Reportage: Keine klaren Linien

Inhalt

  1. Seite 1 - Wieder selbstständig wohnen
  2. Seite 2 - Ruhe und Rückzug
  3. Seite 3 - Kurzinterview
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Ein Schlüssel, eine Adresse, ein Postkasten und die Möglichkeit, zum Arzt zu gehen: Im „neunerhaus“ Hagenmüllergasse leben ehemals Obdachlose, die teils jahrelang ohne all das auskommen mussten. Hier können sie in ihren eigenen vier Wänden zur Ruhe kommen, Kraft tanken und sich mit viel Unterstützung auf ein selbstbestimmtes Leben danach vorbereiten.

Schlüssel, Adresse, Postkasten

Bei der Besichtigung kommt uns eine junge Frau auf der Treppe entgegen. Sie schreitet wie ein Gespenst die Stufen hinab. Das Ceranfeld ihrer Küche habe einen Sprung, erzählt sie Robert Erlachner, der ihr später helfen wird, das Problem zu lösen. Die Wohnungen, die zwischen 23 und 40 Quadratmeter groß sind, haben alle eine eigene Küche, ein Bad und WC. Auch ein Bett, einen Kasten, Tisch und Sesseln gibt es hier. Für Dinge wie Bettwäsche oder Fernsehgeräte müssen die BewohnerInnen in der Regel selbst sorgen. Sie leben allein oder zu zweit, haben einen eigenen Schlüssel, eine Adresse und einen Postkasten. Manche werden von WohnbetreuerInnen beim Kochen, Einkaufen, Aufräumen, Putzen und der Körperhygiene unterstützt. Sie können Besuch empfangen, dürfen in ihren Wohnungen Haustiere halten, rauchen und Alkohol konsumieren. Hunde und Katzen gibt es hier viele. Einmal hatte jemand eine Schlange. Es gibt eine Hausordnung, die für ein möglichst friedliches Zusammenleben sorgen soll. Portier gibt es keinen – darauf legt die Organisation „neunerhaus“ Wert, die für selbstbestimmtes Wohnen ohne Heimcharakter steht; für „Wohnen so normal wie möglich“. Der „neunerhaus“-Claim lautet: „Du bist wichtig.“

Der „neunerhaus“-Claim lautet: „Du bist wichtig.“

Jemand hat einen Zettel auf seine Tür geklebt, auf dem steht: „Bitte zwischen 22 Uhr abends und 7 Uhr in der Früh nicht bei mir läuten. Ich möchte schlafen. Danke!“ Privatsphäre, Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit werden hier großgeschrieben, wobei das nicht immer leicht ist. Schließlich waren oder sind einige BewohnerInnen auch alkohol- oder drogenabhängig. Dennoch will man die Zügel eher locker lassen. „Hamü“-Leiterin Bischeltsrieder: „Wir versuchen sehr weise zu überlegen, was wir reglementieren.“ Verbote würden eher dazu führen, dass die BewohnerInnen nicht offen über ihre Probleme, zum Beispiel den Suchtmittelkonsum, sprechen. Nur zweimal im Jahr gibt es eine Wohnungsbegehung, ansonsten müssen die BewohnerInnen niemanden in ihre vier Wände lassen, wenn sie nicht wollen.

Ruhe und Rückzug

Wer hierherkommt, muss erst mal Kraft schöpfen. Die meisten Menschen, die wohnungslos waren, sind in einem schlechten gesundheitlichen Zustand. Sie waren oft lang nicht beim Arzt. Sozialarbeiter Erlachner sagt: „Gesundheit ist ein Riesenthema. Wenn man länger auf der Straße ist, schämt man sich, zum Arzt zu gehen.“ Für viele Personen im Suchtbereich sei das eine Riesenhürde: „Sie gelten immer als der Junkie und werden oft abgeschasselt. Es kommt vor, dass sich der Arzt nicht einmal zwei Minuten Zeit für sie nimmt.“ Aber auch wenn Arzttermine öfter nicht eingehalten werden, kann es schwer werden, denn dann bekommt man unter Umständen keinen Termin mehr.

Es ist nicht möglich, ohne Betreuung hier zu wohnen. So muss jeder beziehungsweise jede mindestens einmal pro Monat einen Termin mit einem/r SozialarbeiterIn absolvieren, gerne auch öfter.

Wer hier im Zielgruppenwohnen lebt, soll erst einmal „ankommen, zur Ruhe kommen und sich zurückziehen dürfen“. Die BewohnerInnen können sich den ÄrztInnen des Gesundheitszentrums vom „neunerhaus“ in der Margaretenstraße und einer praktischen Ärztin anvertrauen, die jede Woche für drei Stunden direkt in der „Hamü“ im Erdgeschoss ordiniert. Auch eine Psychiaterin kommt regelmäßig vorbei. Doch es ist auch Engagement von den BewohnerInnen erwünscht. Es ist nicht möglich, ohne Betreuung hier zu wohnen. So muss jeder beziehungsweise jede mindestens einmal pro Monat einen Termin mit einem/r SozialarbeiterIn absolvieren, gerne auch öfter. Erlachner: „Ein gewisses Maß an Kooperation ist nötig, um die eigenen Ziele zu erreichen. Wir erinnern die Leute immer wieder daran.“

„Hamü“-Leiterin Anja Bischeltsrieder wird oft schon morgens, wenn sie durch die Eingangstür im Erdgeschoss tritt, von den BewohnerInnen im ersten Stock begrüßt. Die Architektur bietet zahlreiche Durchblicksmöglichkeiten über die Stockwerke hinweg.

Blicke durch die Stockwerke

Beim Gang durch die einzelnen Stockwerke fallen nicht nur ein Wuzeltisch, ein Computerraum, Raucherräume, ein Laufband, ein Ergometer und ein Gerät zum Trainieren mit Gewichten auf, sondern auch die besondere Architektur des Hauses. Jeder Stock hat einen anderen Grundriss. Die Stiegenhäuser sind versetzt angeordnet. „Es gibt keine klaren Linien“, sagt „Hamü“-Leiterin Bischeltsrieder. Und es gibt interessante Durchblicksmöglichkeiten von einem Stock in den anderen – manchmal reichen diese sogar über mehrere Stockwerke. Bischeltsrieder wird oft schon um sieben Uhr morgens, wenn sie durch die Eingangstür im Erdgeschoss tritt, von BewohnerInnen aus dem ersten Stock begrüßt. Auch die Wohnungen funktionieren nicht nach Schema F: Kein Grundriss gleicht dem anderen.

Das Haus ist mit allem ausgestattet:

  • Computerraum
  • Raucherräume
  • Wuzeltische
  • Café
  • Hof
Der Neubau von 2015 wurde von der WBV GPA in Passivhausstandard erbaut und finanziert und von der pool Architektur ZT GmbH errichtet, die als Sieger aus einem Architektur-Wettbewerb hervorgegangen sind. Der Bau erhielt den österreichischen Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit und den Bauherrenpreis des Zentralvereins der ArchitektInnen Österreichs. Sowohl BewohnerInnen als auch Menschen, die hier arbeiten, wurden in den Planungsprozess integriert. So kam es etwa dazu, dass es im Untergeschoss das sympathische und gemütliche Café „’s neunerl“ mit sehr günstigen Getränken und Speisen gibt – eine Pizza und andere Speisen gibt es hier für 3,50 Euro. Hier können die BewohnerInnen einander treffen, aber auch Leute von außen einladen, ohne etwas zu konsumieren. Es gibt ein offenes Bücherregal, einen Wuzeltisch und einen Fernseher, wobei Letzterer selten genutzt wird, weil die BewohnerInnen meist in ihren Wohnungen fernsehen. Im Gemeinschaftsraum kann unter anderem Tischtennis gespielt werden. Der Hof im Erdgeschoss ist mit diversen Pflanzentrögen liebevoll gestaltet, und hier trifft man sich unter anderem zum Rauchen. Auch die Büroräume der Hausleitung und anderer MitarbeiterInnen befinden sich im Erdgeschoss.

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Über den/die Autor:in

Alexandra Rotter

Alexandra Rotter hat Kunstgeschichte in Wien und Lausanne studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin in Wien und schreibt vor allem über Wirtschaft, Gesellschaft, Technologie und Zukunft.

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