Die mentale Gesundheit der Menschen an der Schule hat sich durch die Pandemie massiv verschlechtert und ein Genügend reicht nicht aus.
Maria Fischer, Schulsprecherin Handelsakademie Wien-Donaustadt
Jugendliche brauchen nicht nur Spaß
An Fischers Schule müssen 300 Stunden Pflichtpraktikum absolviert werden, um den Abschluss machen zu können. „Einen Praktikumsplatz zu finden stellt einen riesigen Stressfaktor für meine Mitschüler:innen dar.“ Die meisten Unternehmen würden auf die Zeit „nach der Pandemie“ vertrösten oder sich erst gar nicht zurückmelden. Wer einen Platz ergattere, schaffe das meist nur über Beziehungen der Eltern oder im Bekanntenkreis. „Das ist keine gute Option für uns, weil es nicht fair ist. Bildung muss für alle chancengleich sein!“ Fischer hat selbst bisher die Hälfte der Stunden absolviert, einige in ihrer Klasse hätten noch nichts gefunden. Unternehmen würden sie nicht anstellen, wegen der fehlenden Berufserfahrung. „Wie sollen wir denn Berufserfahrung sammeln, wenn uns niemand eine Chance gibt?“ Es ist ein Teufelskreis, in dem viele junge Menschen feststecken und der ihre ersten Erfahrungen in der Berufswelt prägt.
Gabriele Schmid leitet die Abteilung Lehrausbildung und Bildungspolitik der AK. Sie sagt: „Viele junge Menschen fühlen sich als verlorene Generation nach den Erfahrungen in der Pandemie.“ In verschiedenen Befragungen, wie der SORA-Jugendbefragung oder auch in der ÖGJ-Befragung zur psychischen Gesundheit von Lehrlingen, sieht man den deutlichen Anstieg bei den psychischen Belastungen, wie zum Beispiel Depressionen, Angstzustände und Ähnliches. „Was den meisten jungen Menschen fehlte und noch fehlt, sind Begegnungen, Gemeinschaft und Spaß miteinander“, weiß Schmid. Dazu komme die Isolation und das Gefühl, mit Zukunftsängsten nicht ernst genommen zu werden. „Das sind klar die Folgen davon, dass es keine Maßnahmen der Bundesregierung gab, diesen Missständen aktiv entgegenzuwirken, sodass all die Sorgen um Gegenwart und Zukunft auf den Schultern der jungen Generation lasten“, so Schmid.
In der Berufsschule ging es drunter und drüber
Marc König hatte sich seine Lehre wirklich anders vorgestellt. Er hoffte auf ein gemeinsames Feierabendbier mit Kolleg:innen und darauf, viel voneinander zu lernen. Parallel zu den Anfängen der Pandemie begann er bei einer Papierfirma nahe Graz seine Lehre. „Mit Maske und Abstand ist es echt schwer, eine Person einzuschätzen und ins Gespräch zu kommen“, so der 17-Jährige. Während ein Teil der Firma in Kurzarbeit war, sollten sie lernen, was es braucht, damit die Maschinen funktionieren. „Es hat sich alles falsch angefühlt“, erzählt König. Seine Haare sind aufgestellt, er trägt Kapuzenpulli und schaut in die Kamera. Nicht nur einmal habe er überlegt, alles hinzuschmeißen. Auch in der Berufsschule ging es drunter und drüber. „Es fehlten Regeln und Klartext. Niemand wusste Bescheid.“ An manchen Tagen trugen sie mal Maske in einem Fach, in der Stunde darauf nicht, weil sich die Lehrenden uneinig waren. König ist eine der für Österreich so wertvollen und gesuchten Fachkräfte von morgen. Auf die Frage, ob er sich so behandelt fühle, bleibt ihm nur ein lautes Lachen. „Ehrlich gesagt, überhaupt nicht!“
Viele junge Menschen fühlen sich als verlorene Generation nach den Erfahrungen in der Pandemie.
Gabriele Schmid, Leiterin Lehrausbildung und Bildungspolitik der AK Wien
Einige Lehrlinge der Firma hätten während der Pandemie deswegen auch aufgehört, seien lieber wieder in die Schule zurück, erzählt er. Es habe lange gedauert, bis sie sich mit den Lehrlingsbeauftragten verstanden hätten, und auch, bis sich die Lehrlinge untereinander kennengelernt hätten. „Du siehst immer nur die Maske und weißt nicht, woran du bist.“ Seit die Maßnahmen gefallen sind, funktioniere alles besser. Man kenne sich mittlerweile gut und könne offen reden. „Jetzt ist es endlich so, wie ich mir eine Lehre vorgestellt habe.“ König fasst zusammen: Im Grunde hätte ein gemeinsamer Tag zu Beginn gereicht, damit sie sich nicht ganz so verloren gefühlt hätten.
Als Lehrling ständig Schülerin zweiter Klasse zu sein nervt
Stephanie Grguric hat während der Pandemie eine Lehre als ausgebildete Bürokauffrau mit Matura gemacht. Die 19-Jährige ist auch in der Gewerkschaft tätig und sagt: „Das Hauptproblem ist, dass sich die meisten jungen Menschen total vergessen und nicht wahrgenommen fühlen.“ Sie hätten zwei Jahre nur gearbeitet und gelernt und keine Freizeit gehabt. „Da blieb nichts übrig. Manche waren regelrecht eingesperrt.“ Folgen seien neben psychischen Problemen auch der Rückgang von sozialen Kompetenzen. „Es geht da draußen einigen wirklich dreckig, und die sind gerade mal 15 oder 16 Jahre alt“, betont die Wienerin im Gespräch. Ihre langen Haare schiebt sie während des Videotelefonats mehrmals mit der Sonnenbrille nach hinten.
Grguric begann 2018 bei der Stadt Wien als Verwaltungsassistentin und konnte ein Jahr erleben, wie sich eine Lehre ohne Pandemie anfühlt. Gestartet hätten alle zusammen bei einem Treffen im Rathaus. Danach folgten Seminare und Berufsschule. „Wir konnten uns connecten und uns als Gruppe fühlen.“ Im Jahr darauf war alles weg. „Dieser Jahrgang war total auf sich allein gestellt.“ Die Berufsschule fand zuerst komplett im Distance-Learning statt, danach folgte sogenannter Hybridunterricht, bei dem sie sich mit der Anwesenheit abwechselten. „Wir Berufsschüler:innen haben uns während der Pandemie als Schüler:innen zweiter Klasse gefühlt.“
Dieser Jahrgang war total auf sich allein gestellt.
Stephanie Grguric, ehem. Lehrling
Von der Regierung vergessen
Besonders deutlich sei das bei Pressekonferenzen der Fall gewesen. Nie seien Jugendliche, Schüler:innen oder Lehrlinge vorgekommen. Politisches Interesse von Jugendlichen ist so nicht zu erwarten. Oft bekamen sie erst am Sonntag von ihren Berufsschulen Bescheid, ob sie am Montag kommen durften oder nicht. „Die Berufsschulen wurden vonseiten der Regierung jedes Mal vergessen.“ Als Beispiele nennt Grguric auch die Ausstattung mit Antigen-Tests, Masken und digitalen Ressourcen. Erst durch massiven Druck der Gewerkschaft sei das bereitgestellt worden. „Ich bin enorm enttäuscht von der Regierung.“ Auch bei der Berufsmatura bekam sie keine Erleichterung, obwohl sie genauso im Distance-Learning stattfand wie in der AHS. Als Grund wurde genannt, dass es eine Zeugnisnote bräuchte, die es bei den Modulen nur indirekt gibt. Das hätte man alles ändern können, wenn man gewollt hätte, ist sich Grguric sicher. „Wir sind die Fachkräfte, von denen alle immer reden, und trotzdem werden wir andauernd vergessen.“ Für die Wienerin hängt das stark mit der Außenwahrnehmung der Ausbildung zusammen. Für viele sei die Lehre immer noch etwas für die, die die Matura und Studium nicht packen. „Derweilen sind wir die mit einer fertigen Ausbildung.“
Pandemie und Lehre
Thomas Moldaschl ist Geschäftsführer des Bundesberufsausbildungsbeirats und Experte für Lehrlingswesen der AK. Er bestätigt: „Vonseiten der Regierung überwog der Eindruck, dass Maturant:innen deutlich mehr zählen als Lehrlinge.“ Arbeitsmarktpolitisch hätten viele Lehrlinge in den letzten zwei Jahren ein extremes Auf und Ab erlebt. So waren 2020 und 2021 viele auf der Suche nach einer Lehrstelle. In diesem Jahr würden nun eher die offenen Lehrstellen überwiegen – besonders stark in Bereichen wie Tourismus, Gastronomie und Handel, die sich durch geringe Bezahlung und unattraktive Arbeitsbedingungen auszeichnen würden. „Die Pandemie war vielfach ein Verstärker bestehender Trends.“ Zugleich konkurriere die Lehre mit anderen Bildungswegen um eine sinkende Anzahl an jungen Menschen. Seit Jahrzehnten gibt es den Trend, dass immer weniger Betriebe bereit sind, Jugendliche als Lehrlinge auszubilden.
Nach Lehre doch Studium
Lea Gajdusek entschied sich nach der Matura für eine Lehre im Buchhandel in Wien. Eineinhalb Jahre davon fielen in die Pandemie. „Wir haben uns in der Berufsschulklasse überhaupt nicht von der Politik vertreten gefühlt“, erzählt die heute 20-Jährige. Lange sei ihnen nicht einmal der Termin für ihre Lehrabschlussprüfung mitgeteilt worden. Zur Matura lernte Gajdusek die Textform des offenen Briefs. Zwei Jahre später beschließt sie, zusammen mit den Lehrlingen des Abschlussjahrgangs 2021 in Buch- und Medienwirtschaft in Wien diese Textform anzuwenden. Sie adressieren ihren Brief direkt an die Regierung. „Wir wollten auf uns aufmerksam machen, weil wir das Gefühl hatten, unwichtiger zu sein als alle anderen Schüler:innen.“
Für Gajdusek geht sich das nicht aus, dass man nach außen stolz auf die duale Ausbildung ist und dann auf die Auszubildenden vergisst. Sie wechselte während der Pandemie in der Wiener Buchhandlung vom täglichen Kontakt mit Menschen zum Online-Versand. „Für mich war das interessant zu sehen, wie man ein kleines Online-Geschäft ausbaut.“ Sie fühlte sich aber während der Pandemie auch oft allein gelassen.
„Mir hätte es geholfen, wenn ich face to face mit jemandem mit den gleichen Problemen sprechen hätte könnte.“ Dass ständig auf sie vergessen wurde, kann sie sich nur damit erklären, dass Menschen Entscheidungen treffen, die zu weit weg sind, um zu verstehen, was eine Berufsschule und Lehre braucht. „Man fühlt sich als junger Mensch sowieso nicht gehört. Es wäre wichtig, dass wir mitentscheiden können, denn wir wissen, was wir brauchen.“ Lea Gajdusek ging nach dem Abschluss ihrer Lehre ihrer zweiten großen Leidenschaft nach: Gletscher, Eis, Schnee und Klima. Sie studiert nun Atmosphärenwissenschaften in Innsbruck.
Auch Jugendliche mitdenken
Christina Ritter ist Bundesjugendsekretärin der Gewerkschaft vida. Sie ist direkt in den Berufsschulen, in den Betrieben und überbetrieblichen Einrichtungen, die junge Menschen für die Tourismusberufe ausbilden. „Junge Menschen waren und sind von der Pandemie definitiv am stärksten betroffen gewesen“, sagt sie. „Was ich aber in meiner täglichen Arbeit mit jungen Menschen immer wieder sehe und spüre, ist die Energie, das eigene Leben in die Hand zu nehmen und etwas daraus zu machen, und ein optimistischer Blick in die Zukunft, so schwierig dieser auch manchmal erscheint.“ Gerade in den Betrieben und in den Schulen seien ihnen der Rückhalt und das Miteinander sehr wichtig. „Es wurde viel zu selten an alle gedacht, viel zu selten wurden alle Betroffenen mit eingebunden.“ Die Folge könnte möglicherweise sein, dass Jugendliche zu wenig Perspektive sehen, den erlernten Beruf weiter auszuüben. „Wer Fachkräfte will, muss sie auch ausbilden wollen.“
Wer Fachkräfte will, muss sie auch ausbilden wollen.
Christina Ritter, Bundesjugendsekretärin der Gewerkschaft vida
Dass in der Zukunft endlich anders mit den jungen Menschen umgegangen werden muss, zeigt sich immer deutlicher. Die Forderungen dazu liegen auf dem Tisch. Damit sich endlich etwas ändert, braucht es einen stärkeren Ausbau der psychosozialen Versorgung, bessere Ausbildungsbedingungen und mehr Mitspracherecht für die Jugendlichen. Dazu zählt auch die Forderung des Wahlrechts für in Österreich geborene und sich dauerhaft aufhaltende Jugendliche. Expertin Schmid betont noch einmal, wie wichtig es wäre, Jugendlichen Stimme und Perspektive zu geben. „Wir müssen Jugendliche ernst nehmen und an Lösungen mitarbeiten lassen. Sie sind schließlich die Hauptbetroffenen der folgenschweren Entscheidungen von heute.“