Unter Druck
Gernot Mitter beschäftigt sich als Leiter der Abteilung Arbeitsmarkt und Integration der AK Wien seit Jahren intensiv mit der Arbeitsmarktpolitik österreichischer Regierungen. Vor allem in den letzten 16 Monaten ortet er einen autoritären Umgang mit Arbeitsuchenden. Die geplatzte ÖVP/FPÖ-Regierung habe eine Politik des Forderns statt des Förderns betrieben. „Die Sanktionen gegenüber Arbeitslosen, etwa Kürzungen des Arbeitslosengeldes, haben sich von 2017 auf 2018 verdoppelt“, betont Mitter. Zudem hatte die Regierung geplant, die Zumutbarkeitsbestimmungen aufzuweichen und den Berufsschutz stark zu verändern. Damit hätte sich der Druck auf arbeitslose Menschen weiter verschärft. Viele hätten damit Jobs unter ihrer erreichten Arbeitsmarktposition annehmen müssen, womöglich mit längeren Anfahrtszeiten und schlechteren Arbeitsbedingungen. „Die Idee, dass man Arbeitslosigkeit verringert, indem man den Druck erhöht, ist empirisch nicht erwiesen und eine ideologische Haltung“, kritisiert der Arbeitsmarktexperte. Qualifizierungsmaßnahmen hält er für zielführender.
Wir sind gerade für Menschen in instabilen Arbeitsverhältnissen ein wichtiger Ansprechpartner, um ihre Rechte durchzusetzen und sie vor unseriösen Angeboten zu warnen.
Gernot Mitter, Arbeiterkammer Wien
Was Förderung und Unterstützung von Arbeitsuchenden angeht, hat die AK als gesetzliche Interessenvertretung viele Aufgaben, wie die Begutachtung von Gesetzesentwürfen, die Formulierung von Gesetzesvorschlägen, die Publikation von Studien sowie Beratungs- und Rechtsvertretung. „Wir sind gerade für Menschen in instabilen Arbeitsverhältnissen ein wichtiger Ansprechpartner, um ihre Rechte durchzusetzen und sie vor unseriösen Angeboten zu warnen“, so Mitter. Genau das ist Jutta Konvicka passiert.
Der Vertrag
Im Juni 2017 erhält Konvicka das Angebot, in einem kleinen Wiener Elektroingenieursbetrieb zu arbeiten, zunächst für drei Wochen als Urlaubsvertretung, mit Option auf zwei Monate. Vermittelt wurde sie vom sozialen Arbeitskräfteüberlasser Trendwerk. Schon in den ersten Tagen folgte die Ernüchterung: „Mir wurde ein Dienstzettel vorgelegt, nach dem ich nur als ,Bürohilfskraft‘ angestellt gewesen wäre.“ Von Hilfskraft konnte aber keine Rede sein: „Ich habe das Büro de facto alleine geschupft, weil die beiden Geschäftsführer oft nicht im Betrieb waren.“ Ihre Aufgaben: Sie schrieb Kostenvoranschläge und Rechnungen, organisierte die Ablage und verantwortete den gesamten Schriftverkehr. In einer Mittagspause rief sie bei der Arbeiterkammer an. „Dort wurde mir bestätigt, dass ich falsch eingestuft und in der falschen Verwendungsgruppe bin. Da dachte ich mir: Das unterschreibe ich nicht. Ausbeuten ist nicht okay.“ Konvicka wird nicht verlängert.
Stimme im AMS
Im neunköpfigen Verwaltungsrat des AMS haben ÖGB und AK ein Drittel der Sitze inne und so bei Förderrichtlinien und Budget ein Wörtchen mitzureden. „Bisher war eine hohe Konsensorientierung Tradition“, berichtet Mitter. Diese sei nun gefährdet. So trat trotz Kritik der ArbeitnehmervertreterInnen im September 2018 der Beschluss in Kraft, dass die Ausbildungsbeihilfe für Jugendliche über 18 Jahren, die eine überbetriebliche Ausbildungseinrichtung besuchen, in den ersten zwei Lehrjahren von 753 Euro auf 325,80 Euro monatlich gekürzt wird. „Das ist existenzgefährdend“, hält Mitter fest.
Der Spielraum wurde insgesamt enger. Erreicht wurden zumindest mehr Mittel für die Qualifizierung von Kurzzeitarbeitslosen über 50 Jahren und die Verlängerung und Ausweitung des Fachkräftestipendiums. Mit Letzterem werden Ausbildungen in Mangelberufen wie im Gesundheits- und Pflege- sowie im technischen Bereich gefördert. „Dabei ging es um 160 Millionen Euro“, betont Mitter. Im Dezember 2018 wurde das AMS-Budget in Höhe von 1,25 Milliarden Euro beschlossen. Die Kürzungen betrugen „nur“ 155 Millionen Euro statt wie geplant 350 Millionen Euro. Für Mitter war das ein „gerade noch tragbarer Kompromiss.“ Er erwartet, dass angesichts wenig rosiger Konjunkturprognosen schon bald wieder mehr Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik gebraucht werden.
Von der gescheiterten türkis-blauen Regierung wurde gerne so getan, als hätte ihre Arbeitsmarktpolitik erste Erfolge gezeitigt. Tatsächlich sank die Arbeitslosenquote 2018 um 0,8 Prozent auf 7,7 Prozent. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit ist aber weniger ein Verdienst der Politik, sondern ein Ergebnis der guten Konjunktur. Doch diese lässt nach. Auch Wirtschaftsforscher Christoph Badelt erwartet für Anfang 2020 einen leichten Anstieg der Arbeitslosigkeit. 2018 waren im Schnitt 380.000 Menschen ohne Job oder in Schulung – für Badelt zu viel. „Das hohe Niveau an Arbeitslosigkeit ist wirtschaftlich und sozial inakzeptabel“, sagte der WIFO-Chef Ende April 2019 in Wien. Die Arbeitslosigkeit habe sich nach der Wirtschafts- und Finanzkrise bei vielen Menschen verfestigt. „Wir brauchen eine Arbeitsmarktpolitik, die verhindert, dass ältere Menschen aus dem Arbeitsmarkt hinausfallen, und ermöglicht, dass Langzeitarbeitslose zurückfinden“, so Badelt. Aus- und Weiterbildung sei entscheidend und daher werde der Bedarf an Mitteln für die aktive Arbeitsmarktpolitik in den nächsten Jahren wieder steigen.
Abwertende Bilder
In der öffentlichen Debatte rund um die Sozialhilfe neu kamen arbeitslose Menschen nicht gut weg. Mitglieder der gescheiterten Regierung sprachen von sozia-ler Hängematte, Durchschummlern und Langschläfern. AK-Experte Mitter ist empört, dass Spitzenrepräsentanten der Ex-Regierung arbeitslose Menschen als „Spätaufsteher“ und „Durchschummler“ bezeichnet haben. Ihm ist es sehr wichtig, abwertenden Bildern wie diesen deutlich entgegenzutreten. „Dagegen kämpfen wir seit 20 bis 30 Jahren.“
Auch Judith Pühringer, Geschäftsführerin von arbeit plus, dem österreichweiten Netzwerk Sozialer Unternehmen, ärgert sich über solche Darstellungen, die der Realität von Arbeitsuchenden diametral entgegenstehen. „Wir erleben, dass Menschen sich mit ihren Kompetenzen einbringen möchten, aber nicht alle schaffen das zu den Bedingungen des Arbeitsmarktes.“ Das Geburtsdatum kann ebenso zum Ausschlussgrund werden wie fehlende Qualifikationen. Deshalb brauche es passgenaue Angebote. Doch stattdessen gab es im Zuge der AMS-Kürzungen Einschnitte bei den rund 200 sozialen Unternehmen, die 30.000 Arbeitsplätze zur Verfügung stellen.
Zu Hause zu sitzen, sich nicht mehr gebraucht zu fühlen war oft sehr bedrückend.
Werner Liebig
Auch Werner Liebig hat es sich alles andere als bequem gemacht. 21 Jahre lebte er in Venezuela, war in der Hotellerie tätig und kehrte aufgrund der Krise dort in die Heimat zurück. Dass es in seinem Alter nicht einfach sein würde, einen Job zu finden, war dem 62-Jährigen bewusst. Bei Hunderten Bewerbungen gab es trotz einiger Vorstellungsgespräche nur Absagen. „Zu Hause zu sitzen, sich nicht mehr gebraucht zu fühlen war oft sehr bedrückend.“ Dazu kamen finanzielle Einschränkungen. „Ein spontaner Kaffee war oft nicht drin.“ Seine Frau machte ihm Mut. Liebig besuchte AMS-Veranstaltungen und erfuhr von einem Hotel im 1. Bezirk in Wien, das älteren Arbeitsuchenden eine Chance gibt. Liebig bewarb sich. „Ich arbeite seit sechs Monaten dort und bin Ansprechpartner für unsere spanischsprachigen Gäste“, erzählt er stolz.
Potenziale ausschöpfen
In der Abteilung Arbeitsmarkt und Inte-grationspolitik der AK Wien, der Gernot Mitter vorsteht, geht es auch darum, wie die Integration von geflüchteten Menschen in den Arbeitsmarkt gelingen kann und wie der Zugang von Drittstaatsangehörigen auf den österreichischen Arbeitsmarkt geregelt werden sollte. Für Mitter ist klar, dass Zugewanderte möglichst rasch und gut integriert werden müssen – auch um zu verhindern, dass der Lohndruck für alle Beschäftigten zunimmt. Es gilt Menschen entsprechend ihrer Qualifikation im Arbeitsmarkt zu verankern, dafür braucht es adäquate Sprachkenntnisse und die Nostrifikation von Ausbildungen. Im Hinblick auf den Fachkräftemangel empfiehlt Mitter, Potenziale im Land auszuschöpfen. So sei der Anteil an Teilzeitjobs bei Frauen hoch, es brauche einen vernünftigen Umgang mit älteren ArbeitnehmerInnen und die Integration von Asylberechtigten in den Arbeitsmarkt. Das erfordere Investitionen in Aus- und Weiterbildung. Doch stattdessen würde mit einer Liberalisierung der Rot-Weiß-Rot-Karte und dem Zuzug von NiedrigverdienerInnen der Lohndruck erhöht. Maßnahmen zur Eingliederung von älteren Langzeitarbeitslosen, wie die von der SPÖ/ÖVP-Koalition beschlossene „Aktion 20.000“, wurden mit 31. Dezember 2017 ausgesetzt.
Die richtige Entscheidung
Durch diese Jobinitiative sollten 20.000 staatlich geförderte und kollektivvertraglich bezahlte neue Jobs für langzeitbeschäftigungslose Menschen über fünfzig geschaffen werden, etwa bei Gemeinden, NGOs und sozialen Unternehmen. Der Bund übernahm Lohn- und Nebenkosten für maximal zwei Jahre. Die Aktion 20.000 startete im Juli 2017 in jedem Bundesland in elf Modellregionen. Im Sommer 2017 hört Jutta Konvicka in den Medien von der Aktion 20.000 und bewirbt sich über das AMS bei der Armutskonferenz, einem Netzwerk sozialer Hilfsorganisationen. Gleichzeitig bewirbt sie sich beim sozialen Unternehmen „die Caterei“ im Büro und beginnt ein Arbeitstraining. „Ich wollte noch keinen Vertrag unterschreiben, der nur auf neun Monate befristet ist, solange meine andere Bewerbung noch läuft.“ Hätte sie den Vertrag unterschrieben, wäre sie nicht für die Aktion 20.000 infrage gekommen. Als sie von der Jobzusage bei der Armutskonferenz erfuhr, musste sie sich erst setzen. „Das war so super!“
Verlorene Chance
Rund 3.800 Personen wurden nach Angaben des AMS in die Aktion 20.000 einbezogen. Auswirkungen waren schnell sichtbar, schreibt AK-Expertin Ilse Leidl-Krapfenbauer im A&W-Blog: „Die Anzahl der arbeitslos vorgemerkten Langzeitbeschäftigungslosen über 50 Jahren sank im Durchschnitt der Modellregionen um 1,4 Prozent. In den übrigen Regionen Österreichs, in denen die Aktion 20.000 noch nicht angelaufen war, stieg dieser Wert Ende Oktober 2017 noch um 6,1 Prozent.“ Mit Ende Juni 2019 läuft nun ein Großteil der geförderten Stellen aus.
Das ist eine große vergebene Chance.
Judith Pühringer, arbeit plus, zum Ende der Aktion 20.000
„Man hat älteren Arbeitslosen, die oft gesundheitliche Einschränkungen haben, Jobperspektiven weggenommen, um Geld zu sparen“, kritisiert Mitter. Auch Judith Pühringer von arbeit plus bedauert das Ende der Aktion 20.000: „Das ist eine große vergebene Chance.“ Es gab bereits viele Erfolgsbeispiele von Menschen, die in sehr ausweglosen Situationen wieder Fuß fassen und Beschäftigungen finden konnten.
Perspektiven statt Druck
Die geplatzte türkis-blaue Regierung ließ aber nicht nur bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik kürzen. Für den Herbst plante sie eine Umgestaltung der Arbeitslosenversicherung mit integrierter Notstandshilfe und Verschärfungen bei Zugangsbedingungen zu den Leistungen. Das hätte dem Auffangnetz, wie Mitter es nennt, große Risse zugefügt. „Je besser dieses Netz ausgestaltet ist, desto mehr kann ich für meine Rechte und die Gewerkschaft um Lohnerhöhungen kämpfen.“ Wer Angst um seinen Job habe, tue das nicht. Die AK setzt hingegen auf Qualifizierung und bietet im Rahmen des Zukunftsprogramms Angebote, die ArbeitnehmerInnen fit für die Digitalisierung machen. Beim „Digi-Winner“ der AK Wien und des waff gibt es bis zu 5.000 Euro Förderung. Die Palette an geförderten Ausbildungen reicht von EDV-Grundlagen bis zu Datensicherheit oder Social Media.
Mensch und Maschine
Die Digitalisierung beschäftigte Gernot Mitter auch im AMS-Verwaltungsrat, allerdings im negativen Sinne. Eine umstrittene Neuerung ist, dass das AMS ab 2020 die Jobchancen von Arbeitsuchenden mit einem Algorithmus unterlegen will. Arbeitsuchende werden je nach ihren Vermittlungschancen in drei Gruppen eingeteilt.
AK-Vertreter Mitter war dagegen: „Wie garantiert man, dass der Berater und nicht die Maschine anschafft, was passiert? Wie stellt man sicher, dass Menschen mit niedrigen Reintegrationschancen ausreichend gefördert werden?“ Für mehr Effizienz brauche es auch mehr Personal. Stattdessen aber soll gespart werden: Von 400 neuen Planstellen, die 2016 geschaffen wurden, könnte die Hälfte abgebaut werden. Dabei käme ein AMS-Betreuer auf 250 Arbeitsuchende, in Deutschland ist das Verhältnis 1:100. Mehr Personal führt laut Mitter zu individuellerer Betreuung und passgenaueren Angeboten.
Starker Anwalt
Im Jahr 2020 feiert die AK ihr 100-jähriges Bestehen. Mitter betont, dass die Arbeiterkammer auf wissenschaftlich abgesicherter Basis problemlösungsorientierte Politik ermöglicht. Die AK sei wichtiger Bestandteil des Institutionssystems, das die Entwicklung der Republik vom zerbombten Land zu einem der reichsten in der EU ermöglichte. „Das braucht viel Sachverstand und Orientierung an mittel- und längerfristigen Entwicklungen.“ Die AK sei ein starker Anwalt gegenüber Arbeitgebern und Regierungen.
Job mit Sinn
Ohne die Aktion 20.000 hätte ich nicht so gute Chancen gehabt.
Jutta Konvicka
Jutta Konvickas Job in der Armutskonferenz ist abwechslungsreich und umfasst Textkorrektur und Betreuung der Website bis zur Administration der Arbeitsgruppe „Frauen und Armut“. „Ohne die Aktion 20.000 hätte ich nicht so gute Chancen gehabt“, ist sie überzeugt. Das Argument der KritikerInnen, dass diese Jobs künstlich vom Staat geschaffen würden, lässt sie nicht gelten. „Wenn ich Arbeitslosengeld beziehe, bekomme ich doch auch Geld vom Staat.“ Konvicka wurde von der Armutskonferenz inzwischen unbefristet angestellt. „Ich glaube, es hatte einen Sinn, dass ich in die Aktion 20.000 gekommen bin. Die Atmosphäre ist wertschätzend und respektvoll.“ Die Neuwahlen bringen die Möglichkeit, die Arbeitsmarktpolitik neu auszurichten, was sich die AK für ihre Mitglieder selbstverständlich wünscht. „Bleibt zu hoffen, dass eine neue Regierung wieder verstärkt darauf setzt, Arbeitslosen Chancen zu eröffnen, statt sie in ihrer ohnehin prekären Lage noch mehr unter Druck zu setzen“, so Gernot Mitter.
Sandra Knopp und Udo Seelhofer
Freier Journalist
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 5/19.
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