Irgendeine Aussicht auf Besserung? Morris Magrizou schüttelt den Kopf. „Nein!“, ruft er aus. „Kein Gedanke.“ Magrizou gehört zu Larisa. Er ist der Präsident der alteingesessenen jüdischen Gemeinde, aber auch Inhaber eines großen Möbelhauses in der Stadt. Kaum einer kommt nun, um bei ihm zu kaufen. Weil nichts gebaut wird in Larisa – keine neuen Häuser und Wohnungen –, braucht auch niemand mehr neue Möbel. Die Banken haben sowieso kein Geld für Kredite, weder für Bauunternehmer noch gar für kleine PrivatkundInnen. Fast alles steht still im neunten Jahr der Finanz- und Wirtschaftskrise.
Vor 2009, in den Jahren vor und nach dem Beitritt zur Eurozone, als Griechenlands Banken mit billigem Geld überschwemmt wurden und auch niemand wirklich die üppigen Agrarbeihilfen aus Brüssel kontrollierte, war das ganz anders. Larisa war Highlife. Vielleicht nicht der eleganteste Ort im Land, aber laut und fröhlich. Thessaliens Provinzhauptstadt war legendär für ihr Nachtleben. Bouzoukias schossen aus dem Boden, die Nachtlokale mit seichter Live-Musik. Ein Porsche Cayenne, völlig unerschwinglich in heutigen Zeiten, galt vielen Bauern im Umland als Statussymbol für den nächtlichen Ausritt in die Stadt wie für die Fahrt aufs Feld.
Jetzt fällt die große Zuckerfabrik draußen auf der Landstraße von Larisa nach Thessaloniki zusammen. Sie war die erste von fünf Fabrikanlagen im Land, die Griechenlands staatliches Zuckerunternehmen EBZ (Hellenische Zuckerindustrie) in den 1960er-Jahren baute. Nur eine arbeitet heute noch, die anderen hat Brüssel auf dem Gewissen. Vor zehn Jahren beschloss die EU eine radikale Schrumpfkur für die Zuckerindustrie, Griechenland musste seine Produktion halbieren. In Larisa waren gleich einmal 500 Arbeitsplätze weg. Die Landwirte haben 2008 als Erste die Krise gespürt, erinnert sich Nikos Papadopoulos, der Abgeordnete der linksgerichteten Regierungspartei Syriza, aus Larisa. Er ist der einzige Bauer im griechischen Parlament.
Papadopoulos hat wie die anderen im Umland von Larisa seine Felder von Zuckerrüben auf Getreide und Baumwolle umgestellt, aber die riesige Zuckerfabrik draußen vor der Stadt geht ihm nicht aus dem Kopf. „Wir bemühen uns jetzt um die Wiedereröffnung. Wir schaffen das“, sagt er. Die Leute von Syriza sind die einzigen, die daran glauben. 7,5 Cent ist eine Aktie der völlig verschuldeten Hellenischen Zuckerindustrie in diesen Wochen an der Athener Börse wert. Griechenland kauft seinen Zucker nun anderswo aus Europa. Absurd, aber so ist der Markt.
Unter der Armutsgrenze
Dennoch ist es vor allem die Landwirtschaft, die Larisa heute rettet. „Elend? Nein, das gibt es hier nicht“, sagt Papadopoulos, auch wenn die Armut in Larisa selbst weiter verbreitet ist als auf den Dörfern im Umland. Doch es gibt Städte in Griechenland, die noch sehr viel schlimmer dran sind. Alexandroupoli weit im Nordosten an der Grenze zur Türkei etwa, oder Argos, ein Städtchen im Süden, auf dem Peloponnes, das wie Larisa nicht direkt am Meer liegt und deshalb kaum TouristInnen sieht. Ganze Straßenzüge scheinen dort tot. Sparpolitik in der Rezession hat seinen Preis. Eineinhalb Millionen GriechInnen leben derzeit unter der Armutsgrenze von 4.500 Euro Einkommen im Jahr. Rund ein Drittel – 35,6 Prozent – sind unmittelbar von Armut bedroht. Aber auch die Armutsgrenze ist ein relativer Wert. In Griechenland ist sie im Lauf der Krisenjahre nach unten hin korrigiert worden – eben in dem Maße, wie auch die Wirtschaftsleistung des Landes sank, nach der die Grenze zwischen arm und nicht arm berechnet wird.
Larisa mit seinen 200.000 EinwohnerInnen – die eingegliederten Dörfer im Umkreis eingerechnet – krebst an dieser Armutsgrenze entlang. Knapp 60.000 sind in der Region Thessalien arbeitslos gemeldet, bei 22 Prozent liegt die Rate so wie im nationalen Durchschnitt. Es geht nicht abwärts, aber auch nicht wirklich aufwärts. „Ich sehe keine Perspektive“, sagt Morris Magrizou, der Präsident der jüdischen Gemeinde. Es ist eine Klage, die man oft hört in der Stadt. Achilles soll hier im Übrigen geboren worden sein. An übermenschliche Heldentaten glaubt in Larisa allerdings niemand mehr.
Im Griff der Rezession
Magrizous Gemeinde macht die Spar- und Steuerpolitik der wechselnden Regierungen in Athen mit wie der Rest der griechischen Gesellschaft. Von nahezu steuerfrei wurden religiöse Gemeinschaften auf 40 Prozent gesetzt. Es gab eine neue Steuer auf Grund und Immobilien, gleichzeitig sanken die Mieteinnahmen. Kaum einer kann sich die Mieten von früher leisten. Die Rezession hat alle im Griff. Am Ende muss die jüdische Gemeinde in Larisa mit 70 Prozent weniger Geld für ihre Mitglieder auskommen. Dabei ist sie die älteste und wichtigste im Land neben jenen in Athen und Thessaloniki. Von 1.200 Bürgern jüdischen Glaubens ist sie nach dem Einmarsch der Deutschen und dem Holocaust im Zweiten Weltkrieg auf heute 200 Familien geschrumpft.
Magrizou und seine Kollegen im Vorstand haben begonnen, erste Immobilien zu verkaufen, um das Gemeindeleben am Laufen zu halten. Von der politischen Radikalisierung in Griechenland, dem Aufstieg der Nazi-Partei Goldene Morgenröte in den Jahren der Wirtschaftskrise, hat die jüdische Gemeinde in Larisa gleichwohl wenig zu spüren bekommen. „Wir sind hier alle bekannt und sehr assimiliert“, sagt Magrizou. Und zumindest in Larisa ist die Goldene Morgenröte nicht wichtig.
Linker Zahnarzt als Bürgermeister
Seit Jahrzehnten wird die Stadt einmal links, einmal rechts regiert. Die Kommunisten verloren sie in den 1990er-Jahren an einen Konservativen der Nea Dimokratia. 2014 kam dann Apostolos Kalogiannis, ein Zahnarzt und Altlinker. Der Landwirtschaft, aber wohl auch dieser Balance von Rechts und Links wegen ist das Kooperativ-Modell so wichtig in der Stadt geworden. Es hat Larisa in all den Krisenjahren über Wasser gehalten.
Die Idee für einen städtischen Gemüsegarten ist zum Beispiel 2012, noch während der Amtszeit des konservativen Bürgermeisters Konstantinos Tsanakoulis entstanden – und am Tiefpunkt der Finanzkrise im Land. Mittellose Familien und PensionistInnen, von denen viele nach einem Dutzend Kürzungen ihrer Bezüge verarmten, erhalten von der Stadt ein kleines Stück Garten, um Obst und Gemüse für den eigenen Bedarf anzubauen. Ein Zehntel der Ernte geben sie ab, es kommt in die Sozialläden für Bedürftige in Larisa. 500 Familien sind mittlerweile bei diesen Läden angemeldet. Als die Stadt 2013 mit den Sozialläden begann, waren es 200 Familien im Monat. Für die GriechInnen, die aus Stolz und Scham ihre Armut, so weit es nur geht, verheimlichen, sind das große Zahlen.
Ioannis Diamadoulis, der Leiter des Gartenamts in Larisa, will auch lieber über Solidarität sprechen und darüber, dass sich die neuen GemüsegärtnerInnen morgens und abends bei ihrer Arbeit treffen und miteinander reden, was in solchen Zeiten doch erst recht wichtig sei. Alle zwei Jahre werden die knapp 300 Flächen am Südrand der Stadt neu verteilt. 50 Quadratmeter bekommt jede Familie. Es ist genug für Tomaten, Melanzani und Gurken.
Die eine große Kooperative in der Stadt hat die Wirtschaftskrise allerdings weggespült. 557 MitarbeiterInnen hatte der „Supermarkt Larisa“ am Ende. Er war im Jahr 1986 aus dem Zusammenschluss einiger kleiner Lebensmittelläden in der Umgebung entstanden, wuchs über die Jahre – und musste 2015 doch Konkurs anmelden: Der Umsatz war in dem Maß gesunken, wie auch die Kaufkraft der KundInnen der Rezession und Arbeitslosigkeit wegen verloren ging. So argumentierte die linksgeführte Regierung in Athen und reichte bei der EU-Kommission in Brüssel einen Antrag auf Entschädigung ein. In Larisa selbst spricht man eher von Missmanagement und zu vielen VerkäuferInnen für jeden Laden. Dennoch erhielt der „Supermarkt Larisa“ im vergangenen Jahr die stattliche Summe von 10,5 Millionen Euro zugesprochen – aus dem „Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung“ (EGF).
Ein Jahr später ist das Geld allerdings noch immer nicht ausbezahlt. Noch diesen Sommer soll es kommen, so heißt es. Immerhin 120 der ehemaligen Supermarkt-Angestellten fanden mittlerweile neue Jobs, für den großen übrigen Teil der MitarbeiterInnen soll es Maßnahmen zur Weiterqualifizierung geben, in manchen Fällen auch eine Starthilfe von 10.000 Euro für ein eigenes Unternehmen.
Aus dem Geist der Kooperative ist in Larisa inmitten der Krisenjahre schließlich auch ein erfolgreiches neues Unternehmen entstanden. thESGala verkauft frische Milch am Automaten, am Vortag eingesammelt von den Bauernhöfen in Thessalien und Makedonien, pasteurisiert und in der Nacht verteilt über die Verkaufsstationen. 64 gibt es davon mittlerweile in Larisa, Thessaloniki und Athen. Der Clou an der Sache: thESGala kommt ohne Zwischenhändler und besondere Verpackung aus. Die Milch füllt man am Automaten in Glas- oder Plastikflaschen ab. 90 Cent kostet der Liter in Larisa, einen Euro in Athen. Es ist ein Drittel weniger als in den griechischen Supermarktketten. Dort liest man im Kleingedruckten auf manchen Milchpackungen Lieferadressen von Agrarindustriebetrieben im deutschen Niedersachsen oder in Holland.
Erfolgreiche Kooperative
thESGala – es heißt übersetzt „Willst du Milch?“ oder kann auch als Abkürzung von „Thessalien“ und dem griechischen Wort für „Milch“ verstanden werden – begann 2013 mit den Verkaufsautomaten. Heute arbeiten 165 Menschen in dem Unternehmen, rund 50 Milchbetriebe gehören der Kooperative an. Thanasis Vakalis, dem jungen Unternehmensgründer, kam die Idee, als er Milchautomaten für DorfbewohnerInnen in Norditalien sah. 25 Millionen Euro Umsatz machte das Unternehmen im vergangenen Jahr, zehn Prozent sollen es dieses Jahr werden.
Einen normalen Job zu finden ist gleichwohl schwer in Larisa. thESgala ist sicherlich eine Ausnahme, ebenso wie die Karatzis-Gruppe, die in Larisa einen Teil ihrer Plastikfolien herstellt und Netze für Obst und Gemüse – sie soll sogar weltführend mit diesem Produkt sein. Die Normalität, so sagt Giorgos Katsiantonis, ein anderer Parlamentarier aus der Region Larisa, sind zwei, drei kleine Jobs parallel: Man kellnert in einer Bar, parkt Autos, verteilt Werbung und macht damit vielleicht 500 oder 600 Euro im Monat. „Die Armut gibt es hier, aber sie ist nicht so leicht zu sehen“, sagt Katsiantonis. Er setzt die tatsächliche Arbeitslosigkeit bei 30 Prozent an. Bei dieser Zahl sind diejenigen dabei, die sich schon nicht mehr arbeitslos melden, sondern zu Hause verkriechen. Und jene, die einen so geringen Verdienst haben, dass sie davon unmöglich allein leben können, aber gleichzeitig doch nicht mehr in den Arbeitslosenstatistiken aufscheinen.
Giorgos Katsiantonis selbst ist eine Ausnahmefigur. Acht Jahre, von 2006 bis 2014, saß der US-Grieche für die Demokraten im Repräsentantenhaus im Bundesstaat New Hampshire. Bei einem Sommerurlaub in Griechenland lernte er seine Frau kennen, siedelte um ins Land seiner Eltern und versprach seiner Frau, nie wieder in die Politik zu gehen. Das hat nicht geklappt. 2015, nach der Neuwahl im September jenes Jahres, die Alexis Tsipras herbeiführte und sogar gewann, wurde Katsiantonis als Abgeordneter einer kleinen Zentristenpartei angelobt, die erstmals ins Parlament in Athen kam. Katsiantonis ist jetzt 39. Die Jungen in Larisa haben ihn gewählt. Sie sitzen in den Bars und Cafés der Stadt, vom Vormittag bis spät in die Nacht. „Schauen Sie sich nur um“, sagt der Abgeordnete mit dem amerikanischen Akzent, „keiner von denen hat einen Job.“
Flucht ins Studium
Die meisten der Gäste sind in Wahrheit StudentInnen, denn Larisa ist auch eine Universitätsstadt. Doch nur der kleinere Teil dieser jungen Leute ist so fixiert darauf, das Studium so rasch wie nur möglich hinter sich zu bringen wie Rania Kyrozis. Die Tochter eines Athener Bauunternehmers ohne Aufträge hat ein schlechtes Gewissen. „Es sind die Ausgaben meines Vaters“, sagt sie. Rania hat noch zwei Schwestern, die in den letzten Schuljahren stecken. Sie ist die älteste der drei, und sie glaubt daran, dass sie einen Job finden wird. Viehzucht ist ihr Studium, einen eigenen Betrieb könnte sie vielleicht einmal aufmachen; sie mag die Tiere mittlerweile sehr. Eigentlich wollte Rania einmal Anwältin werden.
Die junge Griechin führt ein zurückgezogenes Leben als Studentin. Sie geht kaum aus, des Geldes wegen. Politik und die Nachrichten interessieren sie nicht. „Ich will nur mein Studium beenden“, sagt sie. Dieses Jahr wird ihr letztes sein. Aber Rania fühlt sich wohl, trotz der ärmlichen Bedingungen auf dem Campus. Alle sind glücklich, in Larisa zu sein und nicht im Moloch Athen, so scheint es zumindest. „Gerade klein genug, gerade groß genug“, sagen die Leute in der Stadt. Sie igeln sich ein, tauchen unter, warten, bis diese Wirtschaftskrise eines Tages vielleicht doch vorbei ist.
Die Familie ist das Rückgrat der Gesellschaft in Griechenland, sagt Giorgos Katsiantonis. Der Vater finanziert die Familie, oft sind es jetzt gar die Großeltern, weil sie noch eine Pension bekommen und alle anderen keine Arbeit haben. „Der Vater gibt seinen erwachsenen Kindern 20, 30 Euro, damit sie ins Café gehen können“, sagt Katsiantonis. „Jeder fühlt sich schlecht dabei, die Eltern wie die Jungen, und eines Tages wachen sie auf, sind 35 und können keine Familie gründen, weil sie kein Geld haben und keinen Job.“ Am Nebentisch im Café beugt sich derweil eine Gruppe von Freunden über ein Smartphone und kommentiert ein Foto. Nachdenklich ergänzt der Abgeordnete: „Das ist vielleicht das schlimmste Problem in diesem ganzen Drama hier.“
Markus Bernath
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/17.
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor
markus.bernath@derstandard.at
die Redaktion
aw@oegb.at