu marschieren. Bald soll es eine Ausstellung zu Falcone geben, dem legendären Anti-Mafia-Richter aus Sizilien. Verantwortlich für all das: der Gerichtsvorsteher und Richter Oliver Scheiber.
Dieser Richter ist nicht nur Falco-Fan und Thomas-Bernhard-Verehrer, was man sehr schnell in seinem Büro erkennen kann. Und er ist auch nicht nur Richter, sondern nebenbei Buchautor. Erst kürzlich erschien sein neues Werk: „Mut zum Recht!“ Darin beschreibt er die Stärken – aber auch die Schwächen unseres Justizsystems. Und er liefert konkrete und brauchbare Verbesserungsvorschläge für einen modernen Rechtsstaat: „Es ist ein allgemeiner solidarischer Zugang, dass in der Gesellschaft alle möglichst gleich zu den elementaren Dingen kommen müssen: Gesundheit, Bildung, Recht“, sagt er, „das sind Eckpfeiler.“
Seine Schlussfolgerung: Man müsse den Zugang zum Recht erleichtern und die Behördensprache vereinfachen. „Die schreckt doch viele Menschen ab“, er schüttelt den Kopf. Oliver Scheiber ist ein leiser Mensch mit einem warmen Blick, aber seine Worte sind wohlgewählt, seine Haltung kritisch. Hell und lichtdurchflutet ist sein Büro, durch eine großzügige Fensterfront blickt man direkt auf den Stephansdom in der städtischen Ferne. Er mag diesen Blick in die Innenstadt, sagt er, mehr als den aus der Stadt raus. Sein Schreibtisch ist übersät mit Unterlagen, Zetteln, Büchern, Akten. Zur einen Hälfte bestehe sein Job aus Richtersein, zur anderen aus Verwaltung, erklärt er. Und ja, wenn man den Blick so über all diese Dokumente und Schriftstücke schweifen lässt, kann man schon erahnen, dass das ziemlich viel Arbeit jeden Tag ist.
Doch zurück zu den Vorschlägen. Auch bei Gebühren- und Kostenbefreiungen, meint er, müsse man dringend nachbessern: „Stellen Sie sich vor, neben Ihnen wird an der U-Bahn gebaut, und in Ihrer Wohnung reißt es Sprünge in die Mauern, allein die Beweissicherung kostet gleich einmal 4.000 Euro, nur damit der gerichtliche Sachverständige kommt und die Schäden feststellt.“ Auch für mittlere Einkommen – bisher werden sie nur selten gebührenbefreit – sei das teils unerschwinglich.
Dass im Bezirksgericht Meidling – im Vergleich zu anderen Justizuniversen – überdurchschnittlich zukunftsorientiert und experimentell gearbeitet wird, manifestiert sich auch darin, dass es das erste digitalisierte Bezirksgericht Österreichs ist. Das Pilotprojekt des Justizministeriums läuft seit einem Jahr. Papier soll künftig ganz verschwinden. Akte werden digital, so können verschiedene Parteien gleichzeitig Zugriff darauf haben. „Wenn man ans Strafrecht denkt, wo der Akt zwanzigmal zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft hin- und hergeht, beschleunigt das schon einiges“, erläutert Scheiber. „Auch im Familienrecht wird das immens wichtig, bisher wartet da ja ständig jemand auf irgendwelche Unterlagen – Jugendamt, Sachverständige, Anwält*innen, das sind oft sechs Beteiligte auf einmal.“ Zudem habe der Digital-Ansatz im Arbeitsleben einiges vereinfacht: „In der Corona-Zeit konnten bei uns Kanzleikräfte von zu Hause aus arbeiten, was wir bisher noch nie gehabt haben.“
Wenn alles dranhängt
Stichwort Corona, endlich, da ist es wieder. Wenn also wegen eines Virus das ganze Alltagsleben runtergefahren werden muss – was heißt so ein wochenlanger Lockdown eigentlich für den Betrieb im Gericht? Denn an jedem Fall hängen Menschen. Und manchmal geht es um alles: um Leben, um Tod, um Freiheit. Kann man solcherlei Dinge wirklich aufschieben? „Nein“, sagt Oliver Scheiber, „nein.“ Okay, aber welche Causae sind so akut, dass man wirklich nicht warten kann? „Wir haben vor allem die Haftsachen weitergeführt, auch Kindesentführungen, drängende Obsorgeentscheidungen, psychische Erkrankungen, Heimunterbringungen, solche Dinge sind weitergelaufen.“ Alles andere sei unterbrochen worden.
Oliver Scheiber schlendert durch die langen Gänge seines Bezirksgerichts. Er schaut in jedes Büro, er grüßt alle Mitarbeiter*innen, erkundigt sich, wie es ihnen geht. Als er plötzlich vor einem Tresen, coronabedingt mit einer Plexiglas-Scheibe, stehen bleibt, leuchten seine Augen ein bisschen. Unscheinbar sieht das Ganze aus, aber Scheiber lächelt: „Das war mir ein Anliegen, darauf bin ich wirklich stolz.“ Die Rede ist vom Servicecenter, einer Beratungszone, die jeden Tag besetzt ist. Hier können unkompliziert Anträge abgegeben und Beglaubigungen ausgehändigt werden. Wer beispielsweise zu einer einvernehmlichen Scheidung oder einer Mahnklage Infos oder Rat benötigt, kriegt ihn hier, sogar auf Türkisch und Serbokroatisch. Oder Akteneinsicht. „Manchmal geht es emotional zu“, erzählt eine der Mitarbeiter*innen. „Da muss ich dann auch trösten, vielleicht ein Glas Wasser bringen, und dann geht’s wieder.“
Wenn Oliver Scheiber sein Handy in die Hand nimmt – so wie jetzt in diesem Moment –, checkt er kurz auf Twitter ein. Dort ist er als laute und kritische Stimme bekannt – als Verfechter der Verfassung, der Demokratie, des Rechtsstaats. Und als einer, der das in der Kürze in verständliche Worte gießen kann. Über 8.000 User*innen folgen ihm mittlerweile auf der sozialen Plattform. Allerdings: Seine Verfassungs-Tweets fallen viel nüchterner aus als die „Ibiza-Rede“ des Bundespräsidenten. „Ich habe es gut gefunden, dass Van der Bellen nach den Ibiza-Geschehnissen die Verfassung immer wieder erwähnt hat“, sagt Scheiber. Er macht eine kurze Pause. Und dann fügt er hinzu: „Man kann natürlich darüber streiten, ob das vielleicht ein bisschen zu pathetisch war, also ob die Verfassung wirklich elegant ist – oder ob es nicht auch reicht, dass sie einfach funktioniert.“
Drei Fragen zum Thema an Richter Oliver Scheiber
Oliver Scheiber ist Strafrichter und Vorsteher des Bezirksgerichts in Wien-Meidling. Seine Behörde war das erste Bezirksgericht in Österreich mit Digitalisierungsprojekt. Er ist als Experte für den Europarat und die EU tätig sowie Vorstandsvorsitzender des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie in Wien. Daneben unterrichtet er an Hochschulen und veröffentlicht regelmäßig Bücher. Zuletzt: „Mut zum Recht!“
Herr Scheiber, denken wir heute öfter über die Verfassung nach als früher?
In meiner Erinnerung hat sich das tatsächlich verändert – und zwar seit der Bundespräsidentenstichwahl-Wiederholung. Seitdem kommuniziert der Bundespräsident die Verfassung viel öfter. Ich halte das für enorm wichtig. Ich glaube, Österreich hat einfach wenig Krisen gehabt nach 1945. Darum hat man sich selten auf die Verfassung berufen.
Wie sieht das im Vergleich aus? Sind denn Verfassungen andernorts präsenter als hier?
In Deutschland ist das Grundgesetz viel stärker im Bewusstsein der Öffentlichkeit. Und generell ist es wahrscheinlich in Ländern anders, wo die Verfassung zum Beispiel aus einer Revolution heraus entstanden und dadurch dann automatisch viel stärker verankert ist. Ich glaube, dass zentrale Dinge wie das Legalitätsprinzip in Österreich im Bewusstsein von Medien und Öffentlichkeit weitgehend fehlen.
Warum ist die Verfassung hierzulande oft eher im Hintergrund?
Das liegt daran, dass es nicht ein zentrales Dokument gibt wie in anderen Ländern, wo man eine beschlossene Urkunde hat, sondern dass bei uns das Verfassungsrecht verteilt ist über ganz viele Gesetze. Ein weiterer Grund ist, dass es kein Bewusstsein gibt für den großen Einschnitt, als die Verfassung geschaffen wurde. Ich glaube, die Wenigsten verbinden das Dokument mit dem Ende der Monarchie und der Schaffung der Republik. Und das ist sicher ungünstig fürs Verfassungsbewusstsein.