Reportage: Die Risse in der Gesellschaft kitten

(C) Michael Mazohl

Inhalt

  1. Seite 1 - Reale Einschränkungen
  2. Seite 2 - Nie reich, aber nie am Limit
  3. Seite 3 - Selbsthilfe
  4. Auf einer Seite lesen >
Daniela Brodesser und Sarah Zeller mussten selbst erleben, was Leben in Armut bedeutet. Beide engagieren sich heute für Armutsgefährdete. Die eine bemüht sich um ein besseres Bewusstsein für die Lebensrealität dieser Menschen und geht gegen Vorurteile an. Die andere hat eine Beratungsstelle für Alleinerziehende auf die Beine gestellt, die sich auch dafür einsetzt, dass deren Bedürfnisse im Wohnbau besser berücksichtigt werden.
Graue Maus: So nannte sie sich selbst auf Twitter. Heute scheint ihr das selbst ein bisschen seltsam vorzukommen. Aber es ist noch nicht so lange her, dass sie sich genauso fühlte, deshalb findet sie es bis heute stimmig, dass sie sich so nannte. Wenn man Daniela Brodesser heute kennenlernt, muss man über diese Selbstbeschreibung erstaunt sein, so fröhlich und kraftvoll wirkt diese Frau. Inzwischen hat sie auch ihren Twitter-Namen geändert, Frau Sonnenschein nennt sie sich nun und ist in dem sozialen Netzwerk unheimlich umtriebig. Ihr wichtigstes Thema: Armut.

Unermüdlich prangert sie Vorurteile gegenüber Menschen an, die in Armut leben oder wenig verdienen. Unermüdlich kritisiert sie Kürzungen im Sozialbereich. Und beharrlich schildert sie die Perspektive von Menschen, die finanziell in eine schwierige Lage geraten sind. Zusätzlich zu ihrem Engagement auf Twitter hat sie mit www.un-sichtbar.co.at eine Plattform geschaffen, auf der Armutsbetroffene selbst zu Wort kommen. Denn aus eigener Erfahrung weiß sie, was Armut bedeutet, drei Jahre lang dauerte es, bis für die „graue Maus“ wieder öfter die Sonne schien. „Wir haben teilweise wirklich von weniger als 1.000 Euro im Monat gelebt“, erzählt sie. Wir, das sind sie, ihr Mann Klaus und vier Kinder im Alter von zehn bis 21 Jahren. Die älteste Tochter ist inzwischen ausgezogen, noch zu Hause wohnen die beiden anderen Töchter und der Sohn.

Reale Einschränkungen

Armuts- oder ausgrenzungsgefährdet: Auf rund 1,5 Millionen Menschen in Österreich trifft diese abstrakt wirkende Beschreibung zu. Das sind 17 Prozent der Bevölkerung. Zwar sinkt diese Zahl laut Statistik Austria, doch für die Betroffenen bleibt es eine enorme Herausforderung. Was dies konkret bedeuten kann, beschreibt die Armutskonferenz auf ihrer Homepage: „Das bedeutet zum Beispiel, abgetragene Kleidung nicht ersetzen, sich nicht gesund ernähren, die Wohnung nicht warm halten und keine unerwarteten Ausgaben tätigen zu können. Wer in Armut lebt, erfährt oft auch Ausgrenzung, Einsamkeit und Isolation. Sie oder er kann es sich nicht mehr leisten, FreundInnen oder Verwandte zu sich zum Essen einzuladen, gelegentlich ins Café, Kino oder zum Sport zu gehen.“

Wer in Armut lebt, erfährt oft auch Ausgrenzung, Einsamkeit und Isolation.

Daniela Brodesser ist es wichtig, mit falschen Bildern aufzuräumen, die viele Menschen über arbeitslose und/oder armutsbetroffene Menschen im Kopf haben. Und es ist ihr wichtig, aufzuzeigen, wie hart Betroffene meist kämpfen, um aus dieser Lage herauszukommen – und wie schwer dies bisweilen ist, auch wenn sie sich noch so anstrengen.

Wie aber ist es bei den Brodessers so weit gekommen, dass sie in die Armut gerutscht sind? An sich lief es gut für sie. Der Mann hatte verschiedene Jobs gemacht, bis nach Stuttgart führten ihn zuletzt seine Geschäfte als Kleinunternehmer. Daniela Brodesser wiederum arbeitete zunächst auch, als Spielgruppenleiterin und im Gastgewerbe. Mit der Geburt der Kinder wurde für sie die Joblage immer schwieriger, drei Jahre lang pflegte sie außerdem ihre Großmutter. Zudem kam die jüngste Tochter schwer krank auf die Welt. „Da war es bei mir mit dem Arbeiten vorbei“, sagt sie.

Bei Klaus Brodesser wiederum sah es beruflich anfangs eigentlich ganz gut aus. Er hatte in Mödling die Fachschule für Tischlerei und Raumausstatter absolviert und in dem Bereich gearbeitet. Doch dann wurde er arbeitslos und traf eine völlig falsche Entscheidung, jedenfalls empfindet er es rückblickend so: „Vor lauter ‚Du sollst nicht so lange arbeitslos sein‘ habe ich den Schritt gemacht: Dann gehe ich halt auf Montage. Und von da bin ich nicht mehr zurückgekommen“, erzählt er. „Denn wenn du einmal in deinem Lebenslauf soundso viele Montagen drinstehen hast, dann kommst du in Objektplanung nicht mehr rein.“ Heute bereut er, dass er nicht darauf bestanden hat, in seinem Bereich wieder einen Job zu bekommen. „Dann wäre ich vielleicht länger arbeitslos gewesen, wäre aber nicht aus dem Rad rausgefallen“, meint er.

(C) Michael Mazohl
Mit der Entscheidung, offen auf Twitter über ihre Lebenssituation zu sprechen, begann sich auch das Leben von Daniela Brodesser und ihrer Familie zu verbessern.

An die Zeit auf Montage denkt Klaus Brodesser dennoch gerne zurück, sie hatte ihn unter anderem zur Schiffswerft Blohm + Voss in Hamburg geführt, wo er Luxusliner einrichtete. Doch im Laufe der Zeit stieg die Sehnsucht, „sesshaft zu werden“, wie er es beschreibt. Über Umwege landete er im Sicherheitsdienst. Zwar war die Arbeit nicht gut bezahlt, aber doch immerhin sicher, wie er hoffte.

Parallel dazu begann er mit Erfolg als Selbstständiger eine „Küchentuning-Firma“ zu betreiben, wie er es nennt. Online vertrieb er Kücheneinrichtungen und baute auch Küchen um. „Ja, und dann hat er 80 Stunden in der Woche gearbeitet und ist ins erste Burn-out geschlittert“, erzählt Daniela Brodesser. Noch im Krankenstand kam die Kündigung – und es begann ein Teufelskreis. Mangels Jobchancen für Daniela Brodesser biss Klaus in den sauren Apfel und ging rasch wieder arbeiten. Das Problem: „So kommst du nicht raus aus dem Burn-out“, hält Daniela Brodesser fest. Das zweite Burn-out war daher vorprogrammiert, er musste die Selbstständigkeit aufgeben – und für die Familie begannen finanziell wie psychisch extrem herausfordernde Zeiten.

Noch im Krankenstand kam die Kündigung – und es begann ein Teufelskreis.

Dazu kam, dass Klaus Brodesser einen freien Dienstvertrag hatte, weshalb es für die Familie keinen Anspruch auf Mindestsicherung gab. So zeigen sich in diesem Fall zusätzlich die Risiken, die Menschen tragen, wenn sie atypisch beschäftigt sind. Denn wer einen freien Dienstvertrag hat, muss sich nicht nur selbst um die Buchhaltung, das Finanzamt und die Sozialversicherung kümmern. Will man Mindestsicherung beziehen, darf das Einkommen aus dem Vorjahr nicht über einer bestimmten Grenze liegen. So griff selbst dieses „letzte soziale Netz“ bei der oberösterreichischen Familie nicht, wie die inzwischen wieder in „Sozialhilfe“ umbenannte Sozialleistung gerne genannt wird.

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